Interview mit Dr. Martin Schünemann vom Medizinischen Dienst Nord

„Die Pandemie ist kein Freibrief“

Die „Pflegenoten“ wurden abgeschafft und durch eine differenzierte Darstellung der Pflegequalität ersetzt. Wie sich die Qualitätsprüfung in der Pandemie gestaltet, erläutert Dr. Martin Schünemann vom Medizinischen Dienst Nord.

Dr. Martin Schünemann, Leiter Abteilung Pflegeversicherung des MDK Nord
Dr. Martin Schünemann ist Leiter der Abteilung Pflegeversicherung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Nord. Die Abteilung prüft alle Pflegeeinrichtungen in Hamburg und Schleswig-Holstein im Auftrag der Landesverbände der Pflegekassen.

Die Pflege-Qualitätsprüfungen sind von Grund auf überarbeitet worden. Wie sieht das veränderte Verfahren aus?

Das neue Verfahren orientiert sich am aktuellen Verständnis der Pflegebedürftigkeit und berücksichtigt mehr als bisher die Versorgungsqualität bei den Bewohnern. Von den 24 Qualitätsaspekten beziehen sich 21 auf die Bewohnerversorgung. Gutachter bewerten Qualitätsaussagen und damit die Umsetzung der fachlichen Anforderungen. Durch eine vierstufige Bewertungsskala kann detaillierter festgestellt werden, wie sich ein festgestellter Mangel auf die Versorgungsqualität auswirkt. Ergänzt wird das System durch eine Prüfung von Qualitätsindikatoren, die von den Pflegeeinrichtungen selbst erhoben werden.

Und was ist daraus im Corona-Jahr 2020 geworden?

Die Qualitäts-Regelprüfungen mussten von Mitte März bis Ende September komplett eingestellt werden, daher haben wir naturgemäß noch keine ausreichenden Erfahrungen. Lassen Sie mich an dieser Stelle erwähnen, dass während dieser Zeit viele Kolleginnen und Kollegen die Hamburger Gesundheitsämter bei der Corona-Bekämpfung unterstützt haben, etwa bei der Nachverfolgung von Kontaktpersonen von Infizierten, und auch im Rahmen der Amtshilfe an die Gesundheitsbehörde abgeordnet waren.

Konnten die Regelprüfungen im Herbst 2020 wieder starten?

Nur kurzzeitig. Denn in der derzeitigen zweiten Welle sind vermehrt Menschen höheren Alters und mit Pflegebedarf betroffen. Da die Krankheit bei ihnen schwerer und häufiger auch tödlich verläuft, ist besonders diese Gruppe so gut wie möglich zu schützen. Deshalb hat der MDK Nord aufgrund der Risikoabschätzung frühzeitig bei steigender Sieben-Tage-Inzidenz die Regelprüfungen in besonders betroffenen Regionen eingestellt. Es ist leider noch nicht abzusehen, wann diese Prüfungen wieder weitgehend gefahrlos möglich sind. Mit Einschränkungen muss noch bis ins kommende Frühjahr gerechnet werden.

Die Regelprüfungen müssen einen Tag vor dem Eintreffen der Prüfer angekündigt werden. Daneben gibt es die Anlassprüfungen ohne Ankündigung bei konkreten Hinweisen auf Pflegemängel. Wie funktioniert diese „Zweigleisigkeit“ jetzt während der Pandemie?

Es werden jetzt andere Maßstäbe an die Dringlichkeit von Regelprüfungen angelegt. Es geht sowohl darum, die Risiken für die besonders vulnerable Gruppe der älteren und pflegebedürftigen Menschen zu minimieren, als auch darum, die Einrichtungen in Zeiten zu entlasten, in denen die Pflegekräfte ohnehin mit einer erhöhten Arbeitsbelastung zu kämpfen haben.

Angesichts des Personalmangels in der Pflege, der bereits vor der Pandemie bestand, sollte man ehrlicherweise nicht erwarten, dass sich die Pflegequalität jetzt wesentlich verbessert. Selbstverständlich dürfen aber auch unter diesen Bedingungen keine gravierenden Mängel eintreten. Die Pandemie ist kein Freibrief für defizitäre Pflege! Deswegen haben die Landesverbände der Pflegekassen auch die Möglichkeit, den MDK Nord mit einer Anlassprüfung zu beauftragen.

Gäbe es auch eine Situation, in der Anlassprüfungen ausgesetzt werden sollten?

Ich persönlich kann mir keine Situation vorstellen, in der ich nicht bereit wäre, in eine Anlassprüfung zu gehen. Denn anders als bei Regelprüfungen verschieben sich die Maßstäbe der Risikoabwägungen bei Anlassprüfungen: Liegen uns ausreichende Hinweise für erhebliche Defizite in der Pflege vor - schlimmstenfalls mit einer Gefährdung Pflegebedürftiger -  werden wir Anlassprüfungen auch dann vornehmen, wenn eine deutlich erhöhte Infektionssituation besteht.

Auch in Einrichtungen, die von Corona-Erkrankungen betroffen sind?

Das gilt auch für Einrichtungen, in denen sich bekanntermaßen bereits Bewohner oder Pflegekräfte mit dem Corona-Virus angesteckt haben. Dann sind erhöhte Schutzmaßnahmen zum Schutz aller Beteiligten zu treffen.

Der Umstand, dass Anlassprüfungen auch weiterhin möglich sind  - und auch praktisch erfolgen – stellt letzten Endes ein Korrektiv dar, das die Einrichtungen motivieren soll, den Pflegestandard so hoch wie möglich zu halten.