Bei chronischen Erkrankungen: Ganze Familie braucht besonders viel Widerstandskraft

„Säule der Resilienz gerät im medizinischen Management in Vergessenheit“

Zwei Frauen vor einer Glasfront mit Plakaten

Brauchen Familien von chronisch kranken Kindern besonders viel psychische Widerstandskraft? Was genau kann ihnen helfen, ihre Resilienz zu stärken? Das sind Fragen, die das Projekt "pFau - primärpräventive Familiengesundheit unterstützen" beantworten möchte. Dr. Britta Grote und Inga Oppenhausen entwickeln in dem Präventionsprojekt, das von den Ersatzkassen gefördert wird, spezielle Kurse für Eltern, Kinder und Jugendliche.

vdek: „pFau – primärpräventive Familiengesundheit unterstützen“ ist ein Projekt der Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen (BKJE) und dem Verband der Ersatzkassen e.V. (vdek). Zunächst, Frau Grote, was macht die Beratungsstelle?

Dr. Britta Grote: Die Beratungsstelle ist ein Projekt der AfJ e.V. Kinder- und Jugendhilfe Bremen seit 2015. Ursprünglich ist das Ganze aus einem Patenschaftsprojekt für Kinder und Jugendliche mit Diabetes entstanden. Wir bieten psychosoziale Beratung an für ganz unterschiedliche Themen von Pflegegrad und Schwerbehindertenausweis, Kur und Reha bis hin zu Themen wie Erziehung oder Tipps für den Umgang mit dem Diabetes. Also alles was nicht medizinisch ist, aber den Alltag mit Diabetes betrifft.

Diabetes Typ 1 im Vorschulalter immer verbreiteter

vdek: Wie viele betroffene Kinder mit Diabetes in Bremen gibt es?

Grote: Es sind grob 390 Kinder und Jugendliche, die derzeit in den Ambulanzen in Bremen-Mitte und Bremen-Nord in Behandlung sind, aus Bremen und dem umliegenden Niedersachsen. Die Tendenz nimmt um 3 bis 4 Prozent jedes Jahr zu. Und die Altersstruktur ändert sich: War es vor zwanzig Jahren noch selten, dass ein Kind im Vorschulalter an Diabetes Typ 1 erkrankte, sind heute ein Drittel der neuerkrankten Kinder unter sechs Jahre. Forscher schätzen, dass das noch ansteigen wird auf etwa 50 Prozent der Neuerkrankten unter sechs Jahre.

vdek: Ist Ihre Arbeit auf Diabetes beschränkt?

Grote: Bei dem Thema Assistenz in Schule und Kita haben wir in der Beratungsstelle gesehen, dass es Schnittstellen mit anderen chronischen Erkrankungen gibt wie Epilepsie oder andere seltene Stoffwechselerkrankungen. Wir versuchen die Familien krankheitsübergreifend zu vernetzen und zu beraten. Die Erweiterung der Beratungsstelle vor zwei Jahren steckt aber mangels Finanzierung noch in den Kinderschuhen. Wir weisen keine Familien mit anderen chronischen Krankheiten ab, aber unser Schwerpunkt liegt auf Typ-1-Diabetes.

Inga Oppenhausen: Ich organisiere daneben das Freiwilligen-Projekt FUGE, für das ich Menschen suche und qualifiziere, die wir an Familien mit einem chronisch kranken Kind vermitteln. Da sind wir beim Thema Resilienz: Eltern eines chronisch kranken Kindes sind meistens die einzigen Bezugspersonen und ständig eng am Kind dran. Wenn ein Freiwilliger zeitweise in die Familie kommt, können sich die Eltern mal zurückziehen und einfach etwas Nettes machen. In der Praxis sieht es dann doch anders aus, die machen dann oft das, was sowieso liegen geblieben ist, oder sich um das Geschwisterkind oder den Haushalt kümmern.

Besondere Belastung für die ganze Familie

vdek: Das ist auch Ziel des pFau-Projekts: zu schauen, was ich brauche in einer stressigen Situation. Wie sind Sie darauf gekommen, dass bei diesen Familien ein spezielles Angebot notwendig ist?

