Statement anlässlich der Pressekonferenz zum Start von „Deutschland erkennt Sepsis“ am 16.02.2021

„Wenig Wissen bei hoher Krankheitslast“

von Prof. Dr. Konrad Reinhart
Portraitfoto Konrad Reinhart

Prof. Dr. Konrad Reinhart ist einer der weltweit meistzitierten Sepsisforscher und Vorstandsvorsitzender der Sepsis-Stiftung. Im Folgenden veröffentlichen wir Auszüge aus dem Statement, das Reinhart auf der gemeinsamen Pressekonferenz zum Kampagnenstart von „Deutschland erkennt Sepsis“ am 16. Februar 2021 vorgetragen hat. Die vollständige Rede können Sie der offiziellen Pressemappe entnehmen. Es gilt das gesprochene Wort.

Die Mehrzahl der Menschen in Deutschland weiß nicht, was Sepsis ist und was sie bedeutet. Ihnen geht es wie mir vor mehr als 40 Jahren, als ich als junger Assistenzarzt im Universitätsklinikum Benjamin Franklin in Berlin-Steglitz meinen Dienst auf der Intensivstation antrat. Sepsis kam weder im Lehrplan während meines Studiums vor noch gab es Behandlungsrichtlinien oder Zahlen zur Häufigkeit – und das, obwohl es schon damals die Haupttodesursache auf der Intensivstation war. Ich war erstaunt über die Vernachlässigung dieses Themas, wobei ich weit davon entfernt war, die Dimension des Problems und die Ursachen für das geringe Interesse für das Thema zu verstehen.

Von meiner Großmutter hatte ich von Blutvergiftung gehört, wie Sepsis umgangssprachlich oft genannt wird, und dass man bei einer Verletzung an der Hand aufpassen muss, ob sich ein roter Streifen entwickelt, der zum Herzen zieht. Denn dies sei tödlich. Ich hatte von Schulkameraden gehört, die an Blindarmdurchbruch gestorben sind, und ich wusste, dass man an Kindbettfieber und Lungenentzündung sterben kann. Dass auch hier Sepsis oder Blutvergiftung die Todesursache ist, war mir jedoch nicht bekannt.

Sepsis ist die schwerste Komplikation einer Infektionserkrankung. Sie entsteht, wenn die körpereigenen Abwehrkräfte und natürlichen Schutzbarrieren wie die Haut und die Schleimhäute nicht mehr in der Lage sind, die Ausbreitung einer lokalen Infektion zu verhindern, und die Erreger in den Blutkreislauf eindringen. Dadurch werden nicht nur die Erreger, sondern auch die körpereigenen Organe wie Lunge, Herz und Niere geschädigt. Was viele nicht wissen: Sepsis kann nicht nur von Bakterien, sondern auch von Viren und Pilzen ausgelöst werden. Seit Menschengedenken ist sie eine Geisel der Menschheit. Pandemien wie die durch Pest, Cholera oder jetzt COVID-19 sind vor allem deswegen mit einer so hohen Todeslast verbunden, weil sie im Erkrankungsverlauf oft zu einer Sepsis führen.

Früherkennung und Prävention stärken

Die Aufklärungskampagne, die wir heute starten, ist deshalb so wichtig, weil

  1. auch heute Blutvergiftung bzw. Sepsis von den meisten Menschen primär nur mit Wundinfektionen assoziiert wird,
  2. bis heute die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) weder das Wort Sepsis noch das Wort Blutvergiftung in ihrer Kommunikation benutzt,
  3. die meisten Medien das Problem Sepsis/ Blutvergiftung auf mangelnde Hygiene im Gesundheitswesen und „Killerkeime“ reduzieren,
  4. bis zur COVID-19 Pandemie beim Thema Infektionsprävention hauptsächlich über Krankenhaus- bzw. Behandlungs-assoziierte Infektionen gesprochen wurde, obwohl unabhängig von Pandemien ca. 80% der Infektionen- bzw. Sepsisfälle, die im Krankenhaus behandelt werden, außerhalb des Krankenhauses entstehen.

Neben dem Erkennen der Frühsymptome und dem schnellen Einsatz der richtigen Behandlung ist Vorbeugung eines der wichtigsten Themen, um die Zahl der Sepsis-Todesfälle einzudämmen. Immer noch wissen zu wenige Menschen, dass Impfungen es effektive Impfungen gegen Erreger gibt, die Sepsis auslösen können, wie beispielsweise Pneumokokken, Influenza oder jetzt SARS-CoV-2.

Das mangelnde Wissen um Vorbeugungsmöglichkeiten und die Frühzeichen von Sepsis in der Bevölkerung, aber auch beim medizinischen Personal, den Gesundheitsdienstleistern, den Entscheidern und Verantwortungsträgern im Gesundheitswesen und der Politik, gehören zu den Hauptgründen, warum in Deutschland die Sepsis-Sterblichkeit im Vergleich zu anderen westlichen Industrienationen wie Australien, den USA oder England deutlich höher ist. Während die Sepsis-Sterblichkeit nach dem Einführen nationaler Qualitätsstandards in England auf 32 %, in den USA auf 23 % und in Australien auf 18 Prozent gesunken ist, liegt sie in Deutschland immer noch bei 41,7 %.

