Interview mit Stefan Grüttner

"Wir ziehen an einem Seil in die gleiche Richtung"

Foto von Stefan Grüttner, Hessischer Sozialminister und Vorsitzender der GMK, im Interview mit ersatzkasse magazin.

Mehr Einfluss auf die Gesundheitspolitik – das haben sich die Bundesländer im Zuge des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes erarbeitet. Unter dem Vorsitz Hessens blickt die Gesundheitsministerkonferenz (GMK) auf Erfolge zurück, aber auch großen Herausforderungen entgegen. Im Interview spricht Stefan Grüttner, Hessischer Sozialminister und Vorsitzender der GMK, über Rechte und Pflichten der Länder, die künftige Ausgestaltung der medizinischen Versorgung und neue Wege der Krankenhausplanung. 

Herr Minister Grüttner, das Land Hessen hat derzeit turnusgemäß den Vorsitz in der GMK inne. In die Debatte um das GKV-Versorgungsstrukturgesetz haben sich die Länder stark eingebracht. Aus Ihrer Sicht erfolgreich?

Stefan Grüttner: Der Prozess der Einbindung im Zuge des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes wurde von den Ländern mühsam erarbeitet. Wir haben schon im Sommer letzten Jahres Vorschläge für ein Versorgungsstrukturgesetz in die Diskussion eingebracht, was möglicherweise im Bundesgesundheitsministerium für ein wenig Überraschung gesorgt hat in dem Sinne, dass der Bund mit den Vorstellungen der Länder nicht richtig umgehen konnte. Entsprechend zugespitzt und kontrovers wurde zwischen den Ländern und dem Bundesgesundheitsministerium diskutiert. Erschwerend kam hinzu, dass es zunächst Kommunikationsprobleme gab. All dies haben wir unter dem Vorsitz von Hessen versucht aufzulösen, und ich finde, das ist uns auch gut gelungen.

Im Zuge des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes bekommen die Länder mehr Rechte und damit insgesamt eine neue Rolle zugewiesen. Reicht Ihnen das Ergebnis?

Wenn man von null kommt, ist alles, was man bekommt, besser. Aber ja, wir können Erfolge verzeichnen. Durch unser Mitspracherecht im Gemeinsamen Bundesausschuss beispielsweise, wenn es um Fragen der Bedarfsplanung und Versorgungssituation geht, können die regionalen Gegebenheiten besser Berücksichtigung finden. Eine weitere weitgehende Einflussmöglichkeit ist die Rechtsaufsicht über den Landesausschuss einschließlich der Ersatzvornahme als Ultima Ratio, wenn es zu Problemen mit Maßnahmen auf Ebene der Landesausschüsse kommt. Oder die Möglichkeit, über Landesbevollmächtigte der Kassenarten nun auch mit Krankenkassen, die der Bundesaufsicht unterstehen, Vereinbarungen verbindlicher Art abschließen zu können. Natürlich kann man sich immer mehr wünschen, und es gibt auch das ein oder andere Problemfeld, das wir im weiteren Verfahren diskutieren und in Stellungnahmen zum Ausdruck bringen werden. Doch müssen wir natürlich jetzt auch erstmal sehen, wie wir mit den neuen Möglichkeiten, die wir haben, umgehen können. Dass wir unsere neuen Aufgaben auch verantwortungsvoll wahrnehmen können, das wird uns in der Umsetzungsphase ab dem 1. Januar 2012 – wenn der Zeitplan eingehalten werden kann – besonders beschäftigen.

Sind die Länder in organisatorischer und personeller Hinsicht entsprechend gerüstet?

Meiner Auffassung nach ja. Auch Hessen ist qualitativ gut aufgestellt, so dass wir ein hohes Maß an Erfahrungen bündeln und einbringen können. Insgesamt besteht ein sehr guter Austausch zwischen den Ländern, so dass man gegenseitig von den jeweils spezifischen Erfahrungen profitiert. In den letzten Monaten ist zwischen den Ländern eine neue Qualität der Zusammenarbeit entstanden. In dem Prozess der Erarbeitung des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes wurde deutlich, dass die Länder unabhängig von politischen Führungen die gleichen Problemlagen aufweisen und sie dann nicht nur am gleichen Seil, sondern auch in die gleiche Richtung ziehen.

