Patientenschutz

Personalisierte Medizin: Scheininnovationen vermeiden

Grafik: sechs Personen stehen und diskutieren, über den Menschen sind Sprech- und Denkblasen dargestellt

Nutzen und potenzieller Schaden von Produkten und Methoden der personalisierten Medizin (PM) müssen aus Kassensicht vor Markteinführung verlässlich dargelegt werden. Patientenschutz und die Vermeidung von Scheininnovationen stehen an erster Stelle.

Personalisierte Medizin (PM) ist international fast zu einem Synonym für die Medizin der Zukunft geworden. Dazu, was PM eigentlich genau ist, kursieren die verschiedensten Begriffe, beispielsweise molekulare Medizin, genomische Medizin oder stratifizierte Medizin. Ein gemeinsam von Wissenschaft, Industrie, Politik und gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) akzeptiertes und getragenes Verständnis existiert noch nicht. Die personale Seite des Menschen findet ‑ anders als der Begriff suggeriert ‑ gerade keine Berücksichtigung. Vielmehr betrachtet diese Forschungsrichtung biologische Parameter (Biomarker) als Differenzierungsmerkmal. Letztlich geht es um eine stratifizierende Medizin. Auch der Bundestagsausschuss für Technikfolgenabschätzung hat sich dafür ausgesprochen, diesen Begriff zu verwenden, und in der internationalen Literatur wird zunehmend der Begriff „stratified medicine“ bzw. „stratifizierende Medizin“ benutzt. Dabei ist PM kein neues Paradigma in der Medizin. Schon immer hat die Medizin versucht, Besonderheiten eines Patienten bei der Diagnostik und der Behandlung zu beachten. Beispielsweise werden Alter, Geschlecht, allgemeiner Gesundheitszustand und Familiengeschichte erfasst und individuell berücksichtigt. Mit der PM werden zusätzlich genetische, molekulare und zelluläre Besonderheiten identifiziert und bei der Diagnostik und Therapie berücksichtigt.

Entwicklungen kritisch begleiten

Diese Sprachverwirrung aufzuheben ist wichtig. Doch noch viel wichtiger aus GKV-Sicht ist, sich mit den Inhalten der PM – vor allem zum Nutzen und zum potenziellen Schaden für die Patienten - auseinanderzusetzen. Für die GKV stellt sich bei der PM die Aufgabe, die Entwicklungen kritisch zu begleiten, damit innovative Produkte und Methoden sich auch künftig an den Gesundheitsbedürfnissen der Bevölkerung ausrichten und den Patienten einen zusätzlichen Nutzen bringen.

Zunächst sind weitere grundlagenwissenschaftliche Untersuchungen notwendig, um die genetische Vielfalt und die komplexen biologischen Mechanismen bei Volkserkrankungen – zum Beispiel bei Krebs oder Diabetes ¬ detaillierter aufzuschlüsseln und zu verstehen. Derzeit stehen Krebserkrankungen im Fokus der Produktentwicklung aus der Industrie. Dabei wurden einzelne Substanzen entwickelt, die für die Patienten einen relevanten therapeutischen Nutzen in Bezug auf das Überleben und die Lebensqualität gebracht haben. Es gibt durchaus positive Entwicklungen auf dem Gebiet der PM. In erster Linie entscheidend ist, dass der Patient von den Anwendungen der PM einen Nutzen hat. In der Gesamtbetrachtung allerdings spielt die PM im klinischen Alltag bisher bei Weitem nicht die Rolle, wie man dies in der Anfangseuphorie vor wenigen Jahren vorhergesagt hat. Es lässt sich derzeit nicht seriös beurteilen, ob die großen Hoffnungen, die von mancher Seite in die PM gelegt werden, wirklich berechtigt sind.

Gerade weil sich das Potenzial der PM bislang noch schwer abschätzen lässt, ist es wichtig, dass Nutzen und potenzieller Schaden von Produkten und Methoden der PM vor Markteinführung verlässlich dargelegt werden. Dies dient dem Patientenschutz vor unzureichend getesteten Innovationen bzw. Scheininnovationen. Der teilweise geführten Diskussion, dass Nutzenbewertungen bei diagnostischen Methoden und bei Therapien der PM mit den Instrumenten der evidenzbasierten Medizin (EbM) schwer bzw. nicht möglich sind, wird nicht gefolgt. Denn die erfolgreichen Arzneimittel der PM wurden im Rahmen von klinischen Studien nach den Regeln der EbM identifiziert und etabliert.

Da PM die Behandlung von Patientenuntergruppen im Visier hat, ist es entscheidend, dass für Biomarker und Therapeutika „passende“ Studiendesigns angewendet und methodisch weiterentwickelt werden. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass Behandlungsaufwand und -kosten steigen, sobald Biomarker und personalisierte Therapiekonzepte ins Spiel kommen. Allerdings muss vor einer Kosten-Nutzen-Diskussion eine sichere Nutzenbewertung erfolgen. Der Kostenaspekt darf uns nicht daran hindern, den Studienaufwand nach den Kriterien der EbM weiterhin zu betreiben.

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