Digitalisierung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie?

Interview mit Dr. Reinhard Martens

Dr. Reinhard Martens, Ärztlicher Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in der MVZ Dr. Martens GmbH (u. a. Pirna), erläutert seine Beweggründe für die Nutzung bspw. von telemedizinischen Optionen in der Versorgung.

 

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Herr Dr. Martens, wie kommt es, dass Sie eine Art Leuchtturmprojekt ins Leben gerufen haben? Ist es bei Ihnen persönliche Motivation? Oder sind Sie besonders technikaffin?

Ich bin in erster Linie gar nicht so technikaffin. Was mich mehr angerührt hat, ist die Not und das Leid der Kinder und Jugendlichen, die mir tagtäglich begegnen. Das Projekt haben wir gestartet, weil wir nicht mehr alle Anfragen versorgen konnten. Familien müssen über Zeiträume hinweg warten, die den Kindern in Not nicht gut tun. Und da entsteht die Frage, wie die Versorgung verbessert werden kann. Da wir einfach nicht genügend Facharztbewerber:innen in Sachsen haben, können wir keine zusätzliche ärztliche Zeit schaffen. Wir müssen die Zeit, die uns zur Verfügung steht, effektiver nutzen – unter Anwendung von digitalen Medien.

Welche telemedizinische Optionen nutzen Sie? Was schafft Ihnen denn mehr zeitliche Freiräume, um tatsächlich Versorgung zu realisieren und am Patienten zu sein?

Wir können mehr Behandlungen anbieten, indem wir neben unserem Hauptsitz in Pirna Satellitenpraxen (in Dippoldiswalde, Bischofswerda, Löbau und Weißwasser) geschaffen haben, in denen wir kontinuierlich qualifizierte Therapeut:innen beschäftigen. Diese sind dort immer vor Ort und erste Ansprechpartner für die  Kinder, Jugendlichen und Familien. Es gibt aber immer wieder schwierige Fragestellungen, die vom Facharzt zu entscheiden sind. Um dieses Problem zu lösen, haben wir digitale Vernetzungen unserer Praxisstandorte geschaffen, die mir ermöglichen, mich telemedizinisch mit den Mitarbeitenden und auch mit den Familien auszutauschen.

Das erste Modul dieses Systems ist ein gemeinsamer, gleichzeitiger Zugriff auf unsere Patientenakte. Ich kann in Echtzeit an meinem Monitor sehen, was meine Mitarbeitenden in der Patientenakte dokumentieren – egal, an welchem der fünf Standorte ich mich gerade befinde. Ich sehe nicht nur Situationsbeschreibungen zu aktuellen Problemlagen, sondern auch medizinische Daten, wie z. B. Blutdruck, Gewicht, Größe, aber auch EKGs, die ich unmittelbar befunden kann. Bei der Gabe von Psychopharmaka spielt das eine nicht unerhebliche Rolle.

Das zweite Modul in dieser Vernetzung besteht aber darin, dass ich mich in das persönliche Gespräch von Mitarbeitenden mit den Familien einschalten kann. Meine Mitarbeiter:innen schaffen es mit ihrer fachlichen Kompetenz, das Kind, die Jugendlichen, die Familien schon in einen Gesprächskontext reinzuholen. Ein großer Vorteil, den wir sonst bei der Videosprechstunde nicht haben. Per Video dauert es oft sehr lang, überhaupt eine Gesprächssituation herzustellen, in der wir wichtige Fragen klären können. Diese Atmosphäre haben meine Mitarbeitenden vor Ort schon aufgebaut, sodass uns die Zeit bleibt die wichtigen Kernfragen miteinander zu klären.

Natürlich bin ich regelmäßig an allen Standorten und alle ärztlichen Tätigkeiten wie bspw. Blutabnahmen oder körperliche Untersuchungen, aber auch Auswertungen von Befunden, werden von mir persönlich, im persönlichen Gespräch und im Rahmen der ärztlichen Untersuchung durchgeführt. Aber es gibt viele Schritte in der Behandlung und Diagnostik, die meine Mitarbeiter:innen durchführen können.

Inwiefern gab es für Sie in puncto Technik besondere Herausforderungen?

Also die technische Vernetzung war – zumindest aus meiner Perspektive – das Unkomplizierteste. Wobei ich eine Firma beauftragt habe, die innovativ und passgenau innerhalb kürzester Zeit alle meine Wünsche umgesetzt hat. Auch der Fall, dass die Internetverbindung einmal ausfallen kann, wurde bedacht. Deshalb haben wir zusätzlich an allen Standorten eine Funkanbindung geschaffen, die sich automatisch einschaltet, sodass wir von technischen Störungen unabhängig sind. Momentan läuft es so gut wie keine andere technische Einrichtung, die ich kenne.

Eine größere Herausforderung war es, in der Pandemiezeit den Kontakt zu den Familien zu halten. Wir hatten ungeheuer viele Absagen wegen positiv getesteter Kinder oder Quarantäneregelungen und mussten von der direkten Videosprechstunde mit den Familien Gebrauch machen. Um Kontakt zu diesen Familien zu halten, hatten wir einen enormen logistischen Aufwand.