Mithilfe des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes möchte man mehr Ärzte aufs Land locken. Erfüllen die vorgesehenen Maßnahmen ihren Zweck?

Wir benötigen auf jeden Fall ein Bündel von Maßnahmen, um eine gute Versorgungssituation langfristig sicherzustellen. Wichtig ist zum Beispiel, dass Versorgungsregionen jetzt anders definiert werden können als bisher, also dass die strikte Beibehaltung entlang der Grenzen von kreisfreien Städten oder Landkreisen aufgelöst wird. Aber das allein reicht nicht, genauso wenig wie finanzielle Anreize. Wir müssen Ärzten ein Stück weit Sicherheit und Freiheiten bieten, wenn sie sich in ländlichen Regionen niederlassen, und dafür sorgen, dass insgesamt ein Interesse am Beruf der Hausärztin beziehungsweise des Hausarztes besteht. Ich kann noch so viel Geld in die Hand nehmen – wenn der medizinische Nachwuchs fehlt, kann ich ihn auch nicht locken.

Sind hier die Länder in der Pflicht, selbst noch weiter aktiv zu werden?

Der Sicherstellungsauftrag einer guten ambulanten medizinischen Versorgung liegt generell bei den Kassenärztlichen Vereinigungen und natürlich nachrangig auch bei den Krankenkassen, diese Verantwortlichkeit wollen wir ihnen auch nicht nehmen. Uns geht es darum, dass wir uns gemeinsam sich frühzeitig abzeichnenden Problemlagen annehmen. Wir müssen Konzepte erarbeiten, die von Teilzulassungen oder der Aufhebung der Residenzpflicht über die Neuorganisation des Notdienstes bis hin zur sektorenübergreifenden Zusammenarbeit reichen. Für die Länder ist es eine Chance, mithilfe des vorhandenen und künftigen Instrumentariums einem eventuell zukünftigen Mangel an medizinischer Versorgung zu begegnen.

Wie stehen Sie zu der Kritik, dass sich das GKV-Versorgungsstrukturgesetz zu wenig dem Abbau von Überversorgung widmet?

Mir ist bewusst, dass insbesondere das Vorkaufsrecht für die Kassenärztlichen Vereinigungen, das das GKV-Versorgungsstrukturgesetz als eine Möglichkeit zum Abbau von Überversorgung vorsieht, aktuell noch recht weich gefasst ist. Hier wird man im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens prüfen müssen, ob eine schärfere Fassung sinnvoll ist oder ob man den neuen Möglichkeiten, die das GKV-Versorgungsstrukturgesetz vorsieht, zunächst einmal eine Chance geben sollte. Ersteres sehe ich als ordoliberal denkender Mensch etwas problematisch, weil das Gesundheitswesen bereits stark planwirtschaftlich organisiert ist. Allerdings gilt auch: Alleine der Wettbewerb reicht nicht, wenn man sieht, dass gerade in ländlichen Regionen inzwischen ein Übernehmer-Markt herrscht.

Diskutiert wird die spezialärztliche Versorgung. Kritiker befürchten eine Mengenausweitung.

Die Gefahr der Mengenausweitung ist natürlich gegeben, das wird aber von der endgültigen Ausgestaltung der Vorschrift abhängig sein. Erstaunlicherweise wurde die spezialärztliche Versorgung vorab mit den Ländern nicht abgesprochen, obwohl das Bundesgesundheitsministerium und die Länder im Übrigen Eckpunkte diskutiert haben. Das ist auch einer unserer Hauptkritikpunkte und hat zu einem einstimmigen GMK-Beschluss geführt. Problematisch ist, dass spezialärztliche Versorgung ohne Mengensteuerung jeglicher Bedarfssteuerung eigentlich entgegenläuft. Als kritikwürdig erwähnen möchte ich außerdem, dass die Kassenärztliche Bundesvereinigung plötzlich laut Regierungsentwurf für alle Kassenärztlichen Vereinigungen verbindliche Richtlinien zur Honorarverteilung vorgeben soll. Das ist erstens eine Kompetenz, die die Kassenärztliche Bundesvereinigung überhaupt nicht zugewiesen haben möchte, und zweitens kann es den Spielraum, der den Kassenärztlichen Vereinigungen durch Regionalisierung des Honorargeschehens gerade eingeräumt werden soll, gleich wieder zunichte machen.

