Gesundheitsversorgung ist auch in Zukunft tragbar

Die Bevölkerung in Deutschland altert, die Lebenserwartung steigt. Die demografische Entwicklung hat zweifelsohne Auswirkungen auf die finanzielle Belastung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Aber diese Herausforderungen sind zu bewältigen. Es gilt, frühzeitig Maßnahmen zu ergreifen und rechtzeitig neue Versorgungskonzepte zu entwickeln.

Die demografische Entwicklung wird Auswirkungen auf die zukünftige gesundheitliche Versorgung haben. Auch wenn Ausgabensteigerungen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht, wie gern behauptet, im Wesentlichen auf diese Entwicklungen zurückzuführen sind, sind doch die zu erwartenden Rahmendaten eindeutig. Die Bevölkerung in Deutschland wird altern. Voraussagen lässt sich auch, dass die Lebenserwartung aufgrund besserer medizinischer Versorgung, besserer Umweltbedingungen, zum Teil auch gesünderer Lebensführung steigen wird. Gleichzeitig ist die Zahl der Geburten in Deutschland rückläufig. Letzteres zu korrigieren ist in den letzten Jahren nicht gelungen, so dass es zukünftig mehr alte Menschen als Kinder und Jugendliche geben wird. Nun ist es nicht so, dass steigende Lebenserwartungen und rückläufige Geburten nur für die Zukunft gelten. Die Lebenserwartung steigt seit dem 19. Jahrhundert ständig. So ist die Lebenserwartung in Deutschland allein von 1960 bis 2004 um gut neun Jahre gestiegen. Für einen gleich langen Zeitraum bis 2050 geht das Statistische Bundesamt von weiteren sieben bis neun Jahren aus.

Evident ist auch, dass Krankheitskosten und die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung mit zunehmendem Alter stetig ansteigen. Dies schlägt sich natürlich auch in der Entwicklung des Ausgabenvolumens der GKV nieder, wenn der Anteil älterer Menschen stetig zunimmt, sei es, weil die Geburtenzahlen rückläufig sind, sei es, weil die Lebenserwartung stetig ansteigt. Für die Zeit bis 2060 wird ein Anstieg des Bevölkerungsanteils der über 60-Jährigen von 21 Prozent im Jahr 2009 auf 34 Prozent im Jahr 2060 prognostiziert, während sowohl Kinder und Jugendliche als auch Personen im erwerbsfähigen Alter relativ abnehmen (Statistisches Bundesamt, 12. koordinierte Bevölkerungsvorausschätzung, mittlere Variante 1-W1). Der Altersquotient, also die Relation der über 65-Jährigen zu den 20- bis 64-Jährigen, steigt danach von 34 auf 67.

Die Rolle der demografischen Effekte

Allerdings ist die Aussagekraft des reinen Altersquotienten für die Ausgabenentwicklung und Finanzbelastung in der GKV sehr begrenzt, weil die Wirkung demografischer Faktoren nur einen (geringeren) Teil der Ausgaben für Gesundheit erklären. Zur Beurteilung der Situation müsste eine Kennziffer entwickelt werden, die den zunehmenden Anteil gesunder Lebensjahre berücksichtigt, aber auch die hohe angebotsseitige Dynamik bei den Behandlungsmöglichkeiten von Krankheit durch den wissenschaftlich- technischen Fortschritt.

Die nachfolgende Übersicht weist die für die Zeitspanne 1950 bis 2008 und für die Zeitspanne bis 2060 simulierte, rein demografisch bedingte Ausgabenentwicklung in der GKV aus. Hieraus lassen sich zentrale Schlüsse ableiten:

  • Auch in der Vergangenheit gab es nennenswerte demografische Veränderungen, also Veränderungen in der Alters-/Geschlechtsstruktur der Versicherten, die die Ausgabenentwicklung beeinflussten.
  • Isoliert betrachtet haben sich die Ausgaben 1950 bis 2008 durch demografische Effekte um +17 Prozentpunkte erhöht.
  • Dieser Effekt wird in Zukunft etwas mehr ausgeprägt sein. Nach der mittleren Variante der Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes könnte der isolierte demografische Effekt bis 2060 bei +28 Prozentpunkten liegen.
  • Der demografische Effekt ist aber insgesamt nur einer der weniger bedeutenden Faktoren für die Ausgabenentwicklung in der GKV. Dies zeigt der markierte Ausschnitt 1977 bis 2008: In diesem Zeitraum haben sich die tatsächlichen Ausgaben um +30 Prozentpunkte erhöht; dabei liegt der Anteil des isolierten demografischen Effekts für diesen Zeitraum bei nur +12 Prozentpunkte.

