100 Jahre vdek

Wechselvolle Geschichte

Foto zu 100 Jahre vdek: verschiedene Gegenstände wie ein Foto von Fürst Otto von Bismarck, die erste Verbandspublikation, Blutdruckmessgerät oder ein alter Fünfzig Mark Schein

Die vergangenen 100 Jahre waren eine Zeit der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Umbrüche. Auch für den Verband und seine Mitgliedskassen waren es spannende und bewegte, schwierige wie auch erfolgreiche Jahre. Ein Jahrhundert, das bis in die Zukunft wirkt.

Die Ersatzkassen bildeten sich ab Ende des 18. Jahrhunderts aus freiwilligen berufsbezogenen Zusammenschlüssen von Handwerksgesellen und Gehilfen heraus, die sich und ihre Familien gegenseitig bei Krankheit und Unglücken unterstützten. Im Zuge der Industriellen Revolution gründeten Gemeinden neben den freien Hilfskrankenkassen örtliche Zwangsunterstützungskassen. Dennoch waren nur rund fünf Prozent der Bevölkerung des Deutschen Reichs Mitglied einer Krankenkasse. Den Grundstein für eine staatliche Krankenversicherung legte die Kaiserliche Botschaft Wilhelms I., die Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck am 17. November 1881 zur Eröffnung des Deutschen Reichstags verlas. Damit sollte der drohenden Verelendung der Arbeiterschaft und der immer stärker werdenden Sozialdemokratie begegnet werden.

Mit dem „Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ führte der Reichstag am 15. Juni 1883 die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ein. Dabei blieben die freien Hilfskassen als Träger der Krankenversicherung erhalten, die aufgrund der freiwilligen Mitgliedschaft um jedes Mitglied werben mussten. Daher standen sie dem Gedanken des Wettbewerbs von Beginn an näher als die staatlichen Zwangskassen. Um attraktiv zu sein, bieten viele bessere Leistungen, wie etwa längere Laufzeit des Krankengeldes oder freie Arztwahl. Auch die Angestellten organisierten sich und bildeten eigene Hilfskassen für Angestellte. 1911 beschloss die Regierung mit der neuen Reichsversicherungsordnung eine wegweisende Reform der Krankenversicherung. Sie beschränkte die Rechte der freien Hilfskassen deutlich und stellte sie unter staatliche Aufsicht. Diese galten von nun an als „Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit“. Neugründungen waren nur noch unter bestimmten Bedingungen möglich.

Gründung des Verbandes

Jetzt war die Zeit gekommen, sich in einem Verband zu organisieren. Unter Hermann Hedrich, Vorsitzender der „Kranken- und Begräbniskasse des Verbandes deutscher Handlungsgehilfen“, gründete sich am 20. Mai 1912 in Eisenach der „Verband Kaufmännischer Eingeschriebener Hilfskassen (Ersatzkassen)“. Er wurde am 27. Oktober 1913 in „Verband kaufmännischer Ersatzkassen“ umbenannt. Bei seiner Geburtsstunde vertrat er 120.000 Mitglieder aus zehn Kassen. 1913 handelte er erste Tarifverträge mit Ärzten und Zahnärzten aus. Im Oktober 1916 erschien unter dem Titel „Die Ersatzkasse“ die erste Verbandspublikation, das heutige ersatzkasse magazin.

Während des Ersten Weltkriegs erließ die Regierung rund 200 sozialpolitische Notverordnungen, die das Sozialsystem vom Abgrund fernhalten sollten. Mit Erfolg, doch die Frage blieb: Welchen Platz haben die Ersatzkassen in dem neuen Krankenversicherungssystem? Die Ersatzkassen befürchteten eine „Vereinheitlichung“ des Krankenkassenwesens, der Verband intervenierte politisch, sodass 1919 die Ersatzkassen endlich den vollen Arbeitgeberanteil erhielten und nicht mehr nur den Vier-Fünftel-Anteil wie zuvor. In der Weimarer Republik konnten die Ersatzkassen ihre Marktstellung ausbauen. Ende 1922 gründete der Verband Bezirksausschüsse. Die Regierung beschloss die volle Anerkennung der Ersatzkassen als Träger der GKV. Damit war die Entscheidung für ein gegliedertes Krankenversicherungssystem endgültig gefallen.

