Interview zum Projekt: "Du bist wichtig und richtig"

Projekt Du bist - wichtig und richtig
Präventionsprojekt des Verbands der Ersatzkassen e.V. Berlin/Brandenburg, das Jugendliche aus problembelasteten Familie unterstützt

In Deutschland lebt jedes 6. Kind zumindest vorübergehend mit einem suchtbelasteten Elternteil zusammen. Die Abhängigkeit der Eltern betrifft somit fast drei Millionen Kinder. Am häufigsten sind hier Kinder mit alkoholkranken Elternteilen zu finden (ca. 2,65 Millionen Kinder), aber auch andere Drogen oder Süchte ohne Substanzbezug wie Glücksspiel oder Computer/ Internet-Sucht spielen eine Rolle.

Der Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) Berlin/Brandenburg hat gemeinsam mit der Fachstelle für Suchtprävention ein Präventionsprojekt ins Leben gerufen, das sich nicht nur unterstützend an die betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie deren Peer-Group richtet, sondern auch an ihre betreuenden Pädagoginnen und Pädagogen.

Die Projektpartner konnten über 100 Jugendliche in Berlin und Brandenburg im Alter von 14 - 21 Jahren erreichen und ihnen konkrete Hilfen im Umgang mit suchterkrankten Eltern an die Hand gegeben.

Ein Interview mit  Anke Timm, Geschäftsführerin der Fachstelle für Suchtprävention Berlin gGmbH.

Frau Timm, was ist der Kern des Projektes „Du bist wichtig, du bist richtig“?

Timm: Jugendliche, die in einer Familie aufwachsen, in der die eigenen Eltern deutliche Belastungen aufweisen wie z. B. psychische Krankheiten, zu denen Sucht ja auch zählt, brauchen dringend Unterstützung. Sie selbst erkennen oft nicht das Ausmaß der eigenen Belastung und denken oft, dass die Situation „normal“ sei. Manchmal  fehlt Ihnen auch der Mut, sich Hilfe zu suchen. Über diese „Familiensachen“ wird meist selten, sehr spät oder auch nie gesprochen, was somit den Zugang zu benötigter Hilfe erschwert. Um das Thema zur Sprache zu bringen, wollen wir es vor allem dort, wo Jugendliche und somit auch potentiell Belastete anzutreffen sind, anbringen.

Wen erreichen Sie in Ihren Gruppen?

Auch wenn wir in den Gruppen, keine direkt betroffenen Jugendlichen vorfinden sollten, ist die Wahrscheinlichkeit dennoch hoch, dass Freund:innen betroffen sind. Die Ratlosigkeit, Freund:innnen nicht helfen zu können bzw. nicht zu wissen „wie“, kann ebenso eine große Belastung darstellen.

Was kann passieren, wenn die betroffenen Kinder keine Hilfe erfahren?

Das Risiko der Kinder aus suchtbelasteten Familien später selbst abhängig zu werden, ist deutlich erhöht: Etwa ein Drittel wird selbst suchtkrank. Auch soziale oder psychische Störungen, wie z.B. Depressionen, Angstzustände oder Essstörungen sind bei Kindern aus suchtbelasteten Familien häufig spätere Folgen der belastenden Lebenssituation. Auch wenn es nicht bis zu einer Krankheitsdiagnose kommt, leiden betroffene Jugendliche später oft unter niedrigem Selbstwert, betreiben wenig Selbstfürsorge und haben oft Probleme, über Belastungen zu sprechen, da sie in ihrer Kindheit oft gelernt haben, mit ihren Sorgen alleine zu bleiben.

Was haben Sie entwickelt?

Wir haben ein interaktives Workshop-Konzept zusammengestellt, mit dem Pädagoginnen und Pädagogen über tabuisierte Themen wie Sucht oder psychische Erkrankung mit Jugendlichen ins Gespräch kommen können. Neben Informationsvermittlung und Diskussionsteilen sind auch praktische Tipps für Pädagog:innen enthalten, wie man die Diskussionsinhalte konstruktiv auswerten und diese Erkenntnissen auf den individuellen Alltag der Jugendlichen übertragen kann. Wir möchten einen niedrigschwelligen Rahmen bieten, um über Erfahrungen und Gedanken zum Thema zu sprechen und Dinge kritisch zu hinterfragen.

Neben dem Informieren sind Sie unter anderem auch zum Klettern gegangen…

Unterstützt wird das Ganze durch erlebnispädagogische Maßnahmen zur Stärkung der Selbstwirksamkeit der Jugendlichen. Dies ist gerade bei jungen Erwachsenen wichtig: statt „nur reden“ auch erleben dürfen, Dinge aus eigener Kraft zu schaffen, die eigenen Stärken zu erfahren oder auch von einer Gruppe unterstützt zu werden und mit Herausforderungen nicht alleine zu bleiben.