Es wird sehr deutlich, dass der demografische Wandel zwar einen relevanten Einfluss auf die Ausgabenentwicklung für Gesundheit hat, dass aber zum einen Faktoren wie das Versorgungsangebot, die Behandlungsmöglichkeiten und politische Eingriffe wie zusätzliche Honorarsteigerungen, zum anderen aber auch verhaltensabhängige Faktoren für den Gesundheitszustand und der Leistungsinanspruchnahme wesentlich bedeutsamer sind.

Ein sehr bedeutsamer Faktor für die Ausgabenentwicklung für Gesundheit ist die Frage, wie sich der Gesundheitszustand der Älteren und Hochbetagten entwickelt. Es gibt – abweichend von einer reinen Status quo-Hochrechnung der Ausgabenentwicklung – zwei konkurrierende Hypothesen, deren empirisch begründete Beantwortung durch die Wissenschaft aussteht:

  • Kompressionsthese: Die Kompressionsthese besagt, dass die Höhe und Entwicklung der Kosten kurz vor dem Tod ausschlaggebend für die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen ist. Die zusätzlich gewonnenen Lebensjahre werden hingegen überwiegend in Gesundheit verbracht. Trifft diese Beobachtung zu, dann ist nicht das Altsein teuer, sondern der Sterbeprozess. Grafisch veranschaulicht bedeutet dies, dass sich das Ausgabenprofil nach rechts verschiebt. Die Auswirkungen einer Erhöhung der Lebenserwartung auf die Ausgaben wären dann eher geringer.
  • Medikalisierungsthese: Demgegenüber wird auch die Meinung vertreten, dass die zusätzlich gewonnenen Lebensjahre durch eine erhöhte Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen gekennzeichnet sind, da wachsenden Einschränkungen im Gesundheitszustand und der Zunahme chronischer Erkrankungen mit laufend verbesserten Behandlungsmöglichkeiten begegnet werden kann (Medikalisierungsthese). Hierdurch verschiebt sich das Ausgabenprofil nach oben und wird steiler. Die Auswirkungen auf die Ausgabenentwicklung im Gesundheitswesen sind deutlich.

Die Erfahrung deutet darauf hin, dass in beiden Thesen ein Teil Wahrheit steckt und im Zusammenspiel beider Effekte die Ausgabenentwicklung bestimmt wird. Auch wenn empirische Ergebnisse immer stärker darauf hinweisen, dass die gewonnenen Lebensjahre überwiegend in Gesundheit verbracht werden und nicht im Zustand schwerer Krankheit oder Pflegebedürftigkeit, so muss man doch mit Ausgabensteigerungen über rein demografische Effekte hinaus rechnen, weil die Inzidenz chronischer Erkrankungen mit steigendem Lebensalter zunimmt.

Für die Finanzbelastung in der GKV ist aber auch die Wirtschaftskraft, die Entwicklung der Einnahmebasis von großer Bedeutung. Durch Veränderung der Altersstruktur steigen die Ausgaben der GKV (auch wenn die Bevölkerungszahl insgesamt abnimmt), während gleichzeitig die Einnahmebasis der GKV, die Lohn- und Gehaltssumme bei einer rückläufigen Zahl von Personen im erwerbsfähigen Alter und auch der Erwerbstätigen abnimmt. Wenn keine weiteren der zahlreichen Einflussfaktoren auf die Entwicklung der Einnahmebasis berücksichtigt werden, dann würde der kalkulatorische Beitragssatz in der GKV bedingt durch demografische Effekte weiter ansteigen und von einem Niveau von 14,9 Prozent in 2010 auf 18,6 Prozent in 2060 klettern.

Frühzeitig entgegenwirken

Eine Zunahme der finanziellen Belastung in der GKV durch die demografische Entwicklung ist nicht zu leugnen. Aber das Ausmaß der zukünftigen Belastung ist beherrschbar, wenn frühzeitig Maßnahmen ergriffen werden, die Gesundheitsversorgung an zukünftige Bevölkerungsstrukturen anzupassen und die Einnahmebasis der GKV auch künftig zu sichern. Für letzteren Punkt ist von maßgeblicher Bedeutung, ob es gelingt, die Arbeitsproduktivität als Schlüssel für die Entwicklung der Wirtschaftskraft, für das Bruttoinlandsprodukt, beizubehalten oder zu steigern. Es sprechen einige Gründe dafür, dass auch zukünftig eine Steigerung der Arbeitsproduktivität erreicht werden kann, denn Erfahrung und Souveränität älterer Beschäftigter kompensiert abnehmende physische oder kognitive Leistungsfähigkeit.

