Europawahl

Soziale Sicherheit über Grenzen hinweg

In der Zeit vom 22. bis 25. Mai 2014 sind die Bürger der Europäischen Union (EU) zum siebten Mal aufgerufen, ein neues Europäisches Parlament (EP) zu wählen. Auf das einzige direkt gewählte Organ der EU warten jede Menge Herausforderungen, auch im Bereich der Sozialversicherungssysteme.

Diese Wahl wartet mit zwei Neuheiten auf. Die erste ist rein nationaler Natur. Erstmalig wird es bei einer Europawahl keine Sperrklausel geben. Am 26. Februar 2014 hob das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eine entsprechende Bestimmung im Deutschen Wahlrecht auf. Damit haben alle Parteien und deren Bewerber die gleichen Chancen auf einen der 96 von Deutschland zu besetzenden Abgeordnetensitze. Die Richter am BVerfG sahen die erst 2013 von fünf auf drei Prozent abgesenkte Sperrklausel als ungerechtfertigten Eingriff in die Chancengleichheit der abgegebenen Stimmen. Anders als bei einer Bundes- oder Landtagswahl sei die Funktionsfähigkeit des EP nicht gefährdet, wenn zu den bereits jetzt vertretenen 162 Parteien weitere hinzu kämen. Die zweite Neuerung berührt die Bürger aller Mitgliedsstaaten und betrifft die Wahl des EU-Kommissionspräsidenten. Gemäß dem 2007 verabschiedeten Vertrag von Lissabon muss der Europäische Rat (EU-Rat) beim Vorschlag für den EU-Kommissionspräsidenten die Mehrheitsverhältnisse im Parlament berücksichtigen. Diese neue Vorschrift wird vom Parlament nun so ausgelegt, dass die stärkste Fraktion im Parlament den Präsidenten stellen kann. Die beiden größten Fraktionen, die Europäische Volkspartei (EVP) und die Sozialisten & Demokraten (S&D), liegen derzeit etwa gleich auf und können nach aktuellen Umfragen mit etwa 210 bis 220 der insgesamt 751 Mandate rechnen. Beide haben als Spitzenkandidaten bekannte Europäer vorgeschlagen. Für die EVP geht der frühere Eurogruppenchef und ehemalige luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker ins Rennen. Die S&D kürte den amtierenden EP-Präsidenten Martin Schulz zum Spitzenkandidaten. Aber nicht nur der Wahlausgang ist entscheidend, sondern auch der letztendliche Vorschlag des EU-Rats sowie die Frage, ob der Kandidat eine absolute Mehrheit der Abgeordneten hinter sich vereinigt.

Anstehende Aufgaben

Auf den nächsten EU-Kommissionspräsidenten wartet eine Vielzahl von Herausforderungen. Ganz oben auf der Agenda steht die Bewältigung der Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise. Die Wirtschaft im Euroraum und insbesondere in den Mittelmeeranrainern Griechenland, Portugal, Spanien, aber auch Frankreich und Italien, kommt nicht recht in Schwung. Die neue EU-Kommission muss daher die wirtschaftlichen Verhältnisse in der EU stärker angleichen und die Integration des Binnenmarktes, insbesondere für Dienstleistungen, weiter vertiefen. Vor diesem Hintergrund wird es zunehmend wichtiger, neben der Wirtschafts- und Währungsunion auch die Sozialunion bzw. die soziale Integration der Systeme voranzubringen. Diese Aufgabe ist aufgrund der für diesen Bereich häufig eingeschränkten Zuständigkeiten der EU äußerst schwierig und nur unter Einbeziehung der Mitgliedsstaaten und weiterer Interpretation der Verträge möglich.

Als Vertreter eines der wichtigsten Zweige der sozialen Sicherheit – der sozialen Krankenversicherung – befürwortet der Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek), zusammen mit den beiden Dachverbänden Association Internationale de la Mutualité (AIM) und der European Social Insurance Platform (ESIP) sowie dem Brüssler Büro der Deutschen Sozialversicherung (DSVAE), die von der EU verfolgte europäische Idee, den EU-Bürgern Mobilität über die Grenzen der Sozialversicherungssysteme hinweg zu ermöglichen. Die national geprägten Sozialversicherungssysteme müssen dafür in einem anhaltenden Prozess koordiniert zusammenwachsen. Hingegen lehnt der vdek Bestrebungen der EU-Kommission ab, die auf direktem Wege durch Verordnungen oder schleichend über den Umweg des Europäischen Semesters die Systeme zu harmonisieren versuchen. Jedes Mitgliedsland hat sein eigenes spezielles System entwickelt und in Entwicklungsprozessen zum Teil über viele Jahrzehnte sowohl in seiner Funktionsweise als auch in seinem Leistungsumfang und -niveau an die Bedarfe der Bevölkerung angepasst. Da ist es in vielen Bereichen nicht adäquat, durch Verordnungen die Weiterentwicklung der EU voranzutreiben, anstatt nicht mehr nur Richtlinien zu verabschieden. Denn anders als die in allen EU-Mitgliedsstaaten einheitlich geltenden Verordnungen haben Richtlinien den Vorteil, dass sie in vielen Punkten an die nationalen Gegebenheiten und Wünsche angepasst werden können.

Wichtige Gesetzgebungsverfahren

Auf die derzeit in Brüssel anhängigen Gesetzgebungsverfahren werden die Wahlen zum EP allerdings keine Auswirkungen haben. Da wäre etwa die Neufassung der Arzneimittelrichtlinie. Hier konnten sich die Sozialversicherer nicht mit der Forderung nach einer zentralen Zulassung für Hochrisiko-Medizinprodukte und der Durchführung von klinischen Studien mit patientenrelevanten Eckpunkten durchsetzen. Erreicht aber wurde die Pflicht zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung durch den Produkthersteller. Auch bei den Verhandlungen über die Versicherungsvermittlerrichtlinie hat sich die Position der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) noch nicht durchgesetzt. Eine Bereichsausnahme für die GKV von der Richtlinie fand nicht die Zustimmung des EU-Parlaments. In beiden Fällen setzt der vdek nun auf die Verhandlungen im EU-Rat, um Verbesserungen im Interesse der Versicherten zu bewirken. Erfolgreich hingegen waren die Bemühungen bei der Datenschutzgrundverordnung. Hier wurden die für die GKV einschlägigen Artikel durch das EP soweit angepasst, dass die Krankenkassen auch weiterhin ihre Aufgaben bei der Leistungsabwicklung