Krankenhausversorgung

Von der Fürsorge zur Hochleistungsmedizin

Grafik zur Rolle des Krankenhauses: Bild ist durch eine gestrichelte Linie geteilt, links: wie das Krankenhaus damals war: Haus mit dem Schild über dem Tor, auf dem steht  "Armenfürsorge" und Arme gehen durch das Tor, rechts: das gleiche Haus nur im moderner Krankenhausdarstellung mit Krankenwagen und Hubschrauber

Die Vorformen der heutigen gesetzlichen Krankenversicherung haben die Entwicklung der Krankenhäuser beeinflusst. Durch sie wandelte sich die Rolle des Krankenhauses von der Armenfürsorge hin zum Zentrum moderner Medizin und Wissenschaft, wie sich am Beispiel der Berliner Charité veranschaulichen lässt.

Die moderne Medizin ist eine Krankenhausmedizin. Das Krankenhaus bietet die bestmögliche Diagnostik, Therapie und Betreuung, diese wird ebendort in Lehre und Ausbildung vermittelt. Auch medizinische Wissenschaft ist heute ohne Krankenhaus nicht denkbar. Selbst die Behandlungsräume der niedergelassenen Ärzte gleichen im Hinblick auf die eingesetzten Geräte und Techniken einem Krankenhause en miniature. In und mit dem Krankenhaus manifestiert und identifiziert sich die moderne Medizin als Praxis und Wissenschaft.

Die Herausforderungen unserer heutigen Medizin lassen sich nur begreifen und beantworten, wenn man die Entwicklung jener Institution mit berücksichtigt, die es charakterisiert. Dies zieht zwangsläufig die Frage nach sich: Was ist das Krankenhaus eigentlich für eine Institution? Was sind die Leitideen, die der Herausbildung dieser Institution zugrunde liegen? Und wie kam es zum Aufstieg des Krankenhauses als zentraler Ort des medizinischen Handelns und Denkens? Solche Fragen lassen sich weniger in einer Bestandsaufnahme der aktuellen Situation in der Einrichtung X oder im Krankenhaus Y beantworten. Vielmehr zeigt sich das erst im geschichtlichen Rückblick jener Gemengelage aus sozialer Not, medizinischem Handlungsbedarf und politischer Gestaltung, die dem Krankenhaus seine heutige moderne institutionelle Gestalt gaben.

Entscheidende Rolle der Krankenkassen

Über die Geschichte des modernen Krankenhauses ist viel geschrieben worden. Gerne wird hierbei auf die Rolle der Medizin hingewiesen, die zur Verwissenschaftlichung der Einrichtung beitrug. Oft wird auch auf jene Ärzte hingewiesen, die sich als Gründer und Leiter solcher Einrichtungen verdient gemacht haben. Eine Institution wird bei dieser Betrachtung jedoch häufig vernachlässigt, der das moderne Krankenhaus Wesentliches verdankt: die Krankenversicherung.

Diese ist im Übrigen keine Erfindung Bismarcks, der 1883 die allgemeine Versicherungspflicht (mit vielen Ausnahmen) einführte. Vielmehr geht die Entstehung der Krankenkassen auf jene Jahrzehnte um 1800 zurück, als das Ancien Régime immer brüchiger wurde. Dabei entstanden, je nach Land und Region, zahlreiche unterschiedliche Modelle.

Am Beispiel eines Krankenhauses lässt sich die Rolle und Bedeutung der Krankenkassen besonders anschaulich nachvollziehen: Der Berliner Charité, die bereits im 18. Jahrhundert als das größte Krankenhaus Preußens galt, und heute zu den größten Krankenhäusern Europas zählt.

Armenfürsorge in der Charité

Hervorgegangen aus einem 1710 gegründeten Pestlazarett, diente die Charité wie viele Spitäler des 18. Jahrhunderts zunächst als Einrichtung der Armenfürsorge. Der überwiegende Teil der Klientel wurde ihr vom Königlichen Armen- Directorium überwiesen. Mehr als ein Drittel der Patienten war aus medizinal- oder sanitätspolizeilichen Gründen aufgenommen worden, das heißt weniger aus medizinischer als aus ordnungspolitischer Indikation. Die alte Charité diente damit als Sozial-Asyl: Sie war für die Versorgung von armen Alten und Gebrechlichen zuständig, hatte die ledigen Schwangeren zu beaufsichtigen, die aufgegriffenen Prostituierten zu behandeln oder wandernden Handwerksgesellen mit einer Krätz- Behandlung die Weiterreise zu ermöglichen. Dieser Aufgabenbereich fiel – ganz in der Tradition des „Ganzen Hauses“ – in die Verantwortung des „Hausherrn“ – und das war im Falle der preußischen Residenz der König. Nicht nur die medizinische Versorgung, auch die materielle Unterstützung der Ärmsten der Armen mit Brennholz und anderen Hilfen für den Lebensunterhalt zählte zu ihren Aufgaben.

Kommunalisierung der Fürsorge

1819 wurde die Armenverwaltung der Stadt Berlin überantwortet. Das stellte die Kommune vor große Probleme. Mit der Kommunalisierung der Stadtverwaltung wurde der Magistrat zwar in die Pflicht der traditionellen Fürsorge genommen, ohne jedoch dafür das notwendige Mittel zu erhalten. Denn der preußische Monarch hatte sich ausbedungen, dass die Charité der Ausbildung der angehenden Militärchirurgen vorbehalten bleiben müsse. Die Charité blieb daher ein „Königliches Haus“ und der Stadt die Nutzung der Einrichtung verwehrt.

