Reportage

Schritt für Schritt nach Hause

Chefarzt Prof. Dr. Ralf-Joachim Schulz, geriatrische Station im St.Marien- Hospital in Köln in Gesprächssituation
Chefarzt Prof. Dr. Ralf-Joachim Schulz, geriatrische Station im St.Marien- Hospital in Köln. © vdek/Jo Schwartz

Die gesundheitliche Versorgung älterer Menschen erfordert besondere Diagnostik und Therapie. Die Herausforderung für geriatrische Kliniken besteht darin, sich auf die spezielle Krankheitssituation ihrer Patienten einzustellen, von der Multimorbidität bis zur individuellen sozialen Situation. Dabei steht im Fokus der Behandlung, die Selbstständigkeit im Alltag wiederherzustellen und damit Perspektiven und Lebensqualität im Alter zu entwickeln.

Eigenständig aus dem Bett steigen. Alleine einkaufen gehen. Selbst kochen. Scheinbar triviale Dinge der Alltagsroutine, und doch sind sie für geriatrische Patienten die größte Herausforderung. Johannes Piepereit spazierte am Decksteiner Weiher entlang, bei schönstem Wetter und bester Laune, und stürzte. Ein schwerer Knochenbruch am rechten Kniegelenk war die Folge. Seitdem liegt der 87Jährige auf der Geriatrischen Station des St. Marien-Hospitals in Köln und versucht, wieder auf die Beine zu kommen. Mit dem Rollator macht er Gehübungen auf dem Gang, richtet sich kerzengerade auf, dies strengt ihn ungemein an. „Nur, von nichts kommt nichts“, sagt er. Gerade in geriatrischen Fachabteilungen geht es darum, die Mobilität wiederzugewinnen. Und dass der Patient seine Angst davor verliert, erneut zu stürzen. Denn diese Angst führt schnell in einen Teufelskreis weiterer gesundheitlicher Probleme. Piepereit will nicht Langstreckenläufer werden. Er möchte einfach nur wieder fit werden. Nach Hause zu seiner Frau, zurück in sein gewohntes Umfeld. Möglichst selbstständig sein.

Genau das steht im Mittelpunkt der geriatrischen Versorgung: Selbstständigkeit wiederzuerlangen und zu erhalten und damit auch die Pflegebedürftigkeit nach einer schweren Erkrankung zu vermeiden. Prof. Dr. Ralf-Joachim Schulz, Chefarzt der Geriatrischen Klinik am St. Marien-Hospital und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie, spricht von zwei entscheidenden Zielen. „Zum einen geht es um die altersgerechte medizinische Behandlung einer akutgeriatrischen Erkrankung, zum anderen um die schnelle Mobilisierung des Patienten.“ Zu den typischen Erkrankungen in der Akutgeriatrie zählen zum Beispiel Schlaganfall, Parkinson, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselstörungen und Frakturen. Dabei sind ältere Menschen sehr häufig mehrfach erkrankt, weisen also eine Multimorbidität auf. Dies erfordert eine ganzheitliche Therapie, an der unterschiedliche medizinische Disziplinen beteiligt sind, von Internisten über Physio- und Ergotherapeuten bis hin zu Logopäden und Neuropsychologen. Ausgangsbasis ist ein standardisiertes multidimensionales geriatrisches Assessment, das medizinische, funktionelle, kognitive, psychische und soziale Probleme des Patienten erfasst und quantifiziert. Daraus leiten sich die therapeutischen Möglichkeiten ab und damit ein individueller umfassender Plan für die Behandlung und Rehabilitation.

