Pflegeneuausrichtungsgesetz

Ein erster Schritt, aber nicht der große Wurf

Das Kabinett hat in seiner Sitzung am 28. März 2012 das Gesetz zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung auf den Weg gebracht. Neben begrüßungswerten Vorhaben, wie etwa Leistungsverbesserungen für Menschen mit Demenzerkrankungen, bleiben jedoch grundlegende Fragen, beispielsweise in Bezug auf die konkrete Umsetzung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, offen.

Die demografische Entwicklung und die damit unter anderem verbundene Zunahme an Demenzerkrankungen stellen große Herausforderungen an die Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung. Daher verwundert es sehr, dass mit dem vorliegenden Kabinettsentwurf kein klares Konzept beziehungsweise kein verbindlicher Zeit- und Finanzplan zur Umsetzung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs vorgelegt wird. Besonders für Demenzkranke und ihre Angehörigen ist eine zeitnahe Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs dringend erforderlich, um ihnen zukünftig angemessene Leistungen der Pflegeversicherung zur Verfügung stellen zu können. Notwendige Erkenntnisse liegen bereits seit dem entsprechenden Beiratsbericht Mitte 2009 vor. Immerhin sollen die Leistungen für Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz, zum Beispiel für Demenzkranke, ab dem 1. Januar 2013 aufgestockt werden. Diese Leistungsverbesserungen sollten aber auch den Personen in Pflegestufe III zugutekommen. Dies ist bisher nicht vorgesehen.

Die geplante Einführung der häuslichen Betreuung als Sachleistung der sozialen Pflegeversicherung ist sinnvoll. So werden die Bemühungen flankiert, den Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz passgenauere Leistungen zur Verfügung zu stellen. Zudem werden damit die pflegenden Angehörigen stärker unterstützt beziehungsweise entlastet. Dass die pflegebedürftigen Menschen dabei frei wählen können, welchen Anteil der ihnen zustehenden Sachleistungen sie für die unterschiedlichen Bereiche Grundpflege, hauswirtschaftliche Versorgung oder häusliche Betreuung einsetzen, entspricht dem Selbstbestimmungsgrundsatz der sozialen Pflegeversicherung. Dieses Wahlrecht darf aber nicht dazu führen, dass es zu einer Vernachlässigung der Grundpflege kommt.

Die Einführung dieser neuen Leistung wird nun im Rahmen einer Übergangsregelung so geregelt, dass Kostenverschiebungen zulasten der Pflegeversicherung nahezu ausgeschlossen sind. Auch für die neue Leistung der häuslichen Betreuung gilt nun der Grundsatz, dass die Leistungen der Eingliederungshilfe von den Leistungen der Pflegeversicherung unberührt bleiben und auch nicht nachrangig zu gewähren sind. Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass damit den unerwünschten Verschiebebahnhöfen zulasten der Pflegeversicherung eine Absage erteilt wird. Die Übergangsregelung gilt solange, bis ein neues Gesetz in Kraft tritt, welches die Leistungsgewährung aufgrund eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs regelt.  

Drohende Unterfinanzierung

Die im Gesetz vorgesehene Beitragssatzerhöhung am 1. Januar 2013 von 0,1 Beitragssatzpunkten und die damit zur Verfügung gestellten Mittel werden nicht ausreichen, um die im vorgelegten Referentenentwurf angestrebten Leistungsverbesserungen zu finanzieren. Laut Referentenentwurf reichen die Mittel bis Anfang 2015. Somit droht ab 2015 eine Unterfinanzierung, die nur ausgeglichen werden kann, wenn die Beitragsrücklagen abgeschmolzen werden. Daran ändern auch die erstmals mit Vorlage des Kabinettsentwurf ausgewiesenen Minderausgaben nichts, die mit einer zu erwartenden vermehrten Inanspruchnahme von ambulanten Pflegearrangements begründet wird (2013 100 Millionen Euro und 2014/2015 jeweils 150 Millionen Euro). Diese Schätzungen sind wohl eher von politischen Hoffnungen denn von fachlich nachvollziehbaren Fakten geprägt. Der Gesetzentwurf sieht leider auch keine angemessene Dynamisierung der Pflegeleistungen vor. Die bisher gesetzlich verankerte Dynamisierung, wonach die Bundesregierung alle drei Jahre eine Anpassung überprüft, reicht ganz sicher nicht aus, um einer Entwertung der Leistungen im Zeitverlauf entgegenzuwirken. Notwendig wäre eine Regelung, die die Dynamisierung an die wirtschaftliche Entwicklung (zum Beispiel Bruttolohnentwicklung) koppelt.