Sehen die Länder noch Möglichkeiten einzugreifen?

Ich bin guter Hoffnung, dass wir noch etwas verändern können. Wir werden unsere Kritik in den Stellungnahmen der Länder im Bundesratsverfahren verdeutlichen und über die Bundestagsfraktionen vertreten. Dabei wissen wir Ärzteverbände auf unserer Seite. Ansonsten müssen wir später in der Ausführung des Gesetzes prüfen, wo Möglichkeiten, Auswüchse zu verhindern, entsprechend gegeben sind.

Kann es passieren, dass in Zukunft immer mehr Ärzte in den Bereich der spezialärztlichen Versorgung „abwandern“ zulasten des ambulanten Bereiches?

Wir müssen diese Gefahr sehen. Dazu kommt die Frage, was geschieht, wenn man aus der spezialärztlichen Versorgung wieder heraus will. Diese Formulierung ist nicht konsequent zu Ende gedacht. Dass dies streitbefangen ist, zeigte schon die Umsetzung des § 116b zur ambulanten Behandlung im Krankenhaus. Teilweise entstand der Eindruck, dass Kliniken sich auf § 116b beriefen, um zusätzliche Einnahmen zu generieren, und nicht unbedingt, um die entsprechende spezialärztliche Versorgung von Patienten sicherzustellen.

Geändert hat sich die Rolle der Länder mit Blick auf Selektivverträge: Künftig sollen die Länder diese Verträge der Kassen beanstanden können. Wie soll das genau aussehen?

Unser Anliegen war, Selektivverträge immer dann bewerten und in eine Richtung lenken zu können – damit sie nicht einem allgemeinen Sicherstellungsauftrag widersprechen –, wenn sie Einfluss auf die Versorgungssituation haben. Dieses Verfahren ist aber immer nur auf das jeweilige Land bezogen. Wir maßen uns als Hessen nicht an, die Situation in Bayern zu beurteilen. Der Selektivvertrag hätte dann in Bayern Gültigkeit, in Hessen aber nicht.

Stichwort Krankenhaus: Macht es Sinn, sich jetzt als GMK gemeinsam mit dem Bund auch des stationären Bereiches anzunehmen?

Das würde sehr schnell dazu führen, dass die Frage der Krankenhausplanung von der Länderkompetenz zu einer Bundeskompetenz geriete. Das wissen wir mit genauso großem Nachdruck zu verhindern, wie vonseiten des Bundes zu große Einflussnahme der Länder im ambulanten Bereich verhindert wurde. Krankenhausplanung ist originär Länderaufgabe, das tut auch dem Wettbewerb gut und sollte man aufrecht erhalten. Das heißt nicht, dass in den entsprechenden Arbeitsgemeinschaften, die länderübergreifend stattfinden, nicht über Standards nachgedacht wird und diese entsprechend eingehalten werden. Aber die Ausprägung und Ausformung sollte föderal geregelt sein, also in eigener Länderkompetenz.

Der Krankenhausbereich ist geprägt von einer kapazitätslastigen Planung. Muss sich hier die Ausrichtung ändern?

