Bevölkerung

Volkskrankheiten: Mehr Prävention erforderlich

Grafik: Baum und Parkbank, darauf sitzen Männer, Frauen und Kinder mit Volkskrankheiten wie Übergewicht, Bluthochdruck, Rauchen und Trinken.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes, Depression: Volkskrankheiten stellen eine ernste Bedrohung für die Bevölkerung dar. Den Produktivitätsverlusten stehen oft enorme Therapiekosten gegenüber. Deutschland sollte seine erfolgreichen Präventionsmaßnahmen weiter ausbauen.

Der Begriff der Volkskrankheiten, auch Zivilisationskrankheiten genannt, umfasst Krankheiten, die aufgrund ihrer großen Verbreitung und wirtschaftlichen Auswirkungen von hoher gesellschaftspolitischer Bedeutung sind. Zu diesen Erkrankungen werden derzeit Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen, Diabetes mellitus und psychische Erkrankungen gerechnet. Zusammen haben sie im Jahr 2008 etwa 50,7 Prozent der gesamten Krankheitskosten in Deutschland verursacht. Das entspricht laut Statistischem Bundesamt insgesamt 129 Milliarden Euro.

Zu den Hauptrisikofaktoren für die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus und Krebsleiden gehören Übergewicht, Bewegungsmangel sowie erhöhter Alkohol- und Tabakkonsum. Psychische Leiden wie depressive Erkrankungen oder das Burn-out-Syndrom werden unter anderem mit zunehmender Deprivation in Teilen der Gesellschaft, mit der Spezialisierung und Beschleunigung der Arbeitswelt und mit einer eingeschränkten Work-Life-Balance in Zusammenhang gebracht.

Die globale Bedeutung der Volkskrankheiten wird durch die Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verdeutlicht: Im Jahr 2008 waren 63 Prozent aller weltweiten Todesfälle (insgesamt 36 Millionen) auf Volkskrankheiten zurückzuführen. In der WHO-Region Europa betrug der Anteil der Todesfälle sogar 85 Prozent.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen stellen weltweit sowie in der Europäischen Union die häufigste Todesursache dar, wie aus Berichten der WHO und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hervorgeht. Im Jahr 2008 waren sie weltweit für 48 Prozent aller Todesfälle (insgesamt 17 Millionen) verantwortlich. Für Deutschland findet sich in der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE) ein ähnlich hoher Wert von 42,2 Prozent (insgesamt 356.729 Todesfälle) für das Jahr 2008.

Zugleich stellen Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems eine enorme ökonomische Belastung dar. Im Jahr 2008 waren laut GBE Kosten von 36,9 Milliarden Euro (14,5 Prozent der gesamten Krankheitskosten) auf diese Volkskrankheit zurückzuführen. Bei dieser Summe sind indirekte Kosten (Produktivitätsverluste), beispielsweise durch verlorene Erwerbstätigkeitsjahre, noch nicht berücksichtigt. So wurden 2002 in Deutschland knapp ein Prozent aller durch Arbeitsunfähigkeit, Invalidität und vorzeitigen Tod bedingten, verlorenen Erwerbstätigkeitsjahre im Rahmen der Diagnose Herzinfarkt verursacht, was in der Summe etwa 48.000 verlorenen Erwerbstätigkeitsjahren entspricht.

Zwar ist die Inzidenz (Neuerkrankungsrate) der Herz-Kreislauf- Erkrankungen in Deutschland laut GBE rückläufig, jedoch prognostiziert das Kieler Beske-Institut für Gesundheits-System-Forschung aufgrund der demografischen Entwicklung und der unzureichenden Präventionsanstrengungen eine eindeutige Zunahme von Herz-Kreislauf- Erkrankungen von aktuell 313.000 Fällen pro Jahr auf 440.000 Fälle im Jahr 2030 und 548.000 Fälle im Jahr 2050. Dies entspricht einer Zunahme um 41 bzw. 75 Prozent.

