Medikamentensucht

Abhängigkeit auf Rezept

Grafik: Figur sitzt auf einem Schraubglas für Tabletten, um das Glas ist eine Kette mit einem Schloss gelegt

Medikamentensucht als verordnete Abhängigkeit: Schätzungen zufolge sind deutschlandweit bis zu 1,5 Millionen Menschen abhängig von Medikamenten mit Suchtpotenzial. Ein Suchtpotenzial, das in der Gesellschaft oft unterschätzt wird.

Es fing scheinbar harmlos an, mit einer Beruhigungskapsel am Tag. Mit Ende 30 brauchte Werner Dunkel (Name von der Redaktion geändert) jeden Abend Schlaftabletten, um runterzukommen, jeden Morgen Amphetamine, um funktionieren zu können. Heute sitzt der 60-Jährige im Gruppenraum der Psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle für Abhängige von Alkohol, Medikamenten und anderen Suchtmitteln (PBAM) in Schöneberg. Er war medikamentenabhängig, noch bevor er es wusste.

Damals praktizierte er als Arzt, mit dem Arzneimittelschrank in Griffnähe. Aus einer Pille wurden schnell zwei, schließlich so viele, dass er sich selbst Verordnungen ausstellte. Für ihn war Nachschub kein großes Problem. Griffnähe – ein Wort, das in Suchtberatungsstellen ein geläufiger Begriff ist. „Wir beobachten, dass Menschen, die in der Gesundheitspraxis arbeiten, allein von Berufs wegen tendenziell gefährdet sind, eine Medikamentenabhängigkeit zu entwickeln“, sagt Dagmar Heidt-Müller, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und Therapeutin der PBAM.

Dunkel ist einer von rund 900 Patienten, die in der PBAM Schöneberg oder der Zweigstelle Tempelhof aufgrund einer Suchtkrankheit betreut werden. Die meisten Betroffenen sind alkoholabhängig, einige davon in Kombination mit Medikamentensucht. Bundesweit seien laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) rund 1,5 Millionen Menschen abhängig von Medikamenten mit Suchtpotenzial, dabei Schätzungen zufolge mehr Frauen als Männer. Man müsse in Bezug auf Medikamentenabhängigkeit von einer hohen Dunkelziffer ausgehen, betont Heidt-Müller. Denn die Zahl der Medikamente sei nur nachvollziehbar über verkaufte Packungen, aber die wenigsten Patienten würden unter der Diagnose „Abhängigkeit“ registriert.

Mehr Kontrolle erforderlich

Heidt-Müller nennt es die verordnete Abhängigkeit. „Oft entscheidet nicht der Patient selbst, sondern der Arzt, welche Medikamente wie oft genommen werden.“ Besonders problematisch sei der Umgang mit älteren Menschen, die häufig mehrfach erkrankt seien. Hier steige die Zahl der Verordnungen und damit wachse auch die Gefahr des Missbrauchs von Arzneien. Heidt-Müller ist der Meinung, dass Verordnungen viel stärker kontrolliert werden sollten und bei Auffälligkeiten schneller reagiert werden müsse. „Der Arzt muss gewissenhafter mit Rezepten umgehen, der Apotheker intensiver beraten, und die Krankenkasse Rückmeldungen an Arzt und Patienten geben.“ Heute sei es so: Wenn der Arzt nicht mehr verordne oder sich die Praxisbesuche häuften, wechsle der Patient die Praxis, um weiterhin seine Rezepte zu bekommen.

Nach Angaben der DHS besäßen etwa vier bis fünf Prozent aller häufig verordneten Arzneimittel ein eigenes Suchtpotenzial. Alle psychotropen Arzneimittel wie etwa Schlafmittel und Tranquilizer vom Benzodiazepin- und Barbitursäure-Typ, zentral wirkende Schmerzmittel, codeinhaltige Medikamente oder auch Psychostimulanzien seien rezeptpflichtig. Ein großer Anteil – nach Schätzungen etwa ein Drittel bis die Hälfte – dieser Mittel würden nicht wegen akut medizinischer Probleme, sondern langfristig zur Suchterhaltung und zur Vermeidung von Entzugserscheinungen verordnet.

Hilfe wird oft zu spät aufgesucht

Dieses Suchtpotenzial werde schnell unterschätzt, sagt Heidt-Müller. Dazu käme, dass Abhängigkeit in unserer Gesellschaft gleichgesetzt werde mit Willensschwäche und Eigenverschulden. Sucht sei ein Tabu. „Entsprechend begibt sich ein Großteil der Betroffenen zehn Jahre zu spät in therapeutische Behandlung.“ Die meisten würden zudem zum Entzug zunächst durch äußere Umstände gezwungen, zum Beispiel durch Arbeitgeber oder Angehörige, es komme zu Therapieabbrüchen und Rückfällen. „Der Bedarf an Therapie ist enorm. Aber Medikamentensucht als Krankheit muss auch erkannt und akzeptiert werden.“

Auch Dunkel fragt sich bis heute, ob ihm damals schon bewusst war, dass er medikamentenabhängig war; die Zeit, als er nicht mehr ohne Tabletten einschlief oder arbeitete, als das Feierabend-Bier zum Ritual wurde – und er dennoch den Absprung zunächst aus eigener Kraft schaffte. Bis es vor drei Jahren zur Katastrophe im privaten und beruflichen Leben gekommen sei. „Da war mir alles egal, ich habe gegen meine Gewohnheit flaschenweise Whiskey getrunken, ständig Tabletten eingeworfen, um gar nichts mehr zu spüren.“

Knapp drei Monate lang hielt er die Tortur durch, dann fand ihn seine Nachbarin im Oktober 2008 bewusstlos in seiner Wohnung auf. Intensivstation, Entgiftung, Therapie. Vor Kurzem hat er sich einer Selbsthilfegruppe angeschlossen. „Ich mache mir keine Illusionen mehr“, sagt Dunkel. Er weiß, dass er süchtig ist, und er weiß, dass er Hilfe braucht, um seine Sucht in Schach zu halten. „Sich das einzugestehen, ist nicht leicht, aber befreiend.“ Denn der Druck, den er aufgebaut hatte, um seine Abhängigkeit vor Familie, Freunden und Kollegen zu verbergen – und vor allem auch gegenüber sich selbst zu leugnen –, sei kaum zu ertragen gewesen. Schlimm waren die Gefühle der Scham, der Hilflosigkeit sowie die Isolation. „Was blieb, waren Medikamente und Alkohol.“ Heute versucht er, seinen Alltag ohne Medikamente und Alkohol zu meistern. „Endlich stehe ich wieder mitten im Leben, das ist für mich der größte Gewinn überhaupt.“

„Das Symptom treibt“, davon ist Dunkel überzeugt. Aber es treibe sehr langsam, es vergehe viel Zeit, bis man sich wirklich in professionelle Hilfe begebe. Dann, wenn man nicht mehr verdrängen kann, nicht mehr verharmlosen, sich selbst nicht mehr anlügen kann. Wenn man halbtot auf dem Teppich liegt. Wenn Medikamente nicht mehr Mittel zum Zweck sind, sondern der Zweck selbst.

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