In Hessen haben wir uns von der kapazitätslastigen Planung verabschiedet und die Bettenplanung – mit Ausnahme des Bereichs der Notfallversorgung – abgeschafft. Wir haben ein Auge auf die allgemeine sowie Notfallversorgung, die übrigen Bereiche überlassen wir eher den Krankenhausträgern, zum Beispiel im Hinblick darauf, wie diese sich spezialisieren wollen und diese Spezialisierung entwickelt sich aus der Trägerschaft heraus. Es muss einen allgemeinen Auftrag geben, worauf wir als Land zum Beispiel mit Investitionsmitteln steuernd einwirken und den Prozess mit moderieren, ihn aber nicht befehlen können. Insgesamt über das Land gesehen bin ich der Überzeugung, dass wir schon sehr genau darauf achten müssen, ob alle Krankenhäuser ihre Daseinsberechtigung, auch unter dem Gesichtspunkt der Aufnahme in die Krankenhausrahmenplanung und damit einen Versorgungsauftrag und die Abrechnungsfähigkeit gegenüber den Kostenträgern haben.

Heißt das, den Fokus mehr auf Qualität statt Quantität zu richten?

Mit dem neuen hessischen Krankenhausgesetz verfolgen wir den Ansatz zu schauen, wie sich die Leistungsfähigkeiten von Kliniken darstellen, sowie die Bedürfnisse zu definieren. Zu den Bedürfnissen zählt die Notfallversorgung, spezialärztliche Versorgung, Verknüpfung zwischen Rettungsdienst und Krankenhaus bis hin zur sektorenübergreifenden Versorgung. Statt Krankenhauskonferenzen haben wir Gesundheitskonferenzen, in die durch Einbeziehung des ambulanten Bereichs und kommunaler Gebietskörperschaften sektorenübergreifendes Denken Einzug erhält. Wichtig sind Schwerpunktbildungen durch Netzwerke. Nicht jeder muss alles machen, aber jeder muss das, was er macht, richtig machen.

Wie wird sich der Krankenhausbereich entwickeln?

Die Reise wird dahin gehen, dass es auf Dauer immer mehr Kooperationen geben wird, die wir zum Beispiel durch Investitionsförderungen beschleunigen können. Diese Kooperationen müssen wir versuchen zu leben, und zwar unter allen Trägern. Das führt auch dazu, dass sich Spezialitäten herausbilden. Immer mehr Kooperationen werden aber auch dazu führen, dass die Existenz des ein oder anderen Krankenhauses im Rahmen solcher Kooperationsverbünde infrage steht.

Zuletzt wurde im Zuge der EHEC-Krise die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern kritisiert. Wie kann das künftig besser laufen?

Zunächst, es gab überhaupt keine großen Probleme in der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Es ist natürlich eine große Herausforderung, wenn drei verschiedene Ressorts – Gesundheit, Verbraucherschutz und Landwirtschaft – betroffen sind. Die GMK hat beschlossen, das EHEC-Geschehen zu evaluieren und notwendige Verbesserungen, etwa in der Kommunikation, herauszuarbeiten. In die Evaluierung werden wir selbstverständlich alle betroffenen Bundesministerien und Bundesbehörden einbeziehen. Unter anderem ist eine Arbeitsgruppe der Länder damit beauftragt, in Kooperation mit dem Robert Koch-Institut und dem Bundesgesundheitsministerium das Verbesserungspotenzial im Meldewesen auszuarbeiten. Noch ist es zu früh, Ergebnisse vorwegzunehmen.

Aber Probleme gab es schon.

Es gibt einen wichtigen Punkt, den es zu verbessern gilt: Der Weg vom Arzt zum öffentlichen Gesundheitsdienst war zu lang. In dem Moment, wo der Fall im Bereich der öffentlichen Verwaltung war, lief es relativ gut. Auch der Austausch zwischen dem Robert Koch-Institut und Bundesinstitut für Risikobewertung verlief gut. Nur in Bezug auf die Meldefristen muss es schneller gehen. Notwendig ist natürlich vor der Meldung auch eine vernünftige Diagnose. Aber eine gefährliche Krankheit identifizieren, das kann nur der Arzt, nicht die Politik.

Hessen führt den Vorsitz der GMK bis Ende des Jahres, dann übernimmt das Saarland. Was würden Sie Ihrem Kollegen mit auf den Weg geben?

Er sollte versuchen, das, was erfolgreich gelaufen ist, nämlich die Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinweg und die Kommunikation an dieser Stelle, genauso aufrecht zu erhalten.

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