Fokus auf Ressourcen

„Das Besondere in der Geriatrie“, betont Schulz, „ist die ressourcenorientierte Behandlung.“ Die geriatrische Versorgung legt den Fokus weniger auf die Defizite des Patienten als viel mehr auf dessen Ressourcen. Was konnte der Patient vor seiner Erkrankung, was lässt sich behandeln und was nicht, wo liegen seine Fähig- und Fertigkeiten – auf diesen Fragen fußt die Therapie. Ist der linke Arm eines Menschen gelähmt, dann konzentriert sich die Behandlung auf den rechten. Es geht darum, die Schwächen zu kompensieren, indem die Stärken gefördert werden. Daher spielt die Rehabilitation eine so große Rolle, sie ist das Herzstück der Geriatrie. Sie beginnt im besten Fall noch während der akuten Behandlung, wird im Anschluss stationär und ambulant fortgeführt. „Dabei spornt jeder noch so kleine Erfolg an“, berichtet Elke Pfister. Die 44Jährige arbeitet seit 1999 als Pflegekraft und kennt die Vielschichtigkeit geriatrischer Patienten. „Jeder geht anders mit seiner Krankheit um, der Zugang zu jedem Patienten ist anders. Aber wenn sie erstmal Mut geschöpft haben, dass es aufwärts geht, dann kämpfen sie alle. Das gibt ihnen Halt.“ Pfisters Anspruch ist es, diesen Lebenswillen anzufeuern.

Renate Meyer (Name von der Redaktion geändert) sprüht nur so vor Lebensfreude. Ein Oberschenkelhalsbruch führte die 92Jährige vor zehn Tagen ins St. Marien-Hospital. Sie sitzt im Rollstuhl am Fenster, schaut auf die Spitze des Kölner Doms, vor ihr auf dem Tisch stehen gerahmte Fotos ihrer vier Kinder und sieben Enkelkinder, und sie erzählt. Wie sie Tag für Tag Fortschritte macht. Dass sie fast schon zu ehrgeizig ist. Von ihrem nächsten Ziel, 50 Meter sicher mit dem Rollator zurückzulegen. Und weshalb es ihr größter Wunsch ist, ohne Hilfe aus dem Bett zu steigen, die Toilette zu benutzen, und sich wieder zurück ins Bett zu legen. „Wissen Sie“, sagt sie, „das ständige Üben ist zwar eine Überwindung, aber das bin ich mir und allen anderen schuldig.“ Alle anderen meint Familie, Ärzte, Pfleger, das gesamte Krankenhaus-Team. Jeder habe ihr gut zugeredet, sie Schritt für Schritt begleitet. „Jetzt bin ich die, die ruft: Ich will! Ich will! Ich will!“ Heute hat sie es geschafft, ihr Schmerzbein fünf Zentimeter zu heben. „Da muss ich mir selbst auf die Schulter klopfen.“ Als Zugabe hebt sie sich mit der Kraft aus ihren Oberarmen – „die waren vor Kurzem noch schlapp wie Pudding“ – heraus aus dem Rollstuhl. „Gehen Sie ins Fitnessstudio?“, fragt sie. „Sehen Sie, das kann ich mir sparen.“ Sie nimmt noch ein Stück Kuchen und sagt, dass ihr die Leute leid täten, die früh aufgeben.

Älterer Patient mit Gehhilfe wird im Flur des St. Marien Hospitals in Köln von einer Pflegerin gestützt

Beide Fotos: vdek/Jo Schwartz (joschwartz.com)

Oft sind es die Mehrfacherkrankungen, die Patienten mutlos machen. Zusätzlich bestehen bei vielen älteren Patienten, insbesondere bei jenen über 80 Jahre, sogenannte geriatrische Syndrome. Dazu gehören etwa Inkontinenz, Verwirrtheit, plötzliche Bettlägerigkeit, Depressionen und Mangelernährung. Relativ „harmlose“ Auffälligkeiten, die scheinbar nicht zusammengehörten, so Schulz. „Aber in der Summe schwächen sie den Patienten enorm. In dem Fall hätte der Patient schon viel früher die Geriatrie aufsuchen müssen.“ Den Hausärzten könne man keinen Vorwurf machen. Viel mehr sei die Politik gefordert, den Übergang zwischen ambulanter und stationärer geriatrischer Versorgung fließender und damit insgesamt besser zu gestalten. „Komplexe Patienten erfordern ein komplexes abgestuftes Behandlungskonzept.“