Sie arbeiten ja mit einer sehr speziellen Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen und deren Familien. Wie ist das Angebot von ihren Patient:innen angenommen wurden?

Die Kinder, Jugendlichen und Familien kennen mich bereits aus dem ersten Kontakt. Dieser wird immer persönlich und möglichst ansprechend in unseren kindgerechten Praxisräumen durchgeführt. Gerade für die etwas wilderen Kinder gibt es überall Klettergestelle, wo sie zeigen können, wie stark sie sind, und Kissen, auf denen sie Saltos probieren können. Das ist ein Therapieraum, in dem Kinder merken, dass sie wertgeschätzt werden, und wir sie nicht nur mit ihren Problemen sehen, sondern auch mit ihren wunderbaren Gaben und Begabungen. Wenn dieser Kontakt hergestellt ist, stellt die mediale Distanz kein Problem dar. Die Kinder fragen zwar oft, „Wann sind Sie denn mal wieder echt da?“ oder „Wann können wir mal wieder richtig toben?“. Auch wenn es mir leid tut zu sagen „Das wird noch ein bisschen dauern“, weiß ich: Diese Kinder sind fachlich gut versorgt.

Generell vertrete ich die Auffassung, der Arzt sollte immer vor Ort sein. Das, was wir machen, ist ein Angebot, welches besser ist als gar keine Versorgung, aber nicht so gut wie eine konstante Versorgung vor Ort. Deswegen halte ich es für eine gute Ersatzlösung in Regionen, die unterversorgt sind. Andernfalls sind zumindest diese Module, wie die telemedizinische assistierte, kinder- und jugendpsychiatrische Intervention, nicht zwingend notwendig.

Bitte beschreiben Sie, auf welcher vertraglichen Basis Ihr Projekt beruht.

Es ist ein so genannter Selektivvertrag nach § 140a des Krankenversicherungsgesetzes. Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigung haben das Ganze in ein vertragliches Konstrukt gepackt, das uns diese Versorgung ermöglicht. Außerdem konnte dieser Selektivvertrag, mit sämtlichen sächsischen Krankenkassen geschlossen werden. Das zeigt, dass die gesetzlichen Krankenkassen in Sachsen nicht nur Hüter von Mitgliedsbeiträgen und Verwalter von Versicherten sind, sondern eine hohe Kompetenz haben – auch in der Frage, wie Gesundheitsversorgung in Sachsen gestaltet werden kann. Ich lernte viele sehr kompetente Partner kennen, die mich auch in inhaltlichen Fragen dieses Projektes sehr gut beraten haben. Ich hatte noch viel mehr Ideen, die ich gerne umgesetzt hätte. Die Vertreter:innen der Krankenkassen haben eingeschätzt: „Das ist realistisch. Das kann man auch schaffen.“ und „ Das ist nicht schaffbar.“ Viele Feinheiten dieser vertraglichen sind nur so für die Praxis tauglich, wie wir das schließlich miteinander vereinbart haben. Es war ein konstruktives Miteinander und hat gezeigt, dass die Selbstverwaltungsstrukturen funktionieren, wenn Krankenkassen und Ärzte sowie Ärztinnen unter Einbeziehung der Kassenärztlichen Vereinigung Versorgung planen wollen. Wenn das Interesse an einer guten Versorgung an erster Stelle steht und wir konkret formulieren, was wir für die Versorgung der Patient:innen brauchen, finden sich Rahmenbedingungen, die in jeder Beziehung passen.

Können Sie bitte grob die Evolution des Vorhabens skizzieren? Also, wie lang es von der ersten Idee bis zum „Wir machen das.“, „So und so wird’s aussehen“ bis hin zu „Dann und dann haben wir einen Praxisstandort eröffnet“ gedauert hat.

Ich hatte im Sommer 2018 einen Projektantrag bei der Robert Bosch Stiftung gestellt, der letztlich keinen Zuschlag erhalten hat. Als ich die Ablehnung erhielt, habe ich mich bei den Krankenkassen und dem Sozialministerium für die Unterstützung bedankt und mitgeteilt, dass meine Ideen in diesem Rahmen nicht funktionieren würden. In der Folge wurde ich von verschiedenen Stellen angesprochen, ob wir die Ideen nicht in einem anderen Rahmen umsetzen können. Innerhalb von weniger als sechs Monaten ist der Vertrag dann unterschriftsreif gewesen und wir konnten im April 2019 starten. Zu einem Zeitpunkt, als die Videosprechstunde in der Kinder und Jugendpsychiatrie in der Gebührenordnung noch überhaupt nicht verankert gewesen ist. Wir waren Pioniere und haben gezeigt, dass so etwas möglich ist. Ein Jahr später kam dann offiziell die Regelung, dass die Videosprechstunde auch in der Kinderpsychiatrie zur Regelversorgung wird.