Grote: Wir haben in der Beratung gesehen, dass die Familien mit chronisch kranken Kindern belastet sind. Aber brauchen diese Familien besonders viel innere Widerstandsfähigkeit? Gerade bei Diabetes gerät die Säule der Resilienz, der psychischen Gesundheit in diesem ganzen medizinischen Management oft etwas in Vergessenheit. Es gibt natürlich Resilienz-Kurse für Erwachsene, die verschiedenste Stressoren haben, wie die Arbeit. Aber es gibt eben kein spezielles Angebot für Eltern mit einem chronisch kranken Kind. Bei Diabetes bestätigen viele Studien, dass nicht nur die Person, die erkrankt ist, besonders belastet ist, sondern auch die Pflegenden, und das sind bei kranken Kindern die Eltern. Aus dem Grund wollten wir genau da ansetzen.

vdek: Sie beziehen auch die Geschwisterkinder ein?

Grote: Ja, es wird ja immer gefragt, ob Geschwisterkinder eines chronisch kranken Kindes Schattenkinder sind, ob sie in manchen Familien vernachlässigt werden, ob sie auch Stress haben durch die Erkrankung des Geschwisterkindes. In unserem Projekt wollten wir genau diesen Fragen nachgehen. Sind Familien mit chronisch kranken Kindern stärker belastet als andere, benötigen sie mehr Resilienz? Gilt dies auch für das erkrankte Kind und auch für Geschwisterkinder?

Umfrage nach konkreten Bedürfnissen

Deshalb haben wir am Anfang unseres Projektes eine Umfrage gestartet. Diese Umfrage war sowohl für betroffene Eltern als auch für erkrankte Kinder und Geschwisterkinder. Wir wollten herausfinden, was die Familien konkret brauchen. Ist das vielleicht abhängig von der Art der Erkrankung, weil dadurch unterschiedliche Wünsche und Notwendigkeiten entstehen? Man muss sich klarmachen: Wenn man ein Kind mit Typ-1-Diabetes hat, ist man oft nachts wach und schläft schlecht, weil man ständig in Bereitschaft ist und nie Urlaub hat, aber wenn man ein herzkrankes Kind hat, das nachts gut schläft, ist vielleicht die mögliche Lebenszeitverkürzung psychisch belastend. Und diese Familien benötigen unterschiedliche Hilfen.

vdek: Wie viele Rückmeldungen haben Sie bekommen?

Grote: Tatsächlich haben wir zu 90 Prozent Rückmeldungen von der Zielgruppe, die wir auch mit der Beratungsstelle erreichen. Das hatten wir anders gehofft. Wir hatten uns bemüht, auch Betroffene mit anderen Erkrankungen zu erreichen, aber es war schwer. Möglicherweise lag das am Projektstart während der Pandemie, weil wir nicht richtig an die zuständigen Ärzte herankamen, die für die Umfrage Werbung machen konnten.

Oppenhausen: Was nicht heißt, dass unser eigenes Klientel das Projekt nicht braucht. Demnächst starten ja die Kurse, und wir sind sehr gespannt. Weil wir aber zu wenig Rücklauf hatten, wissen wir nicht, ob andere Erkrankungen andere Bedürfnisse haben oder ob es einen gemeinsamen Nenner gibt.

vdek: Welche Rückmeldungen auf die Umfrage haben Sie bekommen?

Grote: Unsere Vermutung hat sich bestätigt. Experten, die wir befragt hatten, waren sich einig, diese Familien brauchen mehr Resilienz, und es gibt zu wenige Angebote speziell für diese Zielgruppen. Die Rückmeldung der Eltern hat das bestätigt. Auch die sehen sich eher belastet, und zwar relativ unabhängig vom Therapieerfolg. Selbst wenn es in einer Familie gut läuft, kann es sehr anstrengend sein für die Eltern. Vor allem wenn die erkrankten Kinder noch recht jung und unselbstständig sind, haben viele ein Betreuungsproblem, weil die Eltern oft 24/7 da sein müssen für das Kind. Teilweise ist auch Krankheitsakzeptanz ein großes Thema, das ist ein langer Prozess mit Fort- und Rückschritten.

Bei den betroffenen Kindern und Geschwisterkindern gab es so wenige Rückmeldungen, dass wir gar nicht sagen können, ob die mehr belastet sind. Ich denke, das ist individuell sehr verschieden. Aber wir haben auch Rückmeldungen von Eltern, die sich so einen Kurs für ihre Kinder wünschen, weil sie glauben, dass es in bestimmten Lebensphasen, in der Pubertät z.B. schwieriger für die Kinder wird und dass es gut ist, in einem frühen Lebensalter die Resilienz zu stärken, weil sie eventuell später belastet sind können.

