
Freudibold, Zornibold, Bibberbold oder Heulibold? Bei Papilio setzen sich Kindergartenkinder mit der eigenen Gefühlswelt auseinander.
Drei Präventionsprojekte aus unterschiedlichen Lebenswelten – dem Kindergarten, der Schule und dem Betrieb – zeigen eindrucksvoll, welche Chancen strategische Präventionsmaßnahmen bieten, die fest in bestehende Strukturen eingebunden sind. Menschen werden so gestärkt, selbst auf ihre Gesundheit zu achten.
In der Regenbogen-Gruppe des Evangelischen Kindertagesheims „Zu den zwölf Aposteln“ ist heute – wie jeden Mittwoch – der Spielzeug- macht-Ferien-Tag. Die Spielsachen liegen unter Tüchern, der Schrank mit Spielen ist verhangen. Erzieherin Maren Westphal holt den Marvin Burschi aus seiner Kiste. Marvin Burschi, die große Puppe mit der hellgrünen Zipfelmütze, begrüßt die Kinder und will wissen, wie es ihnen geht. Fühlen sie sich traurig wie ein Heulibold, fröhlich wie ein Freudibold, wütend wie ein Zornibold oder ängstlich wie ein Bibberbold? Marvin Burschi setzt sich reihum jedem Kind auf den Schoß und lässt es sich erzählen. Anschließend hängt jedes Kind sein Foto zu jenem der vier Koboldgesichter an der Wand, das seiner Stimmung entspricht.
Ein Junge erzählt, dass er traurig ist, weil er sich gestern mit seiner Mutter gestritten hat. Ein Mädchen ist glücklich, weil es am Nachmittag mit der Familie zum Picknick geht. „Ich bin sauer auf Papas Arbeit!“, ruft ein anderes Mädchen. „Er fährt immer so weit weg nach Würzburg, und dann sehe ich ihn lange nicht.“ „Und dann vermisst du ihn, nicht wahr?“ fragt Westphal. Das Mädchen nickt, während es sein Bild zu Zornibold hängt.
Der Spielzeug-macht-Ferien-Tag und der Stuhlkreis mit den Kobolden sind Teil des Präventionsprogramms Papilio, das vom Verein Papilio e. V. in Augsburg im Jahr 2002 entwickelt wurde. Es will die Kinder in ihrer psychosozialen Entwicklung unterstützen: sie stark machen, ihre Lebenskompetenz und das emotionale Wohlergehen fördern. Das Programm zeigt Wege auf, mit Gefühlen angemessen umzugehen, Freundschaften zu schließen sowie Krisen und Konflikte erfolgreich zu bewältigen. So soll psychischen Erkrankungen, Suchtmittelmissbrauch und Gewalt vorgebeugt werden. Weiterer Bestandteil des Programms ist das spielerische Erlernen sozialer Regeln im sogenannten Meins-deinsdeins-unser-Spiel.
Papilio kommt derzeit in elf Bundesländern zum Einsatz. Über ein Multiplikatorensystem werden Trainer ausgebildet, die wiederum Erzieher in einer achttägigen Fortbildung schulen. 2.015 geschulte Erzieher in 1.026 Kitas erreichen über 100.000 Kinder.
In Hamburg fördert die BARMER GEK seit 2006 gemeinsam mit Lotto Hamburg und der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration mit Unterstützung der Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen das Programm Papilio. Irene Ehmke ist Referentin für Suchtprävention mit Kindern und Familien im Büro für Suchtprävention der Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen und koordiniert Papilio für den Hamburger Raum. „Wenn man Sucht vermeiden will, geht es um eine frühe Förderung: Kinder so zu stärken, dass sie weniger gefährdet sind“, erklärt sie. „Der Kern bei Papilio sind die Maßnahmen für Drei- bis Sechsjährige. Es ist gleichzeitig als Mehrebenenprogramm für Kinder, Erzieher und Eltern ausgelegt.“ Das sei vor allem deshalb so wichtig, weil es bei Übergangssituationen helfe. „Übergänge gehören zum Leben, etwa von der Familie in die Kita, von der Kita in die Schule. Sie sind krisenhaft und die Psyche muss einen Umgang damit erlernen.“
Papilio wird beständig weiterentwickelt. Vor Kurzem dazugekommen sind Module, um die Eltern stärker einzubeziehen. Außerdem soll für den Krippenbereich ein Modul entwickelt werden.
