Interview mit Jürgen Gohde

„Stresstest für die Sozialversicherung“

Dr. Jürgen Gohde, Vorsitzender des Pflegebeirats, im Interview mit ersatzkasse magazin.

2011 soll das Jahr der Pflege sein, doch passiert ist bislang nicht viel. Jetzt hat das Bundesgesundheitsministerium den Pflegebeirat reaktiviert, der inhaltliche Konzepte und Umsetzungsmöglichkeiten in Bezug auf die Pflege erarbeiten soll. Dr. Jürgen Gohde ist Vorsitzender dieses Beirats. Im Interview mit ersatzkasse magazin. spricht er über die Herausforderungen in der Pflege, die Notwendigkeit zur Veränderung sowie über die Pflegeversicherung als sozialpolitische Großtat.

Herr Dr. Gohde, was motiviert Sie als Theologe, sich mit der Pflege auseinanderzusetzen?

Dr. Jürgen Gohde Ich habe mich mit dem Thema Pflege seit Anfang meiner Berufstätigkeit in verschiedenen Ämtern und Aufgabenfeldern beschäftigt. Zum einen kann ich sowohl auf Erfahrungen in der Dienstleistungserbringung im Bereich der Pflege zurückgreifen, zum anderen habe ich viel Zeit mit pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen verbracht. Das Hauptmotiv, was mich immer wieder antreibt, ist die Frage, wie es gelingt, ein würdevolles Leben bis zuletzt und damit ein würdevolles Miteinander aller Generationen zu ermöglichen. In was für einer Gesellschaft möchte ich leben, wie will ich gepflegt werden? Darauf Antworten zu finden, dafür möchte ich mich so gut ich kann mit aller Kraft einsetzen.

Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr hat auf Ihren Vorstoß hin den Pflegebeirat reaktiviert. Wieso haben Sie ihm diesen Vorschlag unterbreitet?

In ihrer Koalitionsvereinbarung im Herbst 2009 hat die Bundesregierung Bezug genommen auf das Arbeitsergebnis des ersten Pflegebeirats, der noch unter Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt eingerichtet wurde – damals mit dem Ziel, den Pflegebedürftigkeitsbegriff neu zu beschreiben und die Folgen zu skizzieren, die für das Leistungsgeschehen und die Sozialversicherungen finanziell und strukturell entstehen. Die schwarz-gelbe Koalition hat in ihrer Vereinbarung unter anderem die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs als gute Grundlage für die weitere Arbeit bezeichnet, nur: Danach ist nicht sonderlich viel passiert. Es ist aber inzwischen offenkundig, dass die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zentral und längst überfällig ist.

Wie sieht dieser neue Pflegebedürftigkeitsbegriff aus?

Bislang konzentriert sich der Begriff auf den Tatbestand der körperlichen Beeinträchtigung. Mit der Einführung der Pflegeversicherung war man sich zwar bewusst, dass man den Menschen in seiner Gesamtheit sehen sollte, in leistungsrechtlicher Hinsicht wurde dieser umfassende Ansatz allerdings eng geführt. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff stellt Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung ihrer Selbstständigkeit – also diejenigen, die klassisch unter die Definition der Pflegebedürftigkeit fallen – gleich mit denen, die psychisch-kognitive Beeinträchtigungen haben. Das jetzige Begutachtungsverfahren benachteiligt zum Beispiel Menschen mit einer demenziellen Erkrankung. Es ist auch nicht ausreichend geeignet für die Wahrnehmung der Pflegebedürftigkeit bei Kindern. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff schafft hier Abhilfe. Das ist der wirkliche Fortschritt des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs: Die Herstellung von Augenhöhe zwischen Menschen mit einer körperlichen und einer psychisch-kognitiven Beeinträchtigung.

Wie lässt sich der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in die Praxis umsetzen?

Wenn der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff umgesetzt werden soll, verlangt das ein Umdenken auf allen Ebenen: Eine Überprüfung des Leistungsrechts einerseits, in der täglichen Praxis mehr selbstständiges Arbeiten der Pflegekräfte – und das wollen sie. Wer Fachkräfte gewinnen will, braucht einen neuen Pflegebegriff und eine veränderte, den benötigten Kompetenzen angepasste einheitliche Ausbildung. Aber vor allem brauchen wir eine veränderte Wahrnehmung: den Blick auf die Ressourcen und Fähigkeiten, die ein Mensch mit Pflegebedarf mitbringt, wenn Menschen mit demenziellen Erkrankungen stärker im Mittelpunkt stehen als bisher, besonders auch auf die Begleitung und Beratung der Angehörigen. Es müssen zudem Regelungen für den Bestandsschutz für Versicherte vereinbart und Richtlinien angepasst werden. Alle Akteure sind gefordert. Die Opposition kritisiert, die Einsetzung des Pflegebeirats sei eine Verzögerungstaktik der Regierungskoalition. Der Beirat darf kein Alibi sein, um Entscheidungen nicht zu treffen. Er kann der Politik nicht Entscheidungen abnehmen. Er entwickelt Konzepte, Strukturen und verschiedene Kostenszenarien – aber die Festlegungen müssen vonseiten der Regierung und gewählten Abgeordneten erfolgen. Und zwar möglichst bald, ansonsten kann der Beirat die erwarteten Ergebnisse nicht erbringen.