Kurse für konkrete Strategien und Übungen

vdek: Resilienzkurse empfehlen oft, sich Hilfe von außen zu holen. Was, wenn genau das schwierig ist aufgrund der äußeren Gegebenheiten?

Grote: Unsere Kurse zielen weniger darauf, das Betreuungsproblem der Eltern zu lösen. Das versuchen wir über die Beratungsstelle zu vermitteln. In den Kursen geht es mehr um Strategien und ganz praktische Übungen, den Stress zu bewältigen, um aus der Krise heraus zu kommen, um Krankheitsakzeptanz zu gewinnen. Wir möchten z.B. Entspannungstechniken an die Hand geben, mit denen man wieder besser einschlafen kann, wenn man nachts hoch muss, weil der Blutzuckeralarm geht. Auch bei den Kinder- und Jugendlichen-Kursen, zu denen ein Freund oder eine Freundin ohne Erkrankung mitkommen können, steht nicht die Krankheit im Mittelpunkt. Es geht mehr um Methoden, sich selbst nicht als Opfer zu sehen mit der Erkrankung.

Oppenhausen: Ein wichtiger Punkt für unsere Zielgruppe ist es, das Denken positiv zu beeinflussen. Statt sich zum Beispiel wegen schlechter Blutzuckerwerte zu martern, sollte man eher den Fokus auf all die guten Werte legen, oder was alles gut läuft in der Familie, oder dass sie es schon ziemlich gut auf den Weg gebracht haben. Das muss man üben.

vdek: Wann starten die Kurse?

Grote: Der erste Elternkurs für jeweils acht Teilnehmer startet Ende Februar 2023, das sind acht Termine abends in Präsenz. Für den zweiten Kurs ab Mai sind noch Plätze frei. Wenn sich mehr zum Projekt anmelden als Plätze zur Verfügung stehen, haben wir eine Warteliste.

Oppenhausen: Die Kinder- und Jugendkurse für jeweils acht bis zehn Teilnehmer werden im Juni stattfinden, jeweils an einem Wochenende, damit das mit Ganztagsschule und Ferienzeiten passt. Für die Kinder sind es fünf Termine mit 1 Stunde 15 Minuten und für die Jugendlichen sind es vier Termine, aber dafür etwas länger.

Konzept für Verstetigung

Grote: Die Erfahrungen aus diesen ersten Kursen werden in ein Konzept einfließen, das speziell für diese Zielgruppe zugeschnitten ist. Wir wollen diese Kurse auch nach Projektende weiterführen.

Oppenhausen: Die Kurse werden geleitet von zertifizierten Resilienz- bzw. Achtsamkeitstrainerinnen, die auch Expertise im Kinder- und Jugendlichen-Bereich haben. Wir beide werden uns auch in diesem Bereich qualifizieren, um dann später ggf. selbst die Kurse übernehmen können, bzw. Elemente davon in die Beratungsarbeit einfließen zu lassen.

Resilienzkurse 2023

Die Kurse sind kostenfrei und finden in der Friedrich-Karl-Str. 21, 28205 Bremen (Praxisräume Systemische Supervision) statt. Eine Anmeldung ist per E-Mail möglich an gesundheit@afj-jugendhilfe.de oder telefonisch unter 0421/696 44 200.

Kurs für Kinder:

So 4.6.                14:45 bis 16 Uhr
So 11.6.              14:45 bis 16 Uhr
Sa 17.06.            10:15-11:30 Uhr
Sa 24.06.            10:15-11:30 Uhr
So 2.7.                14:45 bis 16 Uhr

Kurs für Jugendliche:

So 4.6.2023       16:30-18 Uhr
So 11.6.2023     16:30-18 Uhr
Sa 24.6.2023     12-13:30 Uhr
So 2.7.2023       16:30-18 Uhr

2. Kurs für Erwachsene:

Kursbeginn: Montag, 08.05.2023
Kursende: Montag, 03.07.2023

insgesamt an 8 Abenden (immer montags, außer am 29.05.2023)
jeweils von 19:15 - 20:45 Uhr

(1. Kurs für Erwachsene bereits ausgebucht.)