Als beispielhaft bezeichnet Schulz den Landesbettenplan Nordrhein-Westfalen, der ab 2015 vorschreibt, dass jedes Krankenhaus sicherstellen muss, dass ein geriatrischer Facharzt zur Verfügung steht. Das St. Marien-Hospital, mit 167 Plätzen eine der größten Geriatrischen Kliniken, sei bereits für 16 Krankenhäuser als Ansprechpartner zugewiesen. Ein weiterer Lösungsansatz sind die geriatrischen Institutsambulanzen, die mit dem Psych-Entgeltgesetz eingeführt wurden. Demnach können Krankenhäuser mit geriatrischen Fachabteilungen sowie Krankenhausärzte vom Zulassungsausschuss zur strukturierten und koordinierten ambulanten geriatrischen Versorgung ermächtigt werden, wenn es für die Sicherheit der Versorgung notwendig ist. Insgesamt zeigt sich Schulz begeistert über die Bereitschaft der Politik, das Thema Geriatrie stärker in den Blick zu nehmen. „Derzeit kann eine ganze Menge bewegt werden.“

Angesichts der demografischen Entwicklung sind neue Konzepte dringend vonnöten. Mitte dieses Jahrhunderts wird jeder Dritte in Deutschland älter als 65 Jahre sein. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt bei Frauen 84,5 Jahre, bei Männern 80,5 Jahre. Älter werden heißt auch länger älter sein. Die höhere Lebenserwartung führt dazu, dass mehr Jahre mit Krankheit und erhöhtem Sterberisiko verbracht werden. Daher muss aus Sicht der Krankenkassen unter anderem sichergestellt werden, dass die Notwendigkeit für eine geriatrische Versorgung frühzeitig erkannt wird. Dazu gehört auch, dass Hausärzte ein stärkeres Bewusstsein für Geriatrie entwickeln und damit die Versorgung zielgenauer steuern können. In dem Zuge sollten verstärkt Anreize zur Weiterbildung im Bereich Geriatrie geschaffen werden.

„Das Schlimme ist, dass uns kaum noch Zeit bleibt“, sagt Schulz. In spätestens sechs Jahren müssten die Versorgungsstrukturen so ausgebaut sein, dass sie für Multimorbidität belastungsfähig seien. Als flächendeckend notwendig erachtet er große geriatrische Zentren, die zeitgleich behandeln und ausbilden können. „Denn uns fehlt auch ganz klar der Nachwuchs.“ Als Universitätsprofessor am Lehrstuhl für Geriatrie der Universität Köln weiß er, dass die Medizinstudenten lieber Dinge heilen als verbessern. „In der Geriatrie lösen wir zwar auch gesundheitliche Probleme, aber in erster Linie lindern wir Krankheiten.“ Zudem fühlten sich Studierende in der Multimorbidität nicht wohl, sie hätten Angst, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Andererseits machten gerade die vielen verschiedenen Erkrankungen die Geriatrie so spannend. „Es ist eine Herausforderung, die Bälle in der Luft zu halten, aber auf keinen Fall unmöglich.“ Dem Fachgebiet helfen würde es, wenn der Facharzt Innere Medizin und Geriatrie als Facharztkompetenz im Gebiet Innere Medizin umgesetzt würde, meint Schulz. Dies sei bislang nur in Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt der Fall. Andernorts finde es sich nur als Zusatzausbildung.

Ob sie selbst jemals ihre Berufswahl bereut haben? Schulz schüttelt demonstrativ mit dem Kopf. „Im Gegenteil“, sagt Pfister und spricht für beide. „Wenn meine Patienten ihre kleinen Erfolge feiern und ich in ihre glücklichen Gesichter schaue, ist das ein ganz toller Moment.“ Wenn sie jeden Tag etwas mehr schaffen. Bis sie ihr Ziel erreicht haben. Und Postkarten schreiben. Von zu Hause.

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