Die GKV im Zweiten Weltkrieg

Was in den folgenden Jahren passierte, war auch für den Verband, die Ersatzkassen und die gesamte GKV ein unrühmliches und trauriges Kapitel in der Geschichte: die Zeit der Gleichschaltung und Menschenverachtung im NS-Regime. Durch das Führerprinzip wurde das Selbstverwaltungsprinzip der Krankenkassen abgeschafft. An die Stelle der Organe zur Selbstverwaltung traten staatliche Leiter. Im Verband übernahm im September 1933 Gauleiter Albert Forster die Verantwortung, der staatliche Zugriff auf die Krankenversicherung nahm immer mehr zu. Eine Verordnung verfügte die strikte Trennung in Ersatzkassen für Arbeiter und Ersatzkassen für Angestellte. In der Folge gab sich der Verband im Oktober 1936 den neuen Namen „Verband der Angestellten- Krankenkassen e. V. (VdAK)“. 1938 gründete sich der Verband freier Hilfskassen, der später in den AEV – Arbeiter-Ersatzkassen-Verband umbenannt wurde.

Gesundheitspolitik war in der NS-Zeit Bevölkerungs- und Kriegspolitik, und der Verband und seine Mitgliedskassen wurden zu Handlangern. So beschäftigten sich Kassen und Verband auch mit dem am 14. Juli 1933 verabschiedeten Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, auf dessen Grundlage 350.000 Zwangssterilisierungen von sogenannten „erbkranken“ Menschen erfolgten. 1938 schloss der VdAK mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung eine Verordnung zur „Ausschaltung der jüdischen Ärzte aus der Ersatzkassenpraxis“ ab. Damit wurden jüdische Ärzte vertraglich von der Zusammenarbeit mit den Ersatzkassen ausgeschlossen. „Nichtarische“ Mitarbeiter wurden entlassen und „Nichtarier“ nicht mehr krankenversichert. Das Grauen hatte endlich ein Ende, als Hitler- Deutschland am 8. Mai 1945 kapitulierte.

Nach Kriegsende erhielten die Ersatzkassen in der britischen, amerikanischen und französischen Besatzungszone ihr Recht zur Selbstverwaltung zurück; erste Wahlen für die Selbstverwaltungsorgane fanden zwei Jahre später statt. In der geteilten ehemaligen Reichshauptstadt Berlin wurden die Ersatzkassen erst wieder Ende 1957 zugelassen. In der DDR übernahm man die von den Sowjets nach Kriegsende eingeführte Einheitsversicherung, während im Westen ein vom Staat unabhängiges Sozialversicherungswesen eingeführt wurde.

Leistungsexpansion und Kostendämpfung

Zwischen 1970 und 1974 kam es zu Leistungsexpansionen. Durch das Lohnfortzahlungsgesetz erhielten auch die Arbeiter im Krankheitsfall bis zu sechs Wochen lang eine Lohnfortzahlung vom Arbeitgeber, Maßnahmen zur Vorsorge und Früherkennung sowie Rehabilitation gehörten zu Regelleistungen aller Krankenkassen; zudem konnten unbegrenzt stationäre Behandlungen in Anspruch genommen werden. Doch die erste Ölkrise brachte einen Paradigmenwechsel, die Regierung unter Kanzler Helmut Schmidt beschloss das erste Kostendämpfungsgesetz für die Krankenversicherung. Zeitgleich fand 1977 erstmals die „Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen“ statt, die Empfehlungen zur Ausgabenentwicklung geben und Vorschläge zur Effektivität und Effizienz erarbeiten sollte.