Was bewirken die Maßnahmen bei den teilnehmenden Kindern? „Wenn die Kinder in unseren letzten Jahrgang, die Schulkindgruppe, kommen, reden sie ganz anders miteinander und lösen Probleme anders“, erzählt Westphal aus ihren Beobachtungen.
Susanna Müller ist Heimleiterin der „12 Apostel“ und Papilio-Trainerin. Sie überzeugte bei dem Programm, dass Kinder lernen, so sein zu dürfen wie sie sind mit ihren Gefühlen. „Wie oft sind Kinder zornig, und dann heißt es, sei jetzt ruhig. Aber die Gefühle sind ja da. Als Erwachsene können wir das Kind zwar mit seinen Gefühlen verstehen, wenn wir uns bemühen. Papilio hingegen befähigt das Kind durch seinen partizipativen Ansatz, den Umgang mit den Gefühlen selbst in die Hand zu nehmen.“
Diese Vermittlung sozial-emotionaler Kompetenzen durch einen spielerischen Umgang ist für die BARMER GEK Anlass gewesen, das Programm in ihre Förderung mit aufzunehmen. „Einzelpräventionsmaßnahmen wie zum Beispiel Raucherentwöhnung erreichen bestimmte Personen, die an dem Thema interessiert sind. Aber da, wo Prävention besonders notwendig ist, brauchen wir einen Setting-Ansatz“, sagt Richard Baldauf, Regionalgeschäftsführer der BARMER GEK Hamburg. „Gut finde ich, dass Papilio losgelöst ist von gesundheitlichen Problemen, die schon da sind. Vielmehr konnten wir hier ein Programm mit Zukunftsausrichtung installieren.“
Als Setting-Ansatz wird bezeichnet, wenn Primärpräventionsmaßnahmen fest in den Alltag integriert werden. Die Idee dahinter: Wenn Gesundheitsförderung in den Lebenswelten, also den Settings, der Menschen verankert ist, können Interventionen ihre höchste Wirksamkeit entfalten. Laut Präventionsbericht 2012 des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS) investierten die gesetzlichen Krankenkassen im Berichtsjahr 2011 rund 23 Millionen Euro in die Gesundheitsförderung in Settings. Die Krankenkassen haben sich an 22.000 Setting-Maßnahmen beteiligt und konnten so 2,4 Millionen Menschen direkt erreichen. 44 Prozent der Maßnahmen entfielen auf den Kita-Bereich.
Ein weiteres wichtiges Setting für die Primärprävention ist die Schule. Hier attestiert der Präventionsbericht 2012 den Kassen seit 2007 eine Verdopplung der Maßnahmen; allerdings spricht er die Empfehlung aus, künftig einen stärkeren Fokus auf Haupt-, Förder- und Berufsschulen zu legen, die bisher im Vergleich zu den anderen Schularten noch zu kurz kommen.
Ein erfolgreiches schulisches Präventionsprojekt aus der Ersatzkassenwelt ist „Mobbingfreie Schule – gemeinsam Klasse sein !“, das die Techniker Krankenkasse (TK) gemeinsam mit der Hamburger Beratungsstelle Gewaltprävention entwickelte. 2007 wurde es in Hamburger Schulen erprobt und kommt mittlerweile in Kooperation mit der jeweiligen Schulbehörde in mehreren Bundesländern zum Einsatz. Die TK übernimmt die Kosten für Multiplikatorenschulungen und den „Anti- Mobbing-Koffer“, der mit Materialien zur Durchführung von Schülerprojekttagen und mit Informationen für Eltern bestückt ist. Die TK hat seit 2007 rund 13.000 Anti-Mobbing- Koffer verteilt.