Krebserkrankungen stellen nach Herz-Kreislauf- Erkrankungen die zweithäufigste Todesursache weltweit dar. Im Jahr 2008 verursachten sie weltweit rund 7,6 Millionen Todesfälle, wobei 1,7 Millionen auf Europa entfielen. Die Volkskrankheit Krebs verzeichnet dabei in den letzten Dekaden ebenfalls eine starke Zunahme der Inzidenz. Wie das Robert Koch-Institut (RKI) mitteilt, stiegen Krebserkrankungen in Deutschland zwischen 1980 und 2006 bei Frauen um 35 Prozent und bei Männern um 80 Prozent an. 2008 kam es zu insgesamt 500.000 Neuerkrankungen (243.900 Männer/215.100 Frauen).

Bei Frauen ist Brustkrebs mit rund 71.700 Neuerkrankungen pro Jahr die häufigste Krebsart, wohingegen bei Männern Prostatakrebs mit 63.400 Fällen am häufigsten erstdiagnostiziert wird. Aufgrund der fortschreitenden Alterung und des verstärkten Auftretens von Krebserkrankungen ab dem mittleren Lebensabschnitt wird mit einer weiteren Zunahme von Krebserkrankungen gerechnet. Gleichzeitig schätzt die WHO, dass sich die Anzahl der Todesfälle durch Krebserkrankungen bis 2030 verdoppelt und weltweit etwa 17 Millionen erreicht, wobei der Anteil in Europa bei drei Millionen liegen wird. Als einen Hauptgrund führt die WHO eine mangelhafte Investition in Krebsprävention, insbesondere in europäischen Ländern, an. Entsprechend berichtet die Europäische Kommission, dass in den meisten europäischen Ländern 97 Prozent der Gesundheitsausgaben für die Krebsbehandlung und weniger als drei Prozent für Präventionsmaßnahmen ausgegeben werden.

Diabetes mellitus kann aufgrund seiner Verbreitung in der Bevölkerung ebenfalls als Volkskrankheit bezeichnet werden. Da Diabetes weder meldepflichtig ist noch bundesweite Register vorhanden sind, wird bei der Schätzung der Prävalenz auf Daten aus Bevölkerungsbefragungen, Krankenkassen, Kliniken und Praxen zurückgegriffen. Diese Erhebungen zeigen, dass in Deutschland schätzungsweise zwischen vier Millionen (6,3 Prozent) und 6,5 Millionen Erwachsene (9,7 Prozent) an Diabetes erkrankt sind. Darüber hinaus war Diabetes im Jahr 2008 europaweit für 100.000 Todesfälle verantwortlich und ist im Falle einer unzureichenden Behandlung und Kontrolle der Erkrankung ein Risikofaktor für die Entwicklung von Komorbiditäten. Wie dem Gesundheitsbericht 2010 (Health at a Glance: Europe 2010) der OECD und der Europäischen Kommission zu entnehmen ist, sterben mindestens 50 Prozent aller Diabetiker an kardiovaskulären Erkrankungen und zehn bis 20 Prozent an Nierenversagen.

Der weit verbreitete Typ 2-Diabetes liefert ein Beispiel dafür, dass es möglich ist, der Entwicklung und dem Fortschreiten von Volkskrankheiten vorzubeugen. So konnten Interventionsstudien zeigen, dass bei Personen mit erhöhtem Diabetesrisiko durch eine Reduktion der Hauptrisikofaktoren wie Übergewicht, Adipositas und Bewegungsmangel mittelfristig der Ausbruch des Diabetes verhindert oder hinausgezögert werden konnte. Aus diesem Grund liegt ein Fokus in der Diabetesforschung derzeit darin, wie das Selbstmanagement der Betroffenen wirksamer unterstützt werden kann.