Wo kann man die Materialien beziehen?

Das Manual ist frei zugänglich und kann bei uns oder auf der Internetseite des vdek abgerufen werden. (siehe unten)

Was ist eigentlich so schwer daran, mit Jugendlichen über Sucht ins Gespräch zu kommen?

Sowohl von Sucht betroffene Eltern als auch deren Kinder verheimlichen die Problematik in aller Regel aus Angst, Schuld- oder Schamgefühlen. Auch Kinder und Jugendliche, die unter dem Verhalten der Eltern leiden, wollen diese oft schützen und behalten das „Familiengeheimnis“ für sich. Die Abhängigkeit bestimmt den Alltag aller Beteiligten; man konsumiert nie alleine. Oft wird die Situation als nicht veränderbar angesehen und „ertragen“.

Die Ansprache ist bei kleinen Kindern sicherlich auch anders als bei Jugendlichen…

Gerade junge Kinder können noch nicht erfassen, was Sucht eigentlich bedeutet, woher sie kommt. Sie fühlen sich schnell verantwortlich für die Probleme der Eltern. Daher ist es wichtig, gemeinsam vermeintlich unveränderliche Dinge („das ist halt so....“, „das geht nicht anders...“, „ich kann meine Eltern doch nicht im Stich lassen...“) zu hinterfragen und herauszufinden, was getan werden kann, damit betroffene Kinder und Jugendliche nicht (zu lange) unter der Belastung des Umfelds leiden.

Welche Rolle spielen fremde „Dritte“?

Betroffene Kinder dürfen in diesem Rahmen auch von Dritten gesagt bekommen, dass alles nicht ihre Schuld ist, die Eltern Hilfe bekommen dürfen, dies jedoch nicht von den Kindern selbst kommen sollte: Erwachsene helfen Erwachsenen, Du darfst Dich um Dich selbst kümmern.

Daher auch der Name: „Du bist wichtig, du bist richtig“?

Unsere zentrale Botschaft ist: „Du bist mit dem Thema nicht allein, es ist nicht deine Schuld, wenn es Menschen in Deinem Umfeld schlecht geht, Du kannst die Probleme Erwachsener nicht alleine lösen“. Unser Projekt vermittelt den Kindern: „Jetzt soll es um Dich gehen, weil Du wichtig bist und nichts für die Schwierigkeiten der anderen kannst.“ Die Kinder denken häufig, dass nur ihre Familie ein solches Problem hat, da über Sucht in unserer Gesellschaft zu wenig gesprochen wird. Frühzeitig über (potentielle) Belastungen ins Gespräch kommen, ist notwendige Prävention, bevor die betroffenen Kinder und Jugendlichen selbst chronische Belastungen entwickeln. Auch die Freund:innen von betroffenen Kindern und Jugendlichen können auf diese Weise unterstützt und davor geschützt werden, zu viel Verantwortung für das Problem zu übernehmen und mit ihrer Hilflosigkeit alleine zu bleiben.

Aber über Sucht wird doch mittlerweile sehr viel gesprochen: In Berlin und Brandenburg ist das Thema Teil der Lehrpläne…

Sucht ist immer noch ein Tabuthema, das abstrakt behandelt wird. Niemand mag zugeben, dass man selbst betroffen ist. Vor allem Kinder, die in ihrer eigenen Persönlichkeit noch nicht gefestigt sind, verstehen gar nicht, dass sie sich Hilfe suchen „dürfen“. Umso wichtiger ist es, hinzuschauen und auch schwierige Themen proaktiv anzusprechen. Um das Gesagte auch zu verankern, war uns der erlebnisorientierte Teil sehr wichtig. Jugendliche, die sich dem Thema sonst eher entzogen hätten, kamen oft über die Erlebnis-Anteile und das Gruppengefühl in die Arbeit und konnten sich auf diese Weise die wichtigen Botschaften „erarbeiten“.

Wie fällt denn überhaupt auf, dass ein Kind möglicherweise aus einer suchtbelasteten Familie kommt?

Der Suchtmittelkonsum von Eltern beeinflusst den Alltag der Kinder deutlich. Um mit der Belastung umgehen zu können, entwickeln Kinder teilweise ungünstige Bewältigungsstrategien. Diese sind an sich nicht immer direkt problematisch. Da sie sich jedoch oft festsetzen und fast keine andere Art zu Denken, Handeln und Fühlen mehr möglich ist, werden diese zum Problem: beispielsweise „Immer der Clown“ sein, um Belastungen in der Familie „aufzulockern“. Die Fähigkeit zum Humor kann eine große Ressource sein, hier jedoch ist es als „Dauer- Strategie“ ein Problem, da nicht jeder immer fröhlich sein kann, belastende Gefühle dann keinen Platz mehr haben dürfen und „der Clown“ auf Dauer nicht mehr ernst genommen wird.  Weitere „prototypische Strategien“ sind „der Held sein wollen“, zum „Sündenbock“ gemacht zu werden oder als „unsichtbares Kind“ schnell durchs Netz zu fallen. Beobachten Fachkräfte diese Dauerstrategien, die auch aus anderen Belastungen heraus entstehen können, sollte man auf die Suche nach der Ursache gehen.