Im Zuge der Wiedervereinigung standen die Krankenkassen vor neuen Herausforderungen: Im Fokus stand der Aufbau der sozialen Krankenversicherung in den fünf neuen Bundesländern. Der VdAK kämpfte erfolgreich für das in den alten Bundesländern bewährte gegliederte System. Bereits im Sommer 1991 arbeiteten die Ersatzkassen daran, die Ersatzkassen in Ostdeutschland zu verankern. Der Export eines auf Selbstverwaltung basierenden Krankenversicherungswesens auf das Gebiet der DDR gelang innerhalb weniger Monate. Mit einem Wermutstropfen, denn Zeit zur sorgfältigen Prüfung, welche Strukturen des Gesundheitswesens der DDR zukunftsträchtig sein könnten, wurde nicht vorgenommen. Parallel dazu sollten bundesweit aktive Ersatz- und Betriebskrankenkassen regional organisiert werden. Der VdAK gründete regionale Vertretungen, die Landesvertretungen – die ersten entstanden 1990 in Hamburg und NRW.

1993 folgte das Gesundheitsstrukturgesetz, das die Ersatzkassen in drei Punkten besonders hart traf: die Einführung der Wahlfreiheit für alle Versicherten (der Sonderstatus der Ersatzkassen entfiel), der kassenartenübergreifende Risikostrukturausgleich (Einkommens- und Morbiditätsrisiken wurden ausgeglichen) sowie die Regionalisierung des Vertragsgeschäftes. Bei den Ersatzkassen wurden nun das Vertragsgeschäft regionalisiert und die Landesvertretungen personell „aufgerüstet“, da sie jetzt Verhandlungen mit den Kassenärztlichen Vereinigungen führen mussten. Zugleich wurde mit dem Pflegeversicherungsgesetz 1994 eine fünfte Säule der Sozialversicherung aufgebaut, organisatorisch angesiedelt bei der Krankenversicherung.

Wahlfreiheit und Risikostrukturausgleich veränderten die Kassenwelt. Unter dem Motto „Vom Payer zum Player“ übernahmen die Krankenkassen nun eine aktivere Rolle bei der Gestaltung der medizinischen Versorgung. 2007 führte die Große Koalition das Wettbewerbsstärkungsgesetz ein. Die Kassen konnten den Versicherten Sondertarife wie Selbstbehalte, Kostenerstattungen, Prämienzahlungen oder Zusatztarife anbieten. Zeitgleich aber verstärkte der Staat seinen Einfluss auf die Krankenkassen und beschloss eine fundamentale Organisationsreform. Ab 2009 wurden mit dem Gesundheitsfonds, der Erhebung eines einheitlichen Beitragssatzes und der Einführung eines Zusatzbeitrages die Gestaltungsmöglichkeiten der Selbstverwaltung stark eingeschränkt. Weitere Einschnitte vollzogen sich mit der Einführung des GKV-Spitzenverbandes zum 1. Januar 2009 und der Entkörperschaftlichung der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen.

Der Verband musste seine Rolle neu justieren. Neben der Interessenpolitik und dem Vertragsgeschäft auf Landesebene übernahm er verstärkt Service- und Dienstleistungsfunktionen im Auftrag seiner Mitgliedskassen und vermittelte die Interessen der Ersatzkassen im GKV-Spitzenverband. 2009 fusionierten der AEV und VdAK zu einem Verband, dem heutigen Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek), der im Juni 2009 seinen Dienstsitz von Siegburg nach Berlin verlegte.

Zuversichtlich in die Zukunft

Der Verband und seine Mitgliedskassen reagierten stets flexibel und erfolgreich auf neue gesellschaftliche Anforderungen. Sie nutzten die gesetzlichen Möglichkeiten – wie Spielräume im Vertragsbereich oder kassenartenübergreifende Fusionen –, um sich im Wettbewerb zu behaupten. Heute sind die Ersatzkassen mit mehr als 25 Millionen Versicherten Marktführer in der GKV. Dass dieses Krankenversicherungssystem trotz der extremen Krisen überlebt hat, ist vor allem den Grundwerten zu verdanken, auf denen es beruht: Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Pluralität und Selbstverwaltung. Wie in den letzten 100 Jahren muss es auch in Zukunft darum gehen, diese Grundwerte zu verteidigen, zu stärken und danach zu praktizieren.

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