Pflegeversicherung

Grundlegende Reform der Pflegeversicherung kann kommen

Illustration: Fünf Menschen diskutieren an einem Tisch mit der Aufschrift Expertenbeirat über den Pflegebedürftigkeitsbegriff.

Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr bekam Ende Juni den Abschlussbericht des Pflegebeirats überreicht. Dieser Bericht könnte Grundlage für die größte Reform seit Einführung der Pflegeversicherung 1995 sein. Davon profitieren würden vor allem Menschen mit psychischen und kognitiven Erkrankungen. Allerdings wird sich erst nach der Bundestagswahl zeigen, was die Politik umsetzt.

Seit jeher wird der Pflegebedürftigkeitsbegriff des SGB XI kritisiert, weil er zu sehr auf körperliche Einschränkungen konzentriert ist. Damit blendet das Leistungsrecht der Pflegeversicherung wesentliche Aspekte aus wie die Kommunikation und die soziale Teilhabe bei Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz (PEA). Insbesondere die wachsende Zahl demenziell Erkrankter führt zu Unterstützungsdefiziten bei der Versorgung, die aus der eingeschränkten Definition resultieren.

Derzeit sind 1,2 Millionen Menschen in Deutschland von Demenz betroffen. Bis 2060 wird sich die Zahl laut Prognosen verdoppeln. Die Versorgung von Menschen mit Demenz gilt als sehr zeitaufwendig. Sie sind zwar häufig körperlich in der Lage, ihre Selbstversorgung in den relevanten Lebensbereichen Körperpflege, Ernährung und Mobilität selbst sicherzustellen, brauchen dabei aber Anleitung und Kontrolle. Außerdem benötigen sie Unterstützung bei der sinnvollen Tagesgestaltung, „emotionalen Beistand“ (etwa durch Anwesenheit einer Bezugsperson) und Beaufsichtigung (zum Beispiel um Eigen- und Fremdgefährdung zu vermeiden). Mit fortschreitendem Krankheitsverlauf nimmt die Fähigkeit zur selbstständigen Lebensführung ab und der Pflegebedarf steigt. Viele Demenzkranke fallen bei der bisherigen Begutachtung durchs Raster, obwohl sie Dauerbetreuung bräuchten. Besonders in der häuslichen Versorgung wird der tatsächliche Aufwand für die Pflege selten richtig abgebildet.

Partielle Leistungsverbesserungen für PEA wurden Anfang 2013 durch das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (PNG) eingeführt unter Ankündigung der nun erwarteten Pflegereform. Die zusätzlichen Leistungen haben bestehende Gerechtigkeitslücken verringert – insbesondere für kognitiv oder psychisch beeinträchtigte Menschen –, heben diese aber nicht auf. Denn dafür ist ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff vonnöten, der auch der Entwicklung eines damit korrespondierenden Begutachtungsinstruments bedarf.

Gesundheitsminister Daniel Bahr berief im März 2012 einen Expertenbeirat zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs ein, der auf den Ansätzen des zwischen 2006 und 2009 eingesetzten Beirats aufbauen sollte. Bisher nicht hinreichend konkretisierte fachliche, administrative und rechtstechnische Fragen, vor allem im Bereich des Leistungsrechts, sollten unter folgenden Aspekten bearbeitet werden: Die ambulant-häusliche Versorgung hat Vorrang (1), das Teilleistungsprinzip bleibt zentrales Element der Pflegeversicherung (2), kein heute bereits Pflegebedürftiger soll anschließend schlechter gestellt werden (3) und finanzielle „Verschiebebahnhöfe“ zwischen den Sozialleistungssystemen sind zu vermeiden (4). Der nun überreichte Abschlussbericht des Expertenbeirats klärt verschiedene Detailfragen zu Begutachtungsinstrument, Überleitungsregelungen und Bestandsschutz. Ein realistischer Zeitplan für die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs wurde erarbeitet. Im Bereich des Leistungsrechts gibt es keine konkreten Empfehlungen, sondern verschiedene Rechenbeispiele, um exemplarisch die Wirkungsmechanismen verschiedener Leistungshöhen aufzuzeigen.

Das vom Pflegebeirat entwickelte neue Begutachtungsassessment (NBA) vermeidet die Engführung auf Hilfebedarfe bei den Alltagsverrichtungen, die für das heutige Verfahren und die geltenden Vorschriften des SGB XI charakteristisch ist. Der Maßstab zur Einschätzung der Pflegebedürftigkeit des NBA ist nicht mehr zeitlicher Pflegeaufwand und Häufigkeit von Hilfeleistungen im Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlicher Verrichtungen, sondern der Grad der Selbstständigkeit von Aktivitäten oder der Gestaltung von Lebensbereichen. Pflegebedürftige würden zukünftig anhand des jeweiligen Schweregrades ihrer Beeinträchtigung in fünf Pflegegrade (ohne Härtefallregelung) eingestuft statt bisher in drei Pflegestufen. Neben der Grundversorgung und der hauswirtschaftlichen Versorgung sollen Betreuungsleistungen umfassend Gegenstand der Pflegeversicherung werden, das heißt auch für ausschließlich somatisch eingeschränkt Pflegebedürftige. Der Expertenbeirat empfiehlt eine unbürokratische, formale Überleitung zu einem Stichtag, ohne dass eine Neubegutachtung notwendig ist, und favorisiert die Variante, in der ein „doppelter Stufensprung“ für PEA vorgesehen ist. Der Bestandsschutz stellt sicher, dass bisherige Leistungsbezieher sich nicht schlechter stellen.

Unter den Beiratsmitgliedern gab es unterschiedliche Meinungen über die zu erwartenden Kosten. So sprach der Paritätische Wohlfahrtsverband von bis zu sechs Milliarden Euro, die Arbeitgeber hingegen favorisieren eine kostenneutrale Umsetzung. Sicher ist: Leistungsverbesserungen bzw. die Leistungseinbeziehung von etwa 200.000 bisher nicht erfassten Pflegebedürftigen (vorwiegend Demenzerkrankte) kosten Geld. Eine kostenneutrale Variante käme einer reinen Umverteilung mit zahlreichen Verlierern gleich und ist damit sozialpolitisch wohl kaum tragfähig.

Empirisch lässt sich zwar belegen, dass der Gesamtaufwand für Pflege und Betreuung mit zunehmendem Pflegegrad steigt, doch die Zuordnung von konkreten Leistungen zu den Pflegegraden ist nicht möglich, da pflegewissenschaftliche Standards zur objektiven Bedarfsermittlung für die pflegerische Versorgung eines Menschen fehlen. Die Politik muss daher entscheiden, welches Finanzvolumen für die Umsetzung zur Verfügung stehen soll. Die beispielhaften Berechnungen des Berichts zeigen, dass die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs in jedem Szenario zu Mehrausgaben in der Pflegeversicherung führen wird.

Die zügige Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs sollte für die neue Bundesregierung höchste Priorität haben. Nach Einschätzung des Expertenbeirates dauert es 18 Monate ab In-Kraft-Treten eines entsprechenden Gesetzes, bis alle nötigen Schritte wie die Anpassung von Verträgen, Erarbeitung von Begutachtungs-Richtlinien, eventuelle Neuverhandlung der Pflegesätze oder die Schulung der Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung umgesetzt sind. Für den Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) ist eine maßvolle Beitragssatzerhöhung in der Pflegeversicherung bei Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs vorstellbar. Derzeit liegt der Beitrag bei 2,05 Prozent, für Kinderlose bei 2,3 Prozent. Mehrausgaben von einer Milliarde Euro entsprechen ungefähr 0,1 Prozentpunkten. Dass Leistungsverbesserungen nicht zum Nulltarif zu haben sind, erschließt sich wohl jedem.

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