Von welchen politischen Festlegungen sprechen Sie ganz konkret?

Wir benötigen unter anderem klare Festlegungen bezüglich des Finanzvolumens. Man kann sehr deutlich sagen, dass die Politik offensichtlich davon überzeugt ist, dass wir bei einer Weiterentwicklung der Pflegeversicherung mehr Mittel benötigen. Unumstritten scheint zu sein, dass wir über den Aufbau einer demografischen Reserve nachdenken müssen aufgrund des zu erwartenden Anstiegs der Pflegebedürftigen von 2025 an. Ich warne aber davor zu glauben, das Problem ließe sich mit relativ kurzfristigen Leistungen lösen. Oft wird das Bild des Pflegebergs herangezogen, den man untertunneln könne – ich halte dieses Bild für falsch. Wir besteigen nicht einen Berg, sondern haben einen relativ steilen Anstieg auf ein Hochplateau. Dieses Hochplateau senkt sich so schnell nicht wieder ab.

Gerade die Frage der Finanzierung bestimmt die politische Debatte. Welches Finanzierungssystem schwebt Ihnen persönlich vor?

Über Zahlen rede ich erst dann, wenn die Festlegungen von politischer Seite erfolgt sind. Aber der Beirat hat eine sehr klare Position vertreten: So wie es auch im Gesetz heißt, versteht er die Pflege als eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die einer solidarischen Aufteilung am nächsten kommt. Es gab auch nie Streit darüber, dass die Pflegeversicherung Teil des Sozialversicherungssystems bleiben muss. Und was die kapitalgedeckte Finanzierung anbelangt, haben wir heute andere Erfahrungen als noch vor wenigen Jahren. Wir wissen nämlich durch die Wirtschaftskrise, wie gefährdet derartige Volumen sein können. Wir benötigen das Geld für die Pflege nicht erst im Jahr 2025, sondern in naher Zukunft. Mit Veränderungen im Leistungsgeschehen der Pflegeversicherung können wir nicht bis 2025 warten. Wir müssen uns also an den Leistungsnotwendigkeiten orientieren. Von zentraler Bedeutung ist es aber jetzt, dass die Pflegereform nicht verschoben wird. Deshalb sage ich als Beiratsvorsitzender vor allem: Einigt euch!

Wie zuversichtlich sind Sie, dass man sich noch in dieser Legislaturperiode einigt?

Die Beiratsmitglieder wollen Ergebnisse und die Menschen wollen es auch. Wie gesagt, wir können die Pflegereform nicht auf die lange Bank schieben. Wichtig ist aber zunächst, dass der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff jetzt umgesetzt wird. Damit die Demenzkranken endlich auch Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung bekommen. Der Beirat wird alles daran setzen, dass das auch geschieht. Auch über die Länder. Denn der Pflegebedürftigkeitsbegriff ist zustimmungspflichtig. Die Testfrage ist, ob die Politik auch die Kraft hat, trotz Finanzierungsproblematik ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren zum Pflegebedürftigkeitsbegriff auf den Weg zu bringen.

Wie bewerten Sie die soziale Pflegeversicherung insgesamt?

Die Einrichtung der Pflegeversicherung war 1994 eine sozialpolitische Großtat, die angesichts der demografischen Entwicklung dringend erforderlich war. Die Pflegeversicherung hat auch immer relativ gut funktioniert in den letzten Jahren trotz aller Bedenken. Weichen stellende Urteile für die Pflegeversicherung waren im Jahr 2000 abgeschlossen, seitdem gibt es kaum noch Streit über die Auslegung und Grundfragen. Die Pflegeversicherung ist eine sehr gute Versicherung, das ist überhaupt kein Thema. Aber die jetzige Debatte ist in gewisser Weise ein Stresstest für die Leistungsfähigkeit der Sozialversicherung insgesamt.

Und was, glauben Sie, ist die Pflegeversicherung den Versicherten wert?