Die Kommunalisierung der Armenfürsorge war eine Folge der preußischen Reformen. Mit diesem großen Reformpaket hatte eine Elite junger Verwaltungsbeamter den preußischen Staat einer harten Rosskur unterzogen, die den agrarischen Feudalstaat nach der verheerenden Niederlage gegen die französischen Revolutionstruppen für die neuen Herausforderungen fit machen sollte. Auch wenn manche der radikalen Vorschläge im Zuge der Umsetzung abgeschwächt wurden, so legten diese Reformen doch, darüber sind sich die Geschichtswissenschaften einig, die Grundlage für die bald einsetzende Industrialisierung Preußens.

Die Schattenseiten dieser Reformen bekamen die großen Kommunen wie Berlin zu spüren: Die Landreformen und neugewonnene Freizügigkeit setzten eine bis dahin nicht gekannte Binnenmigration in Gang. Aus dem umliegenden Brandenburg, aber auch aus Sachsen und Ostpreußen machten sich nun viele auf den Weg, um ihr Glück in der Stadt zu suchen. Bis Ende des 19. Jahrhunderts verdoppelte sich die Bevölkerungszahl Berlins etwa alle 25 Jahre. Man kann sich leicht ausmalen, welche Anforderungen und Belastungen damit auf die Stadt zukamen, die eine entsprechende Infrastruktur nicht nur ausbauen, sondern überhaupt erst aufbauen musste.

Vorformen der Krankenkassen

Gewerbefreiheit und die Abschaffung der Zünfte führten zur Auflösung der alten, teilweise bis ins Mittelalter zurückgehenden Versorgungsstrukturen der Handwerke. Diese beruhten in erster Linie auf Zunftkassen, die ein paar Betten im Krankenhaus bestritten zur Behandlung kranker Gesellen und Lehrlinge. Manche Zunftkassen wie beispielsweise in Berlin veranlassten die Aufnahme ihrer Mitglieder ins Krankenhaus und beglichen die anfallenden Kur- und Verpflegungskosten. Nun aber fielen Lehrlinge und Gesellen der Armenfürsorge zur Last, da eine akute Erkrankung meist auch mit dem Verlust der Arbeit und des Einkommens einherging.

Die Stadt Berlin förderte daher neue Formen einer sozialen Sicherung. Bereits vor Einführung der Versicherungspflicht der Handwerksgesellen (1850) und der männlichen Arbeiter (1853) etablierte sich so eine Vielzahl von Einrichtungen, die für die Kosten einer Behandlung in der Charité aufkam. Zu diesen Vorformen der späteren Betriebs-, Innungs- und Ersatzkassen zählten die Fabrikkassen der großen metallverarbeitenden Betriebe und Gewerbekassen und die freien Assoziationen, die sich im Umfeld der Arbeiterverbrüderung im Vormärz bildeten.

Vielfach wurden die Beiträge dieser Kassen nur durch Umlage erhoben. Selten zahlte der Arbeitgeber wie bei den Fabrikkassen (bis zu einem Drittel) zu. Auch das Leistungsspektrum war in keinem Falle mit dem heutiger Krankenkassen vergleichbar. Oft wurde nur alternativ Krankentagegeld oder Krankenhausbehandlung gezahlt. Die Bedeutung dieser frühen Krankenversicherung ist aber nicht zu unterschätzen. Denn die Patienten, die auf diesem Wege ins Krankenhaus kamen, unterschieden sich drastisch von der Klientel des alten Hospitals: Nicht alt und siech, sondern jung und akut krank. Sie wurden nicht von der Armenfürsorge in die Charité eingewiesen, sondern kamen, weil sie arbeitsunfähig waren. Diese Patienten erwarteten vom Krankenhaus eine rasche Besserung ihrer Beschwerden, da zu Hause der fehlende Arbeitslohn Frau und Kinder in Not brachte.

Entstehung des modernen Krankenhauses

Es war diese neue Patientenschaft, die das Krankenhaus zu einem bevorzugten, wenn nicht gar privilegierten Ort der medizinischen Neugier werden ließ. Die neue Klientel bot den Ärzten, wie es zeitgenössisch hieß, das „klinische Material“ ihrer Forschungen. Mit Auskultation und Perkussion, Fiebermessen, Urin-Chemie und Gewebe-Mikroskopie verwandelten sie akute Erkrankungen, Arbeitsunfälle und Verletzungen in festumrissene Krankheitsentitäten und entwickelten Versorgungsstrukturen auf höchstem medizinischem Niveau.

Die Entstehung des modernen Krankenhauses war somit eine Antwort auf die sozialen Herausforderungen, vor der die Gesellschaft mit der Auflösung der Ständeordnung und Binnenmigration, Gewerbefreiheit und Industrialisierung stand. Dabei wurde das Krankenhaus, wie man im Rückblick feststellen kann, als eine medizinische Behandlungseinrichtung für junge und akut erkrankte Menschen mit dem Ziel der raschen Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit eingerichtet. In Zukunft wird es darauf ankommen, die Krankenhausversorgung so zu gestalten, dass sie auch den aktuellen Herausforderungen unserer Gesellschaft gerecht wird.

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