
Lange sah es so aus, als hätten sich Union und SPD gerade beim Thema Gesundheit völlig verhakt. Umso überraschender, dass die Verhandlungsführer der Arbeitsgruppe, Jens Spahn (CDU) und Karl Lauterbach (SPD), dann am Morgen des 22. November bereits eine vollständige Einigung verkünden konnten – die erste überhaupt bei diesen Koalitionsverhandlungen. In der Nacht zuvor hatte eine Spitzenrunde mit Kanzlerin Angela Merkel, CSU-Chef Horst Seehofer und SPD-Chef Sigmar Gabriel den Kompromiss abgesegnet – ohne größere Diskussionen.
Kern des Kompromisses ist eine Neuordnung der Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen. Der als „Kopfpauschale“ geschmähte – wenn auch bisher nur selten erhobene – pauschale Zusatzbeitrag wird abgeschafft. Was Lauterbach sogleich als „historischen Ausstieg […] nach zehn Jahren Kampf“ feierte. In der Tat hatte die „Kopfpauschale“ einen hohen symbolischen Wert, war sie doch das letzte Übrigbleibsel der Reformagenda, die Angela Merkel vor zehn Jahren auf dem Leipziger CDU-Parteitag vorgestellt hatte.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Modell – eigentlich mal als Einstieg in den Radikal-Umbau des Finanzierungssystems gedacht – auch in der CDU längst nicht mehr nur Freunde hatte. In der CSU gab es ohnehin schon immer Bedenken. Es war kein langes Ringen notwendig, die Union zu diesem Kompromiss zu bewegen, zumal sie sich bei einem anderen Punkt durchsetzen konnte: Die steigenden Gesundheitskosten werden auch im neuen Modell allein von den Versicherten getragen. Auch wenn eine ominöse Zusatzvereinbarung, die nicht den Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hat, das für die Zukunft wieder infrage stellt. In dieser Legislaturperiode bleibt es jedoch bei einem Beitragssatz von 7,3 Prozent für Arbeitgeber. Neu ist, dass sich der prozentuale Beitragssatz für Arbeitnehmer wieder von Kasse zu Kasse unterscheiden kann und soll. Derzeit liegt er bei 8,2 Prozent. Bei finanziell gut situierten Kassen könnte das bald deutlich weniger sein, bei klammen Kassen entsprechend mehr. Der Vorteil: Prämien oder Zusatzbeiträge müssen nicht mehr einzeln erstattet oder eingetrieben werden, sondern werden über das Gehalt verrechnet. Erwünschter Nebeneffekt: Viele Versicherte bekommen nicht so genau mit, wie viel sie bezahlen– und wechseln nicht mehr so schnell die Kasse.
Das Aus für die „Kopfpauschale“ hat sich die SPD teuer erkauft. Von der ursprünglichen Forderung nach einer paritätischen Finanzierung – also dem gleichen Beitragssatz für Arbeitgeber und Arbeitnehmer – haben sich die Sozialdemokraten verabschieden müssen. Von der angestrebten Bürgerversicherung war schon von Beginn der Koalitionsverhandlungen an keine Rede mehr. Was allerdings bei den Mehrheitsverhältnissen nach der Bundestagswahl keine Überraschung ist.
Pflege: Kein großer Wurf
Diesen Mehrheitsverhältnissen ist auch eine Besonderheit bei der Pflegeversicherung geschuldet: der Einstieg in die – wenn auch bescheidene – Kapitaldeckung. Der paritätische Beitragssatz soll spätestens am 1. Januar 2015 um 0,3 Prozentpunkte steigen. Ein Drittel dieser Mehreinahmen soll nicht für bessere Leistungen für Pflegebedürftige und Angehörige verwendet, sondern in einem „Pflegevorsorgefonds“ angelegt werden. Ein Herzensanliegen der Union, über dessen Sinnhaftigkeit man streiten kann in Zeiten von Niedrigstzinsen und volatilen Finanzmärkten.