Was ist bei Kindern, die umgangssprachlich gesprochen „ohne Knacks“ durch die Belastung kommen, anders?

Kommen Kinder und Jugendliche „langfristig einigermaßen unbeschadet“ (wobei Belastung subjektiv ist und natürlich möglichst jede durch Sucht verursachte Belastung verhindert werden sollte) durch die schwere familiäre Situation, so gab es meist eine unterstützende erwachsene Bezugsperson, die mit Verständnis, Fürsorge und dem Angebot einer stabilen und verlässlichen Beziehung dabei geholfen hat, die schwierige Situation zu meistern und nicht aufzugeben. Eine solche Rolle können Pädagoginnen und Pädagogen übernehmen, Trainer:innen in Sportvereinen, aber auch andere Personen im familiären Umfeld wie z.B. die Großeltern oder gleichaltrige Freund:innen. Auch ein Haustier kann eine „verlässliche Stütze“ sein. Unser Projekt soll zunächst für das Thema Sucht in der Familie sensibilisieren und Fachkräfte, die mit den Jugendlichen in Kontakt stehen, in ihrer Rolle „als Türöffner“ und stabilisierende Personen stärken. Die Workshops sind modular aufgebaut, damit - je nach individueller Situation der Jugendlichen - verschiedene Methoden angewendet und miteinander kombiniert werden können.

Was kann das Projekt erreichen?

Erst einmal soll es ganz neutral Informationen zum Thema Sucht in der Familie und über bestehende Hilfsangebote vermitteln. Es ist wichtig, dass die Jugendlichen zunächst die eigenen Handlungsmöglichkeiten erkennen, um nicht weiter hilflos abzuwarten. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, die eigenen Gefühle wahrnehmen zu dürfen. Um sich einerseits zu entlasten und andererseits herausfinden zu können, was ich brauche, damit es mir besser gehen kann. Was wir mit unserem Projekt aber vor allem wollen, ist die persönlichen und sozialen Kompetenzen der jungen Menschen zu stärken und ihnen Wege aufzuzeigen, wie sie neue Ressourcen für sich entdecken, da sie diese, v.a. in einem belasteten Umfeld, dringend benötigen.

Ihr Konzept wurde wissenschaftlich begleitet und evaluiert?

Das Konzept wurde in 15 Einrichtungen, die mit Jugendlichen arbeiten (Berufsbildungswerke, Wohneinrichtungen sowie Freizeiteinrichtungen) erprobt und auf Basis der Praxiserfahrungen fortgeschrieben. Dabei wurden mit über 120 Jugendlichen im Alter von 14 – 21 Jahren Workshops  zum Thema „Sucht und Familie“ durchgeführt, die erlebnispädagogische Aktivität umgesetzt und die hierbei gesammelten Erfahrungen in Bezug auf eigenen Substanzkonsum gesetzt. Die Ergebnisse wurden durch ein wissenschaftliches Institut extern evaluiert und erwiesen sich als sehr positiv.

Welche Rolle spielte der vdek?

Dank der Finanzierung des Projektes „Du bist wichtig und richtig“ durch den Verband der Ersatzkassen Berlin/Brandenburg konnte die Berliner Fachstelle für Suchtprävention die Methoden in unterschiedlichen Settings erproben, die Wirksamkeit der Maßnahmen extern evaluieren lassen und als Arbeitsergebnis sowie zur Sicherung der Nachhaltigkeit ein Manual zur Verfügung stellen. Wir freuen uns, dass wir so gemeinsam einen Betrag leisten konnten, um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus suchtbelasteten Familien sowie deren Freund:innen zu verbessern und Fachkräfte in ihrer Rolle zu stärken, möglichst präventiv tätig werden zu können.

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Handbuch zum Umgang mit Jugendlichen aus suchtbelasteten Familien

Didaktische Tipps und Methoden, mit denen Pädagoginnen und Pädagogen über Tabu-Themen mit Jugendlichen ins Gespräch kommen. Dank der Finanzierung des Projektes durch die Ersatzkassen konnten unterschiedliche Settings erprobt und wirksame Maßnahmen evaluiert werden. Sie stehen hier zur Verfügung.