Interview mit Martin Schulz

"Die EU setzt Standards - und das hat sich bewährt"

Portrait von Martin Schulz, SPD-Europaabgeordnete, im Interview mit ersatzkasse magazin.

Europa gewinnt gesundheitspolitisch immer mehr an Bedeutung. Urteile des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) und Entscheidungen des Europäischen Parlaments (EP) beeinflussen die nationale Gesetzgebung, den gesundheitspolitischen Alltag sowie das leistungsrechtliche Geschehen in Deutschland. An der Spitze des EU-Parlaments steht seit Januar 2012 der SPD-Europaabgeordnete Martin Schulz. Im Interview mit ersatzkasse magazin. spricht er über den Einfluss der Europäischen Union (EU) auf die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme in den Mitgliedstaaten. Wie viel Europa kann unser Sozialsystem verkraften?

Herr Schulz, im Dezember letzten Jahres durften Sie als Präsident des EU-Parlaments den Friedensnobelpreis für die EU entgegennehmen. Was bedeutet diese Auszeichnung für Europa und die damit verbundene Idee einer grenzübergreifenden Zusammenarbeit?

Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union ist eine große Ehre. Die Auszeichnung ist Anerkennung und Ansporn zugleich, mit aller Kraft weiter dafür zu arbeiten, die schwerste Krise der europäischen Einigung zu bewältigen. Europa, diese beispiellose historische Erfolgsgeschichte, ist in Gefahr. Denn leider werden die historischen Errungenschaften der EU allzu oft als selbstverständlich hingenommen. Doch irreversibel ist weder die europäische Integration noch der durch sie geschaffene Frieden und Wohlstand. Ein Zurück in den angeblich so sicheren Schoß des Nationalstaates kann es nicht geben. Wenn wir nicht zusammenhalten, wenn wir uns in unsere Einzelteile zerlegen, dann driften wir in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit ab und büßen unsere Handlungsfähigkeit und Demokratie ein.

Diese Zusammenarbeit hat auch ihre Hürden, wie aktuell das Beispiel Großbritannien zeigt, das von einem deutlichen Rückzug von der EU spricht. Droht die Gefahr, dass sich Länder zunehmend von der EU in ihrem Handeln und ihren Entscheidungen eingeschränkt fühlen?

David Cameron geht es darum, den rechten, europafeindlichen Flügel seiner Partei zu bedienen. Seine Rede und sein Vorgehen zielen weniger auf Europa als auf seine schwierige innerparteiliche Situation. Ich bezweifle aber, dass er die Geister, die er rief, wieder zurück in die Flasche bekommt. Außerdem kann ich nicht verstehen, wie ein Premierminister ein besonderes demokratisches Vorgehen für sich reklamiert, seinem Volk aber sagt, erst wählt Ihr mich wieder, dann lass ich Euch über die EU abstimmen. Er hat nicht das Referendum im Auge, sondern die nächsten Wahlen. Die Idee von Europa, nämlich dass Staaten und Völker über Grenzen hinweg gemeinsame Institutionen schaffen, um gemeinsame Probleme gemeinsam zu lösen, ist glaube ich unbestritten. Allerdings ¬ und das ist ein grundlegendes Problem ¬ verbinden immer weniger Menschen diese Idee mit der EU. Deshalb müssen wir die EU reformieren und demokratisieren.

Noch liegt die Organisation und Bereitstellung der Gesundheitsversorgung in der Verantwortung des einzelnen Mitgliedstaates; die EU unterstützt im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips, d. h. sie greift nur dann in das gesundheitspolitische Geschehen ein, wenn die betreffenden Angelegenheiten nicht auf einzelstaatlicher Ebene gelöst werden können. Man hat jedoch zunehmend den Eindruck, dass dieses Prinzip untergraben wird, zum Beispiel mit Blick auf die Vorrangigkeit von Wettbewerb und Binnenmarkt. Wie ist Ihr Eindruck?

Die EU wird in der Tat nur ergänzend im Bereich der Gesundheitspolitik politisch aktiv, die Organisation und Bereitstellung der Gesundheitsversorgung werden auch ¬ Sie haben die Subsidiarität zu Recht angesprochen ¬ weiterhin bei den Mitgliedstaaten liegen. Insofern teile ich die Befürchtungen nicht, die EU würde an Stelle der Mitgliedstaaten handeln. Auch habe ich nicht den Eindruck, dass die EU aus ideologischen Gründen Wettbewerb und Binnenmarkt den Vorrang gibt. Wenn wir auf europäischer Ebene politisch aktiv wurden oder werden, dann etwa in den Bereichen Gesundheitsschutz, Patientenrechte oder vereinfachte Verfahren. Eine Vorrangigkeit von Wettbewerb sehe ich nicht.

Es werden Bestrebungen der EU deutlich, die Sozialsysteme der einzelnen Mitgliedstaaten zu vereinheitlichen. Das deutsche Solidarsystem hat sich bewährt, dient vielen Länder als Vorbild. Besteht nicht die Gefahr, dass durch Vereinheitlichung das Niveau der gesundheitlichen Versorgung in Deutschland geschwächt wird?

