Kosten-Nutzen-Bewertung

Eine Zauberformel gibt es nicht

Grafik: Mann in der Mitte mit mathematischen Zeichen über seinem Kopf schwebend, neben ihm jeweils Geldmünzenberge und Arzneimittelhäufchen

Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat seine erste Kosten-Nutzen-Bewertung für Arzneimittel vorgelegt. Die Machbarkeit ist damit bewiesen. Was aussteht, ist eine politische Diskussion: Soll diese Methode auf das deutsche Gesundheitswesen angewendet werden? Und rechtfertigt der Nutzen solcher Gutachten für die Versorgung den Aufwand?

Kosten-Nutzen-Bewertungen (KNB) haben im deutschen Gesundheitswesen bislang keine Rolle gespielt. Erst 2007 schuf der Gesetzgeber im Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) die rechtlichen Voraussetzungen dafür, dass das IQWiG bei Arzneimitteln den Nutzen für die Patienten in ein direktes Verhältnis zu den Kosten setzen konnte. Nachdem das IQWiG eine auf das deutsche System zugeschnittene wissenschaftliche Methode entwickelt hatte, erteilte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) 2009 den ersten Auftrag: Vier Wirkstoffe zur Behandlung von Depressionen sollten auf den Prüfstand.

Mitte November 2012 hat das Institut seinen vorläufigen Bericht vorgelegt. Er hat vor allem drei Ergebnisse. Erstens: Das Verhältnis zwischen dem Nutzen der vier Antidepressiva für die Patienten und dem Betrag, den die Kassen dafür erstatten, weist deutliche Unterschiede auf. Zweitens: Bei allen vier Wirkstoffen liegt der aktuelle Erstattungsbetrag über dem „angemessenen“ Preis. Und drittens: Die vom IQWiG gewählte Methode der „Effizienzgrenze“ funktioniert, KNB sind machbar. Bei dieser Methode werden alle relevanten Interventionen für ein und dasselbe Indikationsgebiet miteinander verglichen. Eine Therapie ist im Vergleich zu einer Alternative dann „effizient“, wenn sie entweder bei gleichen Kosten mehr Nutzen bietet oder bei gleichem Nutzen weniger kostet. Der Nutzen, bezogen auf einen sogenannten „patientenrelevanten Endpunkt“ wie etwa Lebensqualität, und die bei jedem Patienten anfallenden Kosten aller Therapien werden in ein Koordinatensystem eingetragen.

Koordinatensystem bildet Effizienzgrenze ab

Verbindet man die Koordinaten derjenigen Therapien, die gegenüber anderen „effizient“ sind, so erhält man eine Linie, die sich Effizienzgrenze nennt. Sie zeigt auf einen Blick, welche Therapien den meisten Nutzen stiften und wie stark Kosten gesenkt werden müssten, damit ein Wirkstoff, der jenseits dieser Grenzlinie liegt, einen „angemessenen“ Preis bekommt – sie lässt auch erkennen, welche Therapien einen geringeren Nutzen haben und aus der Versorgung genommen werden könnten.

Allerdings war es nicht möglich, für alle Wirkstoffe und Endpunkte eine vollständige KNB durchzuführen und „zusatznutzenbereinigte Preise“ abzuleiten. Das lag unter anderem an der dürren Datenlage: In Deutschland ist es schwierig, Krankenkassendaten zur Bestimmung der Kosten zu erhalten. Abrechnungsdaten erhielt das IQWiG von einer großen Ersatzkasse. Auch auf der Nutzenseite sind in der Regel nicht alle nötigen Informationen verfügbar. Im konkreten Fall hatten die Studien eine Laufzeit von gerade einmal acht Wochen. Das entspricht nicht der Versorgungsrealität, schon gar nicht bei Depressionen. Und acht Wochen sind auch nicht der Zeithorizont, für den die Selbstverwaltung Entscheidungen über die Erstattung von Medikamenten trifft.

Wo Daten fehlen, müssen Gesundheitsökonomen mit Annahmen arbeiten. Sie müssen hochrechnen, schätzen und modellieren. Je weniger belastbare, aus Studien oder Krankenkassen-Abrechnungen gewonnene Daten in die Modelle eingespeist werden, desto größer ist die Unsicherheit der Ergebnisse. Das schlägt sich auch in den Zahlen nieder: So liefern die Wissenschaftler keinen konkreten zusatznutzenbereinigten Erstattungspreis, sondern einen „Korridor“. Beispielsweise liegt dieser Korridor beim Endpunkt Remission (weitgehende Symptomfreiheit) für eines der vier Antidepressiva zwischen 22,94 Euro und 69,66 Euro. Für andere Endpunkte ist dieser Korridor größer oder kleiner. Die Ergebnisse für die verschiedenen Endpunkte zu einer Gesamtaussage zusammenzufassen war nicht möglich, weil es noch kein international konsentiertes Verfahren gibt, um verschiedene Nutzen- und Schadensaspekte zu gewichten.

Rechtslage hat sich geändert

Unmittelbar entscheidungsrelevant sind die Ergebnisse dieser KNB nicht – weder für die Arzneimittelpreise noch für die generelle Erstattung. Denn seit Erteilung des Auftrags hat sich die Rechtslage geändert. Ursprünglich sollten die Ergebnisse Grundlage für die Entscheidung sein, einen „Höchstbetrag“ für Arzneimittel festzulegen. Dies war Aufgabe des GKV-Spitzenverbandes. Seit dem AMNOG ist eine KNB nur noch für den Fall vorgesehen, dass nach der regelhaften frühen Nutzenbewertung Preisverhandlungen scheitern und auch der Schiedsspruch angezweifelt wird. Dann können Hersteller oder der GKV-Spitzenverband eine KNB beantragen.

Der Bericht kann Herstellern und Kassen einen Eindruck vermitteln, was sie in einem solchen Fall von einer KNB erwarten dürfen. Dringend nötig wäre jetzt außerdem eine eher politische Diskussion darüber, ob man Entscheidungen auf der Basis von Kosten-Nutzen-Relationen treffen will und welchen Stellenwert solche Bewertungen in Entscheidungsprozessen haben sollen.

Denn eine seriöse, wissenschaftlichen Kriterien genügende KNB liefert nicht eine „magische Zahl“, der angemessene Preis lässt sich nicht einfach errechnen. Weitere Erwägungen oder Verhandlungen müssen folgen, dafür kann die KNB einen „Korridor“ benennen. Auch für Erstattungsentscheidungen der Selbstverwaltung kann sie Orientierung bieten. Eine KNB kann also ein wichtiger Baustein für Entscheidungen sein, und dank der im Zuge des ersten Auftrags gesammelten Erfahrungen würden weitere Bewertungen sicher nicht mehr so viele Jahre dauern. Sie können aber nicht das alleinige Instrument zur Steuerung des Gesundheitssystems werden. Weitere medizinische, ethische und soziale Aspekte müssen einbezogen und abgewogen werden, wie es auch in anderen Ländern üblich ist. Mit einer Gleichung allein löst man keine Versorgungsprobleme.

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