Das Immanuel-Kant-Gymnasium in Berlin- Lichtenberg gehört zu den 90 teilnehmenden Berliner Schulen. Maud Stegemann ist hier Lehrerin für Biologie und Sport und Projektleiterin des Anti-Mobbing-Programms, das hier im Rahmen eines Projekttages stattfindet. „Das Ziel unseres Aktionstages ist, am Ende Klassenregeln aufzustellen“, erklärt Stegemann. „Durch die verschiedenen Übungen sollen die Schüler reflektieren: Wie wollen wir uns verhalten, dass abgesehen von normalen Kabbeleien nichts ‚Schlimmeres’ passiert ?“
Jeweils vier Betreuer erarbeiten am Projekttag mit einer Gruppe von ca. 15 Schülern durch verschiedene Spiele bestimmte Themen. Am nächsten Tag reflektieren die Schüler den Aktionstag und gestalten ihre Klassenregeln. Das Besondere an der Lichtenberger Schule ist, dass die Übungen nicht von Lehrern angeleitet werden, sondern von Schülerpaten. Das sind Schüler der 9. bis 11. Stufe, die Schüler der 5. und 7. Stufe durch verschiedene Aktionen unterstützen. Etwa durch die Organisation von Freizeitaktivitäten und jahrgangsübergreifenden Projekten wie den Aktionstag zum Thema Mobbing.
Eine der Übungen heißt Duo-Bild, diese führte die 16-jährige Emma aus der 10. Klasse mit ihrer Gruppe durch: „Zwei Schüler müssen zusammen verschiedene Motive malen, mit nur einem Stift, den beide halten. Da muss man sich auf den anderen verlassen, auch wenn man ihn vielleicht nicht so mag.“ Es gehe bei dieser Übung auch darum, sich zu integrieren, „sowohl mal führen lassen, als auch mal selber die Führung übernehmen“, sagt der 17-jährige Tom aus der 11. Klasse.
Sarah (13) und Jenny (12) aus der 7. Klasse erzählen, dass sie am Aktionstag vor allem geübt haben, als Klasse zusammenzuhalten und sich gegenseitig zu vertrauen. Rebekka (12) ergänzt: „Es wurde uns durch die Übungen deutlich gemacht, dass wir bis zur 12. Klasse eine Klassengemeinschaft sein werden, in der jeder gebraucht wird.“
Bei Berufstätigen müssen Präventionsmaßnahmen in besonderem Maße konkreten Bedürfnissen und Problemen begegnen: Was mache ich, wenn ich über- oder unterfordert bin? Welche Strategien gibt es, wenn ich merke, etwas läuft nicht gut? Die Balance zwischen Eigen- und Fremdverantwortung muss gefunden werden. Das Arbeitsplatzprogramm Stressprävention der DAK-Gesundheit ist beispielhaft für eine solche Maßnahme. Es wurde seit 2009 in 19 Unternehmen umgesetzt. Insgesamt haben bisher ca. 1.050 Mitarbeiter teilgenommen. Bei der Burda Direkt Services GmbH im badischen Offenburg war man begeistert von der Möglichkeit, 2009 das Programm in seiner Pilotphase durchführen zu können. Aufgrund der guten Ansprache der Mitarbeiter kommt es bis heute zum Einsatz. In Schulungen, Einzeltrainings und Reflektionsrunden sollen die Mitarbeiter sensibilisiert werden für ihre persönlichen Belastungsfaktoren im Berufsalltag und entwickeln Lösungsstrategien zur Stressbewältigung.