Gefahr droht dem deutschen Sozialsystem oder der gesundheitlichen Versorgung sicher nicht von der EU, sondern eher aus Deutschland selbst, wenn aus politisch-ideologischen Gründen Leistungen gestrichen oder zurückgefahren werden. Was die EU zu Recht vorantreibt, ist das Setzen von einheitlichen Standards und Mindeststandards, die dann selbstverständlich von den Mitgliedstaaten überboten werden können. Das geschieht schon heute in vielen Politikbereichen und hat sich bewährt.

Derzeit berät das Europäische Parlament über einen Vorschlag für eine neue EU-Medizinprodukte- Verordnung. Die Sozialversicherungsträger fordern, die Zulassung von Hochrisikomedizinprodukten zu zentralisieren sowie unabhängige Studien zur Produktsicherheit und eine obligatorische Haftpflichtversicherung für die Produkthersteller. Wie stehen Sie zu diesen Forderungen?

Derzeit setzen sich unsere Experten des Gesundheitsausschusses intensiv mit der Verordnung auseinander. Bitte haben Sie daher Verständnis dafür, dass ich mich zu laufenden Gesetzgebungsverfahren nicht äußern möchte bzw. den Verhandlungen nicht vorgreifen kann. Nur so viel: Ich bin fest davon überzeugt, dass für das Europäische Parlament die Sicherheit der Patienten der zentrale Aspekt sein wird.

Stichwort Fachkräftemangel: Lässt sich durch eine stärkere Vereinheitlichung von Ausbildungen und Abschlüssen europaweit der Bedarf an Fachkräften beispielsweise in der Pflege auffangen? In der Akademisierung der Pflege beispielsweise hat man sich ja vor Kurzem auf einen Kompromiss geeinigt.

Die Europäische Union strebt keine Harmonisierung der Ausbildungsinhalte oder der Ausbildungssysteme an und kann diese auch nicht herbeiführen. Im europäischen Binnenmarkt ist es allerdings gewünscht und auch ökonomisch sinnvoll, dass Arbeitnehmer mobil sind und die Möglichkeit haben, dort eine Arbeitsstelle zu suchen und anzunehmen, wo Bedarf ist. Das heißt natürlich, dass Berufsqualifikationen gegenseitig anerkannt werden müssen. Und genau hier ist die EU in vielen Politikbereichen seit Jahren aktiv.

Die EU plant, künftig Gesundheitsdienstleistungen wie die ärztliche Behandlung und die Krankenhausbehandlung der Umsatzsteuerpflicht zu unterwerfen. Dies würde allein für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) zu einer Mehrbelastung von etwa 26 Milliarden Euro führen, in der Pflege von etwa drei Milliarden Euro. Wie rechtfertigt die EU dieses drohende Finanzrisiko?

Die EU-Kommission hat vor Kurzem eine Mitteilung zur Zukunft der Mehrwertsteuer zu einem einfacheren, robusteren und effizienteren Mehrwertsteuersystem vorgelegt. Hierin formuliert sie Ideen und Überlegungen, mehr nicht. Jetzt ist es zunächst einmal an allen Interessierten, sich zu äußern und sich in den Diskussionsprozess einzubringen. Erst am Ende eines solchen Konsultationsprozesses steht dann unter Umständen ein Gesetzesvorschlag, der dann vom Europäischen Parlament beraten, gegebenenfalls geändert und verabschiedet werden müsste. Bislang liegt ein solcher nicht auf dem Tisch. Insofern sind viele der Befürchtungen, die in Deutschland geäußert werden, nicht begründet.

Im Europäischen Parlament werden die Interessen der Bürger vertreten, aber Institutionen wie diese erscheinen vielen Menschen oft als „eurokratisch“ und fern ihrer eigenen Lebenswelt. Wie lässt sich der Einfluss transparenter machen?

Ist Europapolitik wirklich so weit weg ? Ich glaube nicht. Was mit dem Euro passiert, ist eine entscheidende Frage für uns alle. Außerdem sind die Nachrichten voll davon, was in Griechenland, Spanien oder Portugal passiert. Warum? Weil es uns alle in Europa betrifft. Die Menschen beginnen sich immer mehr dafür zu interessieren, wie hoch die Staatsverschuldung in unseren Nachbarländern ist, wann in anderen Ländern in Rente gegangen wird, wie hoch die Jugendarbeitslosigkeit ist und wie Wahlen in anderen Mitgliedstaaten ausgehen. Das Beispiel Italien macht das ganz deutlich. Die Menschen verstehen, dass all diese Fragen auch Auswirkungen auf ihr eigenes Leben haben ! Auch den Vorwurf der Intransparenz oder dass wir „eurokratisch“ seien, höre ich immer wieder. Im Europäischen Parlament verabschieden gewählte Abgeordnete Gesetze, genau wie es der deutsche Bundestag oder das britische Unterhaus tun. Allerdings deutlich transparenter. Kein anderes Parlament auf dieser Welt arbeitet so offen und transparent wie das Europäische Parlament. Wo sonst können Sie den Werdegang eines Gesetzes von Beginn bis Ende komplett nachverfolgen, alle Dokumente einsehen, jede Sitzung live im Internet ansehen? Allerdings klafft leider eine große Lücke zwischen der Kompetenz und Macht des Europäischen Parlaments und dessen Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Und mein Ziel als Präsident ist es, diese Lücke zu verkleinern, auch indem ich das Europäische Parlament noch mehr zu dem Ort der europäischen Debatte mache, an dem über politische Alternativen gestritten wird.

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