Der Entwurf enthält zudem zahlreiche Regelungen, die darauf abzielen, die Beratung der pflegebedürftigen Menschen und ihrer Angehörigen zu verbessern. So sollen beispielsweise die Pflegekassen künftig jedem Versicherten, der erstmalig einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB XI stellt, einen konkreten Beratungstermin anbieten – spätestens innerhalb von zwei Wochen nach Antragseingang unter Angaben einer Kontaktperson – oder einen Beratungsgutschein ausstellen, in dem Beratungsstellen benannt sind, bei denen dieser Gutschein zulasten der Pflegekassen innerhalb von zwei Wochen eingelöst werden kann.

Auch wenn alle Bemühungen zur Optimierung der Information der Versicherten zu begrüßen sind, darf nicht vergessen werden, dass bereits heute umfassende Angebote zur Verfügung stehen. Hier sind in erster Linie die Pflegeberater der Pflegekassen sowie die Pflegestützpunkte als wohnortnahe Anlaufstellen zu nennen. Auf kommunaler Ebene als auch auf Ebene der Pflegekassen wurden erhebliche Ressourcen in den Aufbau und die Etablierung der Pflegestützpunkte sowie die Bereitstellung und Qualifikation der Pflegeberater investiert. Diese Strukturen befinden sich nach wie vor im Aufbau. Es ist daher überdenkenswert, inwieweit man nun weitere Stellen mit der Beratung betraut, solange die bestehenden Strukturen noch nicht vollständig ausgebaut sind. Der Umstand, dass Beratungsangebote den Versicherten teilweise nicht bekannt sind oder nicht in Anspruch genommen werden, lässt sich nicht durch den Aufbau zusätzlicher Beratungsstrukturen verändern. Manchmal ist weniger mehr.

Weiterhin plant der Gesetzgeber, dass künftig neben dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) andere unabhängige Gutachter von den Pflegekassen zur Überprüfung der Pflegebedürftigkeit und zur Begutachtung von Leistungen der Pflegekassen beauftragt werden. Äußerst problematisch ist, dass die beabsichtigten Neuregelungen zur Zulassung von „unabhängigen Gutachtern“ keine gesetzlichen Regelungen zur Organisation, Unabhängigkeit, Finanzierung und Aufsicht dieser Gutachter enthalten. Damit wird die bewährte Arbeit des MDK infrage gestellt. Insbesondere die Unabhängigkeit der beauftragten Institutionen ist Grundvoraussetzung für einen einheitlichen Zugang von Versicherten beziehungsweise Pflegebedürftigen zu beitragsfinanzierten Sozialversicherungsleistungen.

Keine verpflichtende private Pflegezusatzversicherung

Positiv zu bewerten ist, dass der Gesetzentwurf keine verpflichtende private Pflegezusatzversicherung vorsieht. Damit bleibt es bei einer solidarischen paritätischen Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung. Diese tragenden Strukturprinzipien haben sich bewährt und sind auch in Zukunft bei einer Weiterentwicklung der Finanzierungsgrundsätze zu erhalten und zu stärken.

Mit dem vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung werden sinnvolle Schritte getan. Hier sind an erster Stelle die Leistungsverbesserungen für Menschen mit Demenzerkrankungen zu nennen. Ob damit allerdings eine „Neuausrichtung“ der Pflegeversicherung einhergeht, ist wohl eher fraglich. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, hätte man sich mehr Mut von der Politik gewünscht. Mehr Mut für eine langfristige Finanzierung, mehr Mut für eine verbindliche Vorgabe zur Umsetzung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs.

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