Das Sepsis-Paradox

Wie spärlich das Wissen zur Sepsis in der Bevölkerung ist, hat eine deutschlandweite repräsentative Umfrage aus dem Jahr 2018 gezeigt. Demnach

  • wussten nur 17 % der Befragten, dass Sepsis durch Infektionen ausgelöst wird,
  • hielten 23 % Sepsis für eine allergische Reaktion,
  • glaubten 30 %, dass Sepsis primär durch „Killerkeime“ im Krankenhaus ausgelöst wird,
  • war vielen unbekannt, dass es gegen manche der Infektionen, die eine Sepsis auslösen können, effektive Impfungen gibt,
  • glaubte die Mehrheit, dass das Hauptsymptom einer Sepsis ein roter Streifen ist, der über den Arm zum Herz zieht.

Wie wenig über Sepsis bekannt ist, ist aufgrund der hohen Krankheitslast besonders erstaunlich. In Deutschland wird aufgrund von Schätzungen von jährlich mindestens 75.000 Sepsistoten ausgegangen. Aus Erhebungen unserer Arbeitsgruppe und internationalen Vergleichen wissen wir, dass die Zahl der Sepsisfälle und in Deutschland derzeit mit hoher Wahrscheinlichkeit erheblich unterschätzt wird. Im Jahr 2020 wurde von den Autoren des Global Burden of Disease Reports erstmals darüber berichtet, dass es 2017 fast 50 Millionen Sepsisfälle gibt und 11 Millionen Sepsistote gab – also sehr viel mehr, als bisher angenommen wurde.

Die Tatsache, dass Sepsis weltweit mehr Todesfälle verursacht als Krebs, ist auch deshalb lange unbekannt geblieben, weil in den Statistiken über die Todesursachen meist nur die Infektionen genannt wurden, die zu einer Sepsis führen wie z.B. Lungenentzündung, Bauchfellentzündung, Nierenbeckenentzündung, Blinddarmdurchbruch, Wochenbettfieber etc. und nicht das Wort Sepsis, obwohl man in der Regel an einer Infektion nur dann verstirbt, wenn sie sich zu einer Sepsis entwickelt. Nur etwa 50 % der Sepsisfälle, die sich in den Krankenakten finden, werden auch in den sogenannten Abrechnungsdaten dokumentiert.

Warnzeichen bei stationären Patienten früher erkennen

Nachholbedarf gibt es auch bei der rechtzeitigen Identifizierung von Sepsis und anderen schweren lebensbedrohlichen Komplikationen auf den Bettenstationen in den Krankenhäusern. Daten aus dem Deutschen Reanimationsregister zeigen, dass mehr als ein Drittel der jährlich ca. 30 000 innerklinischen Herzstillstände, die oft durch Sepsis bedingt sind, sich unbeobachtet vom medizinischen Personal ereignen. Die Gründe hierfür liegen in mangelhafter Schulung des medizinischen Personals in den Frühzeichen einer Sepsis und den Warnzeichen die auf eine lebensbedrohliche Verschlechterung der sogenannten Vitalfunktionen eines Patienten hinweisen. Solche Zeichen sind akute Bewusstseinsstörungen, Verwirrung, Atemnot, Blutdruckabfall und Anstieg der Pulsrate.

In mit Deutschland vergleichbaren westlichen Industrienationen wie z.B. England, Australien, den USA oder den Niederlanden wird das medizinische Personal verpflichtend auf der Basis von „Early Warning Scores“ regelmäßig geschult. Hinzu kommt, dass dort sog. Rapid Response Teams in solchen Situationen frühzeitig gerufen werden können, während in Deutschland die hier vorherrschende Wiederbelebungs-Teams in der Regel erst beim Vorliegen eines Herzstillstands alarmiert werden.

Was wir von anderen Ländern lernen können

Wie effektiv verbindliche Vorgaben für die Qualitätsverbesserung und -kontrolle in den Krankenhäusern sind, hat sich im US-Bundesstaat New York gezeigt. Dort erfolgte 2013 durch Gouverneur Andrew Cuomo ein „Rory Staunton Regulations“ genannter Erlass. Anlass war der Tod eines 13-Jährigen durch eine infizierte oberflächliche Hautschürfung. Obwohl der Junge in der Notaufnahme einer Uni-Klinik in Manhattan eindeutige Sepsissymptome zeigte, kam es nicht zur Krankenhausaufnahme, weil die Ärzte von einer harmlosen Durchfallerkrankung ausgingen. Die daraufhin erlassenen, für alle 197 Krankenhäuser des Staates New York verbindlichen Vorgaben führten im Zeitraum 2015-2019 zu einem Rückgang der Krankenhaussterblichkeit von 32 auf 22 %.

In England wurden mit der Gründung des UK Sepsis Trusts im Jahr 2012 und durch die Unterstützung der Medien die Defizite bei der Sepsiserkennung und -behandlung ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, der Regierung, des Parlaments und des National Health Service (NHS) getragen. Dies hat unter anderem zur Einführung eines Nationalen Sepsisstrategie geführt. Zudem wurde eine Kommission „National Confidential Enquiry into Patient Outcome and Death“ mit der systematischen Untersuchung der Qualität des Sepsis-Managements beauftragt.

Die Entwicklungen in diesen Ländern können und sollten wir uns zum Vorbild nehmen. Auch in Deutschland fordern wir seit langem einen Nationalen Sepsisplan. Ein erstes Memorandum dazu wurde im Jahr 2013 veröffentlicht, welches im Jahr 2017 erneuert wurde. Auch auf die Einrichtung einer Expertenkommission am RKI, um die Forderungen aus der WHO-Resolution nach Maßnahmen zur Sepsis-Bekämpfung umzusetzen, warten wir noch. 

Mit dem heute beginnenden Start der Aufklärungskampagne „Deutschland erkennt Sepsis“ wollen wir ein Zeichen setzen. Wir müssen heute etwas tun. Zeit ist Leben. Und Aufklärung ist ein wichtiger erster Schritt, Leben zu retten.

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