Die Versicherten schätzen die Pflegeversicherung. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Leute bereit sind, für eine gute Pflege zu zahlen, wenn sie mit dem Pflegerisiko nicht alleine gelassen werden. Die Höhe des Beitrags der Pflegeversicherung ist eine Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz und der Leistungsfähigkeit. Und nicht zuletzt ist die Rolle der Pflegenden in diesem Prozess bedeutend. Die Kernfrage, welche die Pflegeversicherung von Anfang an gestellt hat, bleibt: Bin ich bereit, meinen eigenen Teil in der Versorgung von Menschen, die mir nah sind, zu leisten? Ich bin davon überzeugt, dass die Bereitschaft, für die Mitmenschen und Angehörigen einzustehen, aber auch die Selbstständigkeit und Potenziale älterer Menschen viel größer sind, als das oft gesehen wird. Nur muss ich diese Ressourcen fördern und entlasten.

Müssen wir pflegende Angehörige mehr in den Mittelpunkt stellen?

Die Angehörigen stellen mehr als 60 Prozent der Pflegeversicherungsleistungen und des Pflegegeschehens sicher, an manchen Stellen noch mehr. Wir können auf diese Ressourcen überhaupt nicht verzichten. Aber immer weniger Angehörige sind in der Lage, die Pflege mit ihren Kräften zu meistern. Wir sehen zwar mit großer Dankbarkeit, dass Angehörige bereit sind zu pflegen, aber die Potenziale in den Familien nehmen ab. Die heutigen Regelungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege beispielsweise entsprechen nicht der Wirklichkeit. Gleichzeitig müssen wir die Ressourcen der Generation über 55 Jahre besser nutzen: Sie ist viel gesünder und kompetenter als dies in der Vergangenheit der Fall war. Sie ist zudem in der Lage, die Lebenswirklichkeit der Menschen mit Demenz besser zu verstehen, weil sie mit den Zeiträumen vertraut ist.

Demzufolge muss an verschiedenen Stellschrauben gedreht werden.

Unbedingt. Ein Baustein setzt auf den anderen auf. Die Pflegeversicherung ist nicht der einzige Baustein. Eine große Herausforderung ist die Infrastruktur der Pflege. Stichworte sind hier etwa altersgerechtes Wohnen, nachbarschaftliche Arrangements, Koordinationen zwischen hauptamtlichen Pflegekräften und Ehrenamtlichen, verbesserte Pflegeberatung, bessere Rahmenbedingungen für den Pflegeberuf sowie die bereits erwähnte Entlastung der Angehörigen und Förderung der Potenziale älterer Menschen. Im Beirat haben wir übereinstimmend gesagt, dass wir im Leistungsgeschehen und in den Strukturen mehr Flexibilität benötigen, um mit begrenzten Mitteln einen hohen Nutzen zu erreichen. Deshalb müssen wir erst über Konzepte sprechen, bevor wir über Geld reden.

Welche Rolle spielt künftig die stationäre Pflege?

Selbstverständlich brauchen wir weiterhin die stationären Einrichtungen, aber angesichts steigender Zahlen von Pflegefällen kann man nicht alleine auf die stationäre Variante setzen. Zudem können wir die deutlich veränderten persönlichen Bedürfnisse und den Wunsch nach einem selbstbestimmten und selbstständigen Leben nicht ignorieren. Das neue Begutachtungsverfahren gibt an dieser Stelle wirklich gute Anreize für Pflegende und Pflegebedürftige, selbstständig Verantwortung wahrzunehmen und Menschen in der Pflege zu begleiten. Wir brauchen vernetzte Versorgungsformen, die auf kommunaler Ebene Verantwortung übernehmen. Die Veränderung der ambulanten Pflegesituation wird aus meiner Sicht eine der wirklichen Herausforderungen der nächsten Jahre sein. Wir müssen an dieser Stelle kreativer werden.

Wo stößt die Kreativität an ihre Grenzen?

Das Vorurteil, man könne nichts machen, man könne nichts gestalten, sehe ich in der Praxis nicht bestätigt. Mit intelligenten Lösungen lässt sich viel bewegen. Es gibt eine Fülle von Möglichkeiten, und an dieser Stelle sind alle Akteure gefragt. Pflege ist eine gesellschaftspolitische Herausforderung. Insbesondere jetzt, wo sich tatsächlich etwas bewegen muss. Wir brauchen bessere Rahmenbedingungen für Fachkräfte in der Pflege. Es kann nicht länger sein, dass Interessenten Schulgeld für die Ausbildung bezahlen müssen oder die benötigten Plätze dafür nicht zur Verfügung stehen. Unsere demografische Struktur verändert sich, wir sind gezwungen, Entscheidungen innerhalb der nächsten zehn Jahre zu treffen – und nicht zuletzt aus diesem Grund ist das Thema Pflege das zentrale gesellschaftspolitische Thema der nächsten Jahre.

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