Zur Sicherung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Sozialsysteme ist daher einem Rückgang der Anzahl der Erwerbspersonen entgegenzuwirken. Dies kann gelingen durch eine Erhöhung der Beschäftigung (Vollzeitarbeitsplätze) und der Erwerbsquote der Frauen, eine Verlängerung der Beschäftigungsphase und verbesserter Einstiegschancen für Jugendliche. Auch höhere Einwanderungszahlen könnten für Entlastung sorgen. Eine der zentralen Stellschrauben für die Zukunft wird auch weiterhin die Einkommensentwicklung und vor allem die Produktivität der Erwerbstätigen sein.

Fortschritt muss mehr Nutzen bringen

Hinsichtlich der letztendlichen Beurteilung der zukünftigen Ausgaben im Gesundheitswesen greift eine statische Hochrechnung sicherlich zu kurz. Wir müssen davon ausgehen, dass wie in der Vergangenheit der medizinisch-technische Fortschritt zu einem Wandel der künftigen Gesundheitsversorgung beiträgt. Es wird entscheidend sein, dass dieser medizinische Fortschritt den Menschen mehr Nutzen bringt. Es werden umfassende Technologie-Bewertungen und Nutzenanalysen stärker als bisher durchzuführen sein. Insgesamt muss es gelingen, dass neue Verfahren und Leistungen, die aufgrund des medizinischtechnischen Fortschritts entstehen, indikationsbezogen alte ersetzen und nicht nur zusätzlich ins System kommen. Der medizinische Fortschritt muss den Patienten nutzen. Bestimmte Operationen sind heute zum einen kostengünstiger als früher. Zum anderen können Kosten in angezeigten Fällen durch den verstärkten Einsatz von Home-Care, Telemedizin und anderer Versorgung reduziert werden.

Eine reine Kostenbetrachtung des demografischen Wandels ist zu eindimensional und greift zu kurz. Es reicht nicht, der Frage nachzugehen, welchen Preis Gesundheit im Alter hat – wir müssen im Blick haben, dass eine alternde Gesellschaft ein adäquates Versorgungsspektrum benötigt. Denn wir werden zukünftig mit mehr altersassoziierten Erkrankungen wie etwa Hypertonie und Diabetes sowie mehr chronisch degenerativen Erkrankungen wie zum Beispiel Parkinson konfrontiert sein. Das erfordert eine stärker geriatrisch ausgerichtete Versorgung. Deshalb gilt es, rechtzeitig neue Versorgungskonzepte zu entwickeln und die Versorgungsstrukturen anzupassen.

Insgesamt müssen innovative und zielgenaue Angebote für alte Menschen mit altersassoziierten chronischen Erkrankungen entwickelt und gefördert werden. Dabei ist es wichtig, dass die Versorgungssektoren stärker integriert und die Behandlungsabläufe weiter optimiert werden. Auch die Prävention müssen wir im Blick behalten, denn Prävention ist nicht nur generell, sondern auch bei alten und hochbetagten Menschen wichtig. Natürlich gilt es hier genau wie in der medizinischen Versorgung, dass die Maßnahmen den veränderten Bedürfnissen angepasst werden, damit sie den unterschiedlichen Zuständen im Alter gerecht werden. Alte Menschen brauchen aber auch eine andere Ansprache in der Pflege. Demenzerkrankungen, eingeschränkte Beweglichkeit und verlängerte Reaktionszeiten der Patienten müssen von Pflegekräften berücksichtigt werden. Pflegekonzepte müssen diese veränderten Patientenbedürfnisse berücksichtigen.

Gemeinsam dem Wandel begegnen

Die demografische Entwicklung war in der Vergangenheit nicht wesentlich für die Ausgabensteigerungen in der GKV verantwortlich. Der Generalverdacht, der demografische Wandel und die damit ins Feld geführten Forderungen nach Leistungskürzungen und mehr finanzieller Eigenbeteiligung gefährde die GKV, kann so nicht aufrecht erhalten werden. Sicher ist, es wird einen demografiebedingten Wandel geben, der die gesetzliche Krankenversicherung vor Herausforderungen stellt. Diese Herausforderungen, wenn wir sie heute annehmen, sind zu bewältigen, wenn entsprechende Anreize und Rahmenbedingungen geschaffen werden – damit alle Akteure aus Politik, Wirtschaft, aus den sozialen Sicherungssystemen und der Gesellschaft sich dieser Herausforderung einer alternden Bevölkerung kurz- sowie langfristig stellen.

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