Interview mit Antje Sachs, vdek-Referatsleiterin Pflege

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Antje Sachs ist Referatsleiterin Pflege in der vdek-Landesvertretung Hessen. Im Interview spricht sie über 30 Jahre Pflegeversicherung und welche konkreten Reformschritte notwendig sind, damit die Pflegeversicherung in Hessen auch in den nächsten Jahrzehnten eine tragfähige Säule der sozialen Sicherung bleibt.

Die soziale Pflegeversicherung (SPV) wurde vor 30 Jahren eingeführt. Was sind aus Sicht der Pflegekassen die wichtigsten Errungenschaften, und wie hat sie das Leben pflegebedürftiger Menschen verändert?

Die soziale Pflegeversicherung sichert das finanzielle Risiko bei Pflegebedürftigkeit ab, mildert die daraus entstehenden Belastungen und hat erreicht, dass die überwiegende Zahl der Pflegebedürftigen nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen ist. 90 Prozent der Bevölkerung sind über die SPV versichert. Diese Menschen beteiligen sich generationenübergreifend und solidarisch über den gesetzlich festgelegten Beitragssatz an der Finanzierung der pflegerischen Versorgung von 5,2 Millionen Pflegebedürftigen (SPV) im Jahr 2023. Über 80 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt. Insbesondere in den zurückliegenden zehn Jahren wurden die Leistungen kontinuierlich ausgeweitet. Durch den 2017 eingeführten neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ist der Leistungszugang zur SPV für deutlich mehr Menschen geöffnet worden. Angesichts dieser Entwicklung ist die SPV ein großes sozialpolitisches Erfolgsmodell, dessen Zukunftsfähigkeit allerdings nicht gesichert ist. Ohne eine zügige und umfassende Reform sind viele ihrer Errungenschaften gravierend bedroht.

In Hessen werden rund 80% aller Pflegebedürftigen zu Hause betreut. Wie unterstützt die Pflegeversicherung pflegende Angehörige und ambulante Pflegedienste, damit häusliche Pflege langfristig leistbar bleibt?

Die Pflegeversicherung bietet finanzielle Hilfen wie Pflegegeld, Sachleistungen und Zuschüsse zur Wohnraumanpassung, um die häusliche Pflege zu fördern. Zudem kann Kurzzeitpflege bei Verhinderung der Pflegeperson in Anspruch genommen werden. Ebenso gibt es Tagespflegeangebote, um somit im Alltag zu entlasten.

Als einen weiteren Baustein zu Entlastung sind die niedrigschwelligen Entlastungsleistungen anzusehen. Pflegebedürftige ab Pflegegrad 1 erhalten monatlich 131,00 EUR für verschiedene Dienstleistungen wie Unterstützung um Haushalt, Alltagsbegleitung und Betreuungsangebote. Zudem können die in Hessen anerkannten Nachbarschaftshelfer und Nachbarschaftshelferinnen in Anspruch genommen werden.

Private oder gesamtgesellschaftlich organisierte Netzwerke, die die Pflegebedürftigen und pflegenden An- und Zugehörigen unterstützen, haben stark an Bedeutung gewonnen. Diese Entwicklung gilt es fortzusetzen und weiter zu intensivieren. Die Versorgung pflegebedürftiger Menschen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Die Eigenanteile in Pflegeheimen steigen auch in Hessen kontinuierlich an. Welche Konzepte gibt es, um die finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen in Hessen zu begrenzen? Sind landesspezifische Lösungen denkbar?

Kontinuierlich steigende Eigenanteile belasten Pflegebedürftige und ihre Angehörigen immer mehr. Es müssen tragfähige Konzepte entwickelt werden, um diese Kosten zu begrenzen und die Qualität der Versorgung zu sichern. Der vdek fordert daher unter anderem einen Finanzausgleich zwischen sozialer und privater Pflegeversicherung sowie eine rechtssichere Gestaltung des Pflegevorsorgefonds. Zudem müssen versicherungsfremde Kosten wie die Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung für pflegende Angehörige sowie die Investitionskosten für die Pflegeeinrichtungen und Ausbildungskosten staatlich finanziert werden. Pflegebedürftige müssen finanziell spürbar entlastet und die Kosten gerechter verteilt werden.