Für ein Unternehmen wie Burda Direkt ein wichtiges Themenfeld. Ca. 70 Mitarbeiter betreuen die Telefonhotlines verschiedener Zeitschriftenverlage. „Die Ansprüche an unsere Telefonisten steigen stetig“, sagt Christine Pohl, die Leiterin des Customer Service. „Einerseits spielen Themen wie Verbraucherschutz eine immer größere Rolle, die in den Medien sehr präsent sind, und mit denen unsere Mitarbeiter im Kundengespräch konfrontiert werden. Andererseits waren wir früher ein reiner Kundenabwickler. Heute müssen unsere Telefonisten den Spagat zwischen Kundenbetreuung und Verkauf hinkriegen.“
Die großzügigen, hellen Büros bei Burda Direkt sehen nicht aus wie das klassische Callcenter, es gibt keine beengenden Schallschutzwände. Vier Damen, die hier arbeiten, sind Anja Kusterer, 43, Miriam Panny, 29, Marion Grub, 50, und Sandra Haenßler, 33. Auf die Frage, wann es bei ihnen am stressigsten wird, antworten sie wie aus einem Mund: „Erstverkaufstag.“ Am Tag, an dem die Zeitschriften erscheinen, würden die Leitungen heißlaufen, wenn die Abonnenten aus irgendwelchen Gründen die aktuelle Ausgabe nicht pünktlich im Briefkasten haben. Und dann gibt es noch die Stoßzeiten. Eine schnelle Auffassungsgabe, nicht nur bei den Kundenwünschen, sondern auch in technischer Hinsicht, ist eine weitere tägliche Herausforderung.
Was hat das Arbeitsplatzprogramm Stressprävention der DAK-Gesundheit den Telefonistinnen gebracht ? „Am wichtigsten finde ich die Sensibilisierung für die Stressoren“, sagt Grub. „Und wir haben konkrete Strategien gelernt, wenn Stress aufkommt. Minipausen zum Beispiel können Wunder wirken. Ich schaue mir manchmal einfach nur einen Moment lang ein schönes Bild an, und schon bin ich wieder etwas ruhiger.“
„Gut finde ich, dass man seine Selbstverantwortung reflektiert und viel für die Selbstmotivation lernt“, meint Kusterer. Diesbezüglich seien gerade die Einzelcoachings hilfreich. „Den Mut haben, darüber zu sprechen, wenn mich etwas stört, und auf mich selbst zu achten – das hat mir übrigens auch schon privat geholfen“, erzählt Haenßler.
Ein Ergebnis des Arbeitsplatzprogramms sind die „Stressschmetterlinge“. An einer Wand prangt ein riesiger Papierbaum, an dem motivierende Sprüche stehen. Und statt der üblichen Telefonkritzeleien, zu denen Menschen neigen – was in einem Callcenter entsprechend gehäuft vorkommt – malen die Telefonisten Vorlagen von Schmetterlingen aus, die dann versehen mit einem Spruch auf dem Baum landen. Je voller der Baum, desto höher das momentane Stresslevel – für alle ein gut sichtbarer Indikator.
Maßnahmen wie das Arbeitsplatzprogramm Stressprävention könnten natürlich nur in einem gewissen Rahmen etwas bewirken, sagt Pohl. „Wir können unsere Mitarbeiter situationsabhängig begleiten, die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers hat ihre Grenzen. Die Antizipation und das Schaffen einer Routine im Umgang mit Stressoren, das obliegt den Mitarbeitern selbst.“
Kindergarten, Schule, Betrieb – die hier aufgeführten Beispiele verdeutlichen, dass Menschen mit dem Setting-Ansatz erreicht werden können und sich auch nachhaltig bei ihnen etwas verändern lässt. Und dass solche Programme die Menschen stärken, selbst etwas zu verändern, Achtsamkeit sich selbst und ihrer Umwelt gegenüber zu entwickeln. Am meisten haben sie am Ende selbst davon, nämlich ein gesünderes Leben.