Reportage

Wenn Brustkrebs plötzlich das Leben bestimmt

Foto von Marion Elsner, aus Berlin-Pankow, zusammen mit ihrem Hund. Sie erkrankte mit 50 Jahren an Brustkrebs und hat ein Buch über Ihre Krankheit geschrieben.

Brustkrebs ist die mit Abstand häufigste Krebserkrankung bei Frauen in Deutschland. Jährlich erkranken nach Daten des Robert Koch-Instituts bundesweit rund 71.700 Frauen neu an Brustkrebs, über 17.000 Betroffene sind im Jahr 2008 daran gestorben. Je früher die Erkrankung erkannt wird, desto größer und schonender sind die Heilungschancen. Darauf setzt das Mammographie-Screening als Früherkennungsprogramm. Seit 2005 haben Frauen zwischen 50 und 69 Jahren die Möglichkeit, sich alle zwei Jahre auf Brustkrebs untersuchen zu lassen. Zu ihnen gehört Marion Elsner.

„Brustkrebs? Ich?“ Ein Gedanke, der Marion Elsner aus Berlin- Pankow vor dem 21. Juni 2009 nie in den Sinn gekommen ist. Sie fühlte sich fit und gesund, stand mitten im Leben, ernsthafte Erkrankungen passierten anderen. Als die Einladung zum Mammographie-Screening ins Haus flatterte, plante die damals 50-Jährige gerade ihre nächste Urlaubsreise. Entsprechend sorglos nahm sie den Termin zur Früherkennungsuntersuchung wahr, einer von vielen Terminen in ihrem Kalender.

Marion Elsner gehört zu den rund zehn Millionen Frauen bundesweit, die alle zwei Jahre Anspruch haben auf ein Mammographie- Screening, eine Reihen-Röntgenuntersuchung der Brust. Dieses Angebot steht in Deutschland seit 2005 zur Verfügung, die erste sogenannte Screening-Einheit ging in Nordrhein- Westfalen an den Start, Berlin nahm die Arbeit 2006 auf. Die Brustkrebssterblichkeit um 20 bis 30 Prozent in der Altersgruppe der 50- bis 69-Jährigen zu senken, ist das langfristige Ziel. Etwa 120 Frauen pro Tag suchen eine Screening-Einheit auf, das entspricht einer Teilnahme von etwa 54 Prozent. Im Einzugsbereich Berlin liegt die Teilnahmerate bei knapp über 50 Prozent.

Abzuklärender Befund

Auch Marion Elsner nahm teil und hatte das Mammographie-Screening schon fast wieder vergessen, bis sie ein paar Tage später an einem Sonntag, dem Geburtstag ihrer Mutter, den Umschlag der Screening-Einheit mit dem Untersuchungsergebnis in den Händen hielt. „Das war der Moment, in dem ich schlagartig ein mulmiges Gefühl bekam und spürte, dass sich mein Leben ändert, noch bevor ich den Brief geöffnet hatte“, erinnert sie sich, als wäre es gestern gewesen. Dabei hat der Brief an sich noch nichts zu sagen, über das Untersuchungsergebnis, ob positiv oder negativ, wird jede Frau informiert.

Zwei Ärzte hatten unabhängig voneinander bei Marion Elsner einen noch abzuklärenden Befund festgestellt. „Wir weisen die Frauen bereits während des Screenings darauf hin, dass möglicherweise eine nachfolgende Untersuchung nötig ist, dies aber zunächst noch nichts zu bedeuten hat“, sagt Dr. Lisa Regitz-Jedermann, Leiterin des Referenzzentrums Mammographie Berlin. In der Tat führten diese Zusatzaufnahmen am Ende in den meisten Fällen zu einer Entwarnung. „Aber es ist unsere Pflicht und unbedingt erforderlich, jedem noch so kleinen Verdacht nachzugehen.“ Die Ärztin weiß, dass sich die Betroffenen dennoch zwangsläufig Sorgen machen.

Kritiker des Screening-Programms sprechen an dieser Stelle von unnötiger Verunsicherung der Patientinnen. Sie sehen in den Verdachtsmomenten und falschen Befunden eine Belastung, die zu vermeiden sei, und stellen den Nutzen des Programms generell infrage. Für Lisa Regitz-Jedermann ist das kein hinreichendes Argument: „Es ist besser, auf Nummer sicher zu gehen und auch quälende Stunden der Ungewissheit in Kauf zu nehmen, wenn so das Risiko einer schweren Brustkrebserkrankung minimiert wird.“ Zudem lege man viel Wert darauf, eine nötige Abklärung so früh wie möglich nach der schriftlichen Benachrichtigung anzusetzen. Im Falle von Marion Elsner direkt am Montag. In der Nacht schlief sie kaum, brach immer wieder in Tränen aus, auch ihr Ehemann Lutz war völlig von der Rolle. Am nächsten Morgen lagen ihre Nerven blank. „Als ich dann den dunklen Fleck auf dem Monitor sah, war mir klar: Ich habe Krebs.“ Sie konnte den zwei Zentimeter großen Knoten auf ihrer linken Brust ertasten, es habe sich angefühlt wie eine heiße Herdplatte.

Anstieg der Entdeckungsrate

Bei acht von 1.000 der am Mammographie- Screening teilnehmenden Frauen bundesweit wird Brustkrebs (Mammakarzinom) diagnostiziert, auf den Berliner Raum bezogen trifft die Diagnose Brustkrebs auf etwas weniger als ein Prozent zu. „Die medizinische Versorgung der Frauen hat sich durch das qualitätsgesicherte Screening deutlich verbessert“, sagt Dr. Ute Kettritz, stellvertretende Leiterin des Referenzzentrums Mammographie Berlin. Sie verweist auf den aktuellen Evaluationsreport der Kooperationsgemeinschaft Mammographie, der einen Anstieg der Entdeckungsrate kleiner Tumore und Karzinome belege. Erwartungsgemäß hat die Einführung des Mammographie- Screenings selbst zunächst zu einem erheblichen Anstieg der Erkrankungsraten seit 2005 geführt. Dies deutet darauf hin, dass in der ersten Phase des Programms viele Tumoren deutlich früher entdeckt wurden als ohne Screening.

Das Mammakarzinom tritt wesentlich früher auf als die meisten anderen Krebsarten. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts erkrankt die Hälfte der betroffenen Frauen vor dem 65. Lebensjahr, jede zehnte ist bei Diagnosestellung jünger als 45 Jahre. Nicht zuletzt deswegen plädieren unter anderem Frauenärzte für eine Ausweitung des Früherkennungs- Programms auf jüngere und ältere Altersstufen. Sie bewerten die Grenzen von 50 und 69 Jahren als zu eng gestrickt.

Trotz der gestiegenen Erkrankungszahlen sterben heute weniger Frauen an Brustkrebs als noch vor 20 Jahren. Durch Fortschritte in der Therapie haben sich die Überlebenschancen deutlich verbessert. Ob das Mammographie-Screening die Brustkrebssterblichkeit weiter senken kann, wird je nach Region frühestens zwischen drei und sieben Jahren erkennbar sein.

Indes werden zugleich Zielgruppen erfasst, die anderweitig schwierig zu erreichen sind. „Gut ein Drittel der Frauen, die zu uns kommen, haben überhaupt keinen Frauenarzt“, sagt Kathyayani Nagaraju, MTA der Screening- Einheit Spandau/Reinickendorf/Mitte. Deshalb hängt am Eingang der Praxis eine Info- Tafel, die Adressen von Gynäkologen im Einzugsgebiet bereithält. Zudem würden einige Patientinnen Vorsorgemaßnahmen vergessen. Sie berichtet von einer Dame, die bereits zum vierten und ob ihres Alters letzten Mal zum Screening gekommen sei. „Ihre Sorge ist, jetzt wieder selbst Verantwortung für sich und die Früherkennung übernehmen zu müssen.“

"Anfangs fühlte ich mich völlig überfordert“, sagt sie. Müde, unkonzentriert, kaum belastbar, reizbar – Eigenschaften, die nicht ihrer Person vor der Erkrankung entsprachen. Dazu kam die Frage nach der Schuld. „Immer wieder überlegte ich, ob ich das alles selbst verursacht habe.“ Und dann war da die permanente Angst, die Krankheit könnte sie erneut einholen. Sie habe Panik geschoben, dass sie ihr Leben nicht wieder in den Griff bekommt. „Ich habe mir gewünscht, es gäbe eine Anleitung, die aufzeigt, wie sich ein Leben mit der Diagnose Brustkrebs führen lässt“, blickt sie zurück.

Kleiner Notfallkoffer

Marion Elsner vermisste einen Wegweiser, der sie durch das Meer medizinischer Fachbegriffe schifft. Einen Fahrplan, der die relevanten Stationen im Heilungsprozess aufzeigt. Einen Begleiter, der Antworten auf die Fragen hat, die sich ein Laie stellt. „Als Betroffener versteht man viele Dinge nicht, weil schon gleich am Anfang eine Art Jalousie im Kopf herunter geht, man hört nur das Wort Krebs“, sagt sie. Gleichzeitig sei es für das Umfeld schwer, sich in die Lage der Erkrankten hineinzuversetzen. Deshalb hat sie selbst einen Ratgeber verfasst: „Kleiner Notfallkoffer – dem Brustkrebs auf der Spur.“ Es ist ein Buch einer Betroffenen für Betroffene und ihre Angehörigen. Und es ist ein Stück eigene Lebensgeschichte.

Heute, etwa drei Jahre nach der schrecklichen Diagnose, hat Marion Elsner den Brustkrebs überwunden, zwei weitere Jahre fallen unter die sogenannte Heilungsbewährung. Sie ist sich bewusst, dass es zu Rückschlägen kommen könnte, zeigt sich realistisch und optimistisch und vor allem dankbar. „Ich möchte den Menschen mit meinem Buch etwas zurückgeben“, sagt sie.

Sie spricht von Glück, von einer neuen Chance: „Die Krankheit hat mich wachgerüttelt und zu einem vernünftigeren Leben erzogen.“ Früher habe sie immerzu funktioniert, als Mutter genauso wie als selbstständige Geschäftsfrau. Heute setzt sie sich Grenzen. Ernährt sich gesünder, treibt mehr Sport, nimmt sich Zeit. Am liebsten tollt sie mit ihrem Dänischen Bauernhund Harley herum. Harley weicht seit der schweren Zeit nicht mehr von ihrer Seite. Ein Hund sei schon immer ein Herzenswunsch von ihr gewesen, mit der Genesung erfüllte sie sich diesen Wunsch. „Heute frage ich mich, was mich glücklich macht, und lebe danach. Dinge aufschieben? Dafür ist das Leben zu schade“, sagt sie. Für Marion Elsner sind die letzten drei Jahre keine verlorene Zeit. Mit der Diagnose Brustkrebs nahm ihr Alltag eine Kehrtwendung, schlug eine Richtung ein, die sie nicht mehr ändern möchte. „Ich habe aus der Krankheit gelernt“, sagt sie. Zurück blickt sie heute selten. „Nur in manchen Momenten frage ich mich, was wäre, hätte ich das Mammographie-Screening ignoriert“, sagt sie, drückt die Hand ihres Mannes, lächelt und blickt einer hoffnungsvollen Zukunft entgegen.

Weitere Artikel aus ersatzkasse magazin. 9./10.2012