In wie weit werden in Hessen präventive Maßnahmen und Projekte gefördert, um Pflegebedürftigkeit zu verzögern oder zu verhindern? Welche regionalen Leuchtturmprojekte gibt es, die bereits messbare Erfolge zeigen?

Auch wenn Pflege mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, wird die Beschäftigung mit dem Thema gerne in die Zukunft verschoben. Die frühzeitige Information und Kommunikation müssen gestärkt werden. Hier stehen auch die Kommunen in der Pflicht, ihre Angebote auszubauen. Daneben muss für die bestehenden Präventionsangebote zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit geworben und eine höhere Akzeptanz geschaffen werden.

Präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen sollten sehr viel stärker in den Blick genommen werden. Hierzu zählen gesundheitsfördernde Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Selbstständigkeit bei alten oder pflegebedürftigen Menschen. Hierzu gibt es beispielsweise das Präventionsprojekt „Gesund älter werden im Odenwaldkreis“ in Bad König. Es wird durch den Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) im Auftrag der Ersatzkassen für zwei Jahre gefördert und in den vier teilstationären Pflegeeinrichtungen AWO Tagespflege in Bad König, Pflegezentrum „Haus am See“ in Höchst im Odenwald, Haus Geist in Lützelbach und Seniorenhaus Bergpension in Bad König durchgeführt.

Ziel des Präventionsprojekts ist es, Seniorinnen und Senioren in Tagespflegeeinrichtungen zu motivieren, sich aktiv mit ihrer Gesundheit auseinanderzusetzen. Ein besonderer Fokus wird dabei auf die Herausforderungen durch klimatische Belastungen gelegt. Spezielle Maßnahmen sollen älteren Menschen helfen, gesund durch sommerliche Hitzewellen zu kommen, mit Strategien, die Belastungen durch extreme Temperaturen minimieren. Gleichzeitig sollen Leitungs- und Betreuungskräfte der Einrichtungen sowie Angehörige in die gesundheitsorientierte Betreuung eingebunden werden, um so die Themen Ernährung, Bewegung, Entspannung und Klima langfristig im Einrichtungsalltag zu verankern.

Die alternde Gesellschaft stellt das umlagefinanzierte System vor große Herausforderungen. Welche konkreten Reformschritte sind notwendig, damit die Pflegeversicherung in Hessen auch in den nächsten Jahrzehnten eine tragfähige Säule der sozialen Sicherung bleibt? Braucht es ein grundsätzliches Umdenken in der Pflegeversicherung, und welche Weichen sollten heute für die kommende Jahrzehnte gestellt werden?

Grundvoraussetzung für eine funktionierende Pflege ist die auskömmliche und nachhaltige Finanzierung der SPV. Seit einigen Jahren sind besorgniserregende Tendenzen zu beobachten, dass dieser Grundsatz missachtet wird. Finanzierungszusagen des Bundes werden nicht eingehalten, stattdessen werden der SPV sachfremde Lasten auferlegt. Beispiele dafür sind insbesondere die Mehrbelastung durch die Corona-Pandemie, die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige oder die Kosten der beruflichen Ausbildung.

Die Ausgaben steigen doppelt so schnell wie die Beitragseinnahmen der SPV. Für eine nachhaltige Finanzierung fordern die Ersatzkassen daher u.a.:

  • Stabilitätsorientierte Ausgabenpolitik zu verfolgen
  • Wertbeständigkeit durch Dynamisierung sichern
  • Eigenvorsorge von Anfang an – gesundheitlich und finanziell
  • Pflegevorsorgefonds verlässlich befüllen und vor staatlichem Zugriff schützen
  • Finanzausgleich zwischen sozialer und privater Pflegeversicherung
  • Versicherungsfremde Aufgaben gesamtgesellschaftlich finanzieren
  • Bundessteuerzuschuss dynamisieren
  • Bundesländer müssen ihrer Verantwortung nachkommen

Vielen Dank für das Gespräch.