Bei den psychiatrischen Volkskrankheiten sind depressive Erkrankungen mit etwa fünf bis sechs Millionen Diagnosen unter den 18- bis 65-Jährigen in den letzten zwölf Monaten das epidemiologisch relevanteste Krankheitsbild. Frauen sind mit rund 14 Prozent in allen Altersgruppen ungefähr doppelt so häufig betroffen wie Männer mit acht Prozent und neigen verstärkt zu wiederkehrenden Depressionen. Depressive Erkrankungen verursachen hohe Ressourcenverluste: Die dadurch bedingten verlorenen Erwerbstätigkeitsjahre beziffert das Statistische Bundesamt für das Jahr 2006 auf 158.000 Jahre, die Krankheitskosten werden mit 5,7 Milliarden Euro für das Jahr 2008 angegeben.

Die Häufigkeit depressiver Erkrankungen sinkt mit der Höhe des sozioökonomischen Status und mit zunehmendem Alter. Kohortenstudien deuten darauf hin, dass jüngere Geburtskohorten (15. bis 30. Lebensjahr) früher und häufiger erkranken als ältere. Eine Ausnahme ist das Burn-out-Syndrom, an dem etwa 4,2 Prozent der Bevölkerung leiden. Hiervon sind verstärkt Personen mittleren Alters betroffen, wobei die Wahrscheinlichkeit zu erkranken mit zunehmendem sozioökonomischem Status ansteigt.

Die Relevanz psychischer Erkrankungen wird in Zukunft weiter zunehmen, sodass neben dem Einsatz evidenzbasierter Therapien auch niederschwellige Angebote wie Internet-Interventionen und Angebote der Verhältnisprävention für vulnerable Gruppen geschaffen werden sollten.

Gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Das Ausmaß und die Entwicklung der Volkskrankheiten stellen eine ernsthafte Bedrohung für die Gesundheit der Bevölkerung sowie für die Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems dar. Die Problematik der Volkskrankheiten zu lösen ist dabei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie erfordert laut den Vereinten Nationen (UN) globale Anstrengungen und multikausale Ansätze. Im Zentrum der Bestrebungen sollten laut WHO populationsorientierte und multisektorale Präventions- und Screeningmaßnahmen sowie die Steigerung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung liegen.

Hinsichtlich der Präventionsbestrebungen in Deutschland besteht ein geteiltes Bild. Laut Angaben der OECD betrug der Anteil öffentlicher Gesundheitsausgaben für Präventionsmaßnahmen im Jahr 2003 nur 4,8 Prozent. Auch konnte bisher trotz mehrerer Anläufe kein Präventionsgesetz auf den Weg gebracht werden, das die Finanzierung, Zuständigkeiten und Begrifflichkeiten der Prävention verbindlich regelt. Im Gegensatz dazu wurden jedoch strukturierte Behandlungsprogramme wie die Disease-Management- Programme (DMP) erfolgreich im Bereich der Indikationen Diabetes, Brustkrebs, chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) und koronare Herzkrankheit umgesetzt. Eine Erweiterung der Indikationen um depressive Erkrankungen wird derzeit vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) vorbereitet. Darüber hinaus konnten in einer Evaluationsstudie, die vom Kölner Institut für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie in Kooperation mit der BARMER GEK durchgeführt wurde, zahlreiche positive Effekte im Rahmen des DMP Diabetes Typ 2 nachgewiesen werden.

Zwar wird das Kostensenkungspotenzial von populationsorientierten Präventionsmaßnahmen als gering angesehen, jedoch kann Prävention auch dann als ökonomisch vorteilhaft bezeichnet werden, wenn sie kosteneffektiv ist oder ein positives Nutzen-Kosten-Verhältnis aufweist. Die Kosteneffektivität von Präventionsmaßnahmen konnte bereits in zahlreichen Studien belegt werden. Grundsätzlich sollte in der gesundheitspolitischen Diskussion jedoch nicht der Kostenaspekt, sondern der durch Prävention erzeugte gesundheitliche Nutzen im Vordergrund stehen.


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