Für die Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs ist dann in einem zweiten Schritt eine weitere Beitragserhöhung von 0,2 Prozentpunkten vorgesehen, „in dieser Legislaturperiode“. Genauer wollen sich die Koalitionäre lieber nicht festlegen. Der große Wurf bei der Pflege wird also weiter auf sich warten lassen, nachdem schon die beiden Bundesregierungen zuvor trotz der Ergebnisse zweier Expertenkommissionen wenig zustande gebracht haben. Zudem sind Zweifel angebracht, ob mit dem Betrag von rund zwei Milliarden Euro eine Reform möglich ist, bei der niemand schlechter, aber viele – vor allem Demenz- kranke – besser gestellt werden sollen. Denn das ist der Anspruch der Großen Koalition.
Hohe Ansprüche haben Union und SPD auch bei der ambulanten ärztlichen Versorgung. Um sie zu verbessern, listen sie gleich zu Beginn des Koalitionsvertrages eine Fülle von Ideen auf, um Überversorgung, Unterversorgung und Fehlversorgung in unterschiedlichen Bereichen zu korrigieren. Dabei sorgte schon während der Verhandlungen das Thema Terminvergabe beim Facharzt für Schlagzeilen. Künftig sollen die Kassenärztlichen Vereinigungen dafür sorgen, dass Patienten nicht länger als vier Wochen warten müssen. Auch beim Psychotherapeuten sollen Wartezeiten kürzer werden.
Qualität im stationären Sektor
Dem aus Kassensicht weit drängenderen Problem der Krankenhausversorgung widmet der Koalitionsvertrag immerhin drei von den zehn Seiten des Gesundheitskapitels. Mit einer „Qualitätsoffensive“ soll die stationäre Versorgung verbessert werden. Auch hier wird wieder eine Fülle von Ideen aufgeführt: Zuschläge und Abschläge, Qualitätsverträge und Sicherstellungszuschläge. Am wichtigen für die Patienten: Qualitätsberichte sollen die Vergleichbarkeit zwischen Krankenhäusern ermöglichen. Vor einer Operation sollen Ärzte auf das Recht auf eine Zweitmeinung hinweisen müssen.
Beim Thema Korruption im Gesundheitswesen wagt die Union eine Wende. Zusammen mit der FDP sprachen sich CDU und CSU noch vor einigen Monaten gegen eine Regelung im Strafrecht aus. Korruptives Verhalten sollte über das Sozialgesetzbuch unter Strafe gestellt werden – trotz aller rechtlichen und praktischen Bedenken von Opposition und Experten. Hier hat sich die SPD durchgesetzt: „Wir werden einen neuen Straftatbestand der Bestechlichkeit und der Bestechung im Gesundheitswesen im Strafgesetzbuch schaffen“, steht auf Seite 77 des Koalitionsvertrags.
Kein Wort hingegen findet sich auf den zehn Seiten zum Thema Gesundheit über die private Krankenversicherung (PKV). Wohl das größte Manko des Vertragswerks. Hier lagen die Positionen von Union und SPD so weit auseinander, dass es nicht mal für eine namentliche Erwähnung der PKV gereicht hat. Auch wenn die Schnittstelle gesetzliche und private Krankenversicherung in der bereits erwähnten Zusatzvereinbarung eine Rolle spielen soll – etwa die Wechselmöglichkeit von Beamten.
„Es besteht die Chance, dass es erstmals zu einer Koalition kommt, in der es um Gesundheit und Pflege nicht monatelangen Streit gibt“, jubilierte CDU-Verhandlungsführer Spahn. Das scheint dann aber doch ein bisschen optimistisch. Denn was die Vereinbarungen wirklich wert sind, muss sich erst in der Praxis zeigen. Vor vier Jahren hatten Union und FDP gerade in der Gesundheitspolitik vieles festgeschrieben, das nie umgesetzt wurde. Dafür verabschiedete der Gesetzgeber am Ende einiges, das überhaupt nicht erwähnt ist. Es handelt sich eben doch mehr um eine unverbindliche Absichtserklärung als um einen wirklichen Vertrag.