Geriatrie

Ein junges Fach für alte Menschen

Illustration: Ein älterer Herr steht mit einem Krückstock in der rechten Hand und einem Infusionsständer an der linken Hand. Im Hintergrund eine Ärztin.

2013 war das Jahr der „demografischen Chance“ – so der Titel des Wissenschaftsjahres, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ausgerufen wurde. Die Geriatrie ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Standbein, um das Mehr an Lebensjahren auch in möglichst langer Gesundheit zu verbringen.

Der demografische Wandel ist mitten in unserer Gesellschaft angekommen. Vom Fachkräftemangel über den Pflegenotstand bis hin zum „Methusalem-Komplott“ ist das Thema Altern aber häufig noch immer mit negativen Stereotypen aufgeladen. Insofern ist die Initiative des BMBF sehr zu begrüßen, die Chancen des demografischen Wandels hervorzuheben. Denn zunächst einmal ist es ein Grund zur Freude, dass heute immer mehr Menschen bis ins hohe Alter ein großes Maß an Lebensqualität und Selbstständigkeit behalten. Das ist nicht zuletzt dem medizinischen Fortschritt und intensiver Forschung zu verdanken. Gleichzeitig gibt es aber auch noch einiges an Verbesserungsbedarf, gerade was die sektorenübergreifende Versorgung älterer Menschen betrifft.

Insbesondere der Übergang von der stationären in die ambulante Versorgung funktioniert noch nicht zufriedenstellend. Wenn Patienten mehrere Wochen oder teils sogar Monate auf einen Termin beim Facharzt warten müssen und nötige Medikamente und Therapien aufgrund von Budgetbeschränkungen nicht verordnet werden können, dann ist der Fortschritt, der in der stationären Behandlung erzielt wurde, oftmals schnell wieder verflogen.

Die Regel der Hälften

Um dieses Problem anzugehen, sollte aus unserer Sicht an mehreren Stellen angesetzt werden. Zum einen ist es dringend nötig, niedergelassene Ärzte intensiv mit wichtigen Themen der Altersmedizin vertraut zu machen. Ein gutes Beispiel dafür ist der hohe Blutdruck: In Deutschland gibt es rund 16 Millionen Menschen, die unter Bluthochdruck leiden – diagnostiziert ist der arterielle Hypertonus aber nur bei rund der Hälfte dieser Menschen. Von diesen acht Millionen Menschen ist aber wiederum nur etwa die Hälfte in Behandlung. Nur wiederum die Hälfte davon, also zwei Millionen, haben einen Blutdruck, der gemäß den Leitlinien richtig eingestellt ist. In Fachkreisen heißt diese Situation „die Regel der Hälften“. Aus Sicht der Geriatrie ist das ein dramatischer Zustand, denn Bluthochdruck gehört zu den Hauptrisikofaktoren für zahlreiche Erkrankungen im Alter und steht in Zusammenhang mit vielen Herzinfarkten und Schlaganfällen, aber auch mit Demenzerkrankungen.

Neben dem hohen Blutdruck sind aber auch weitere Risikofaktoren, wie ein erhöhter Blutzucker oder ein gestörter Fettstoffwechsel, häufig nicht erkannt oder nicht richtig behandelt. Vor diesem Hintergrund ist die Initiative der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) äußerst begrüßenswert, auf bundesweiter Ebene eine Facharztweiterbildung für Innere Medizin und Geriatrie einzuführen, ebenso wie die Tatsache, dass Geriatrie als eines der „jüngsten“ Fächer vor wenigen Jahren in das Curriculum des Medizinstudiums aufgenommen wurde.

Patienten in die Verantwortung nehmen

Gleichzeitig reicht es nicht, allein auf die ärztliche Kunst zu setzen, um den Herausforderungen des demografischen Wandels zu begegnen. Stattdessen muss die Krankheitsvermeidung, also Prävention noch stärker in den Blickpunkt rücken. Präventive Bonus-Programme stellen aus unserer Sicht sehr geeignete Instrumente für Krankenkassen dar, um die Eigenverantwortung von Patienten zu stärken und das Bewusstsein für den Wert der eigenen Gesundheit zu schärfen. Viele Krankenkassen greifen schon heute auf entsprechende Programme zurück, um beispielsweise die regelmäßige Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen zu belohnen. Auch hier gibt es noch Verbesserungspotenzial – so gilt es sicherzustellen, dass die entsprechenden Programme nicht nur Menschen erreichen, die ohnehin schon gesundheitsbewusst leben, sondern dass die Maßnahmen auch unabhängig von Bildungsgrad und sozialer Schicht Wirkung zeigen.

Die Diskussion über gesetzliche Reglementierungen wird in Deutschland oft sehr emotional geführt, darf aber deswegen nicht unter den Tisch fallen. So haben bereits viele Länder weitreichende Einschränkungen für die Verwendung von trans-Fettsäuren eingeführt, da von diesen gehärteten Fetten Gesundheitsrisiken ausgehen können. Ein weiteres Beispiel ist der Salzkonsum – ein zu hoher Salzkonsum kann Bluthochdruck weiter steigern. Finnland hat zu diesem Thema eine große Aufklärungskampagne gestartet, mit dem Erfolg, dass innerhalb von 30 Jahren der Salzkonsum um rund ein Drittel zurückging. Gleichzeitig sank auch der durchschnittliche Blutdruck und die Zahl von Schlaganfällen und Herzinfarkten ging zurück.

Technische Unterstützung

Wichtig wird es in Zukunft sein, die verbesserten technischen Möglichkeiten in die Versorgungskette mit einzubeziehen. So gibt es im Bereich Telemedizin und unterstützende Alltagselektronik (Ambient Assisted Living, AAL) eine Reihe vielversprechender Forschungsergebnisse, die aber bislang nur selten in der Regelversorgung landen. Zwar hat die Bundesregierung mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz eine Förderung von Telemedizin im ambulanten Bereich beschlossen, die Details zur Umsetzung dieses Gesetzes sind bislang aber noch nicht ausgearbeitet. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Krankenkassen haben sich daher vor Kurzem darauf geeinigt, die Finanzierung der Telemedizin mit einer EBM (Einheitlicher Bewertungsmaßstab)-Ziffer zu versehen, um eine regelhafte Finanzierung zu ermöglichen.

Eines der dringendsten Themen aus Sicht der Geriatrie ist die Vermeidung von Stürzen im häuslichen Umfeld – die Folgen von schweren Stürzen sind für Betroffene häufig dramatisch und enden nicht selten mit der Pflegebedürftigkeit. Forschungsprojekte wie „SmartSenior“, das 2012 abgeschlossen wurde, haben gezeigt, dass technische Assistenzsysteme mittlerweile bei einer Vielzahl von Alltagssituationen unterstützend eingreifen können.

Gesellschaftliche Verantwortung

Die Geriatrie kann dabei helfen, die Selbständigkeit von Menschen so lange wie möglich zu erhalten. Um die gewonnenen Lebensjahre aber auch mit einer entsprechenden Lebensqualität zu füllen, ist weiter eine gesamtgesellschaftliche Diskussion nötig, damit der demografische Wandel tatsächlich als Chance begriffen wird.

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