Marktentwicklung

Medizinprodukte: Sicher in die Zukunft

Der Homunculus, der künstlich geschaffene Mensch, hier als Skulptur im Science Center Berlin

Der Markt für Medizinprodukte lebt von Innovationen. Beispielsweise ist eine moderne Armprothese wegen der enormen Komplexität des menschlichen Arms in ihrer Funktionalität noch immer eingeschränkt. Innovationen sollen schnell auf den Markt gelangen, ohne jedoch die Patientensicherheit zu gefährden.

Von A wie Augenpflaster bis Z wie Zahnersatz: Als Medizinprodukte werden alle Produkte mit einer physikalischen oder physikochemischen medizinischen Wirkung bezeichnet, die zur Therapie oder Diagnose von Erkrankungen eingesetzt werden. Entsprechend häufig kommt jeder Patient mit einem Medizinprodukt in Kontakt. Und entsprechend groß ist der Markt für Medizinprodukte.

Die Gesundheitsausgaben in Deutschland im Jahr 2009 betrugen für Medizinprodukte – ohne Investitionsgüter und Zahnersatz – rund 26 Milliarden Euro. Der mit Abstand größte Anteil der Ausgaben entfällt auf die gesetzliche Krankenversicherung (GKV), er liegt bei knapp zwei Dritteln. Im Jahr 2009 waren das 16,5 Milliarden Euro. Und der deutsche Markt wächst ständig, wie sich zum Beispiel an den Hilfsmitteln veranschaulichen lässt: Wurden im Jahr 1995 dafür 9,8 Milliarden Euro ausgegeben, lagen die Ausgaben im Jahr 2010 laut Statistischem Bundesamt bei 14,2 Milliarden Euro.

Dass ein Implantat andere technologische Herausforderungen und Patientenrisiken birgt als ein Pflaster, ist einleuchtend. Bei Medizinprodukten werden daher vier Risikoklassen unterschieden: geringes Risiko (I), mittleres Risiko (IIa), hohes Risiko (IIb) und sehr hohes Risiko (III). Die meisten der in Deutschland zugelassenen Produkte, etwa zwei Drittel, sind der Klasse I zuzuordnen, in die Hochrisikogruppe fallen etwa zwei Prozent.

In der öffentlichen Diskussion geht es meist um diese zwei Prozent, denn sie bedeuten für Patienten auf der einen Seite eine radikale Steigerung von Überlebenschancen und Lebensqualität, wenn man beispielsweise an einen Herzschrittmacher denkt. Auf der anderen Seite sind die Folgen der Fehlfunktion eines solchen Produkts gravierend.

Deutschland ausgezeichnet positioniert

Dabei gibt es bei der Herstellung einen großen Heimvorteil. Denn die deutschen medizintechnischen Unternehmen sind auf dem Weltmarkt ausgezeichnet positioniert. Sie vereinen zwei Disziplinen, bei denen sich Deutschland noch nie verstecken musste: die Medizin und die Ingenieurstechnik. Laut Bundesverband Medizintechnik (BVMed) bestreiten deutsche Unternehmen 14,6 Prozent des Welthandels und liegen damit auf dem zweiten Platz hinter den USA und vor Japan.

Im Jahr 2010 setzten die produzierenden deutschen Medizintechnikunternehmen 20 Milliarden Euro um, einen Großteil davon im Ausland bei einer Exportquote von 64 Prozent. Bei den Exporten sind die Wachstumsraten zweistellig. Während die wichtigsten Handelspartner zwar nach wie vor EU-Länder sind, werden die Märkte in Asien und Russland immer wichtiger.

Think global, act local

Viele Unternehmen sind in ihrem Bereich Weltmarktführer. So etwa Otto Bock in der Exoprothetik, also bei der Herstellung von orthopädischen Hilfsmitteln, die einzelne Gliedmaßen ersetzen. Die Firmengruppe mit Sitz in Duderstadt bei Göttingen und 64 Standorten weltweit hat vor einigen Jahren mit dem Science Center Berlin eine Firmenrepräsentanz der besonderen Art errichtet, in der eine Ausstellung über die Themen Bionik und Prothetik informiert. „Viele der hidden champions befinden sich in Süddeutschland und in Niedersachsen“, sagt die wissenschaftliche Koordinatorin des Science Centers, Alexandra Grossmann. „In den letzten drei Jahren ist der Trend zu sehen, dass viele dieser Spezialunternehmen, so wie auch Otto Bock, eine Hauptstadtrepräsentanz aufbauen oder sogar Teile des Unternehmens nach Berlin verlagern.“

Otto Bock begann 1919 mit der Herstellung von Prothesen. Die künstlichen Arme und Beine haben inzwischen nicht mehr viel mit klobigen Holz- und Metallteilen zu tun und können ganze Bewegungsabläufe nachahmen. „Der größte und wichtigste Schritt in der Geschichte der Prothetik war der Schritt von der mechanischen Prothese zur Prothese mit einem akkubetriebenen Motor im Inneren“, sagt Grossmann. „Denn die mechanischen Bewegungen sind oft sehr auffällig und sehen nicht natürlich aus. Otto Bock brachte 1961 die erste akkubetriebene Prothese auf den Markt.“ Patienten würden übrigens nicht unbedingt möglichst unauffällige Prothesen nachfragen. „Beliebt sind beispielsweise weiße Armprothesen, die zwar sofort zu erkennen sind, aber ein schönes Design haben. Das Design der Produkte spielt daher eine ganz wichtige Rolle.“

Jahrhundertelange Forschung

Die Geschichte der Prothetik geht bis auf die – vermutlich von Uhrmachern hergestellte – eiserne Hand des Götz von Berlichingen aus dem 16. Jahrhundert zurück. Sie zeigt, wie es mehrere Jahrhunderte dauern kann, um ein Medizinprodukt weiterzuentwickeln – und gleichzeitig immer noch am Anfang zu stehen. So müsste ein künstlicher Arm 22 Bewegungsgrade in allen Kombinationen imitieren können, um einen menschlichen Arm zu ersetzen. „Derzeit gelingt das jedoch erst bei sieben“, so Grossmann.

Innovationen sind also auf kaum einem Markt so wichtig wie bei hochtechnologisierten Medizinprodukten. Dabei sind nicht nur alteingesessene Weltmarktführer, sondern gerade auch neu gegründete Unternehmen Innovationstreiber. Ein Beispiel ist das Pforzheimer Unternehmen Acandis, ein Spinoff des Stentherstellers Admedes Schüssler. Mit dem von Acandis entwickelten Verfahren zur Akutbehandlung von Schlaganfallpatienten ist es möglich, auftretende Blutgerinnsel mechanisch aus dem Gehirn zu entfernen. Dabei wird ein Mikrokatheter von etwa 1,5 Meter Länge an der Leiste bis auf Schädelhöhe geführt.

„Wir wollen, dass der Patient sehr schnell wieder mobilisiert wird“, sagt Nils Rohm, Vertriebsdirektor von Acandis. Der minimalinvasive Eingriff habe eine deutlich höhere Erfolgsrate als die üblicherweise zur Anwendung kommende medikamentöse Akuttherapie des Schlaganfalls. Nach der Patentierung überzeugten die Entwickler führende Neuroradiologen von ihrem Verfahren und gründeten mit ihnen einen Expertenbeirat. Etwa zwei Jahre lang wurde das Verfahren aufwendig getestet, erst im Labor, später auch an Tieren. Im Jahr 2010 erfolgte die CE-Zertifizierung.

Innovation versus Patientensicherheit

Für die GKV als größten Abnehmer von Medizinprodukten in Deutschland ist es wünschenswert, dass Patienten schnellstmöglich von neuen Behandlungsverfahren und Produktverbesserungen profitieren. Doch Deutschland muss in Sachen Patientensicherheit besonders bei den Hochrisikoprodukten noch aufholen, wie die jüngsten Skandale zeigen.

Auch der BVMed spricht sich in seinem Branchenbericht für eine Stärkung der Patientensicherheit aus und schlägt eine Verbesserung der Meldepflicht von Produktvorfällen und die Ausweitung unangemeldeter Kontrollen vor. Dies schützt Menschenleben genauso wie den bedeutenden Wirtschaftszweig der Medizintechnik. Nur dann ist der Name Programm: Made in Germany. Und nur dann wird Deutschland auch in den kommenden Jahrzehnten am Weltmarkt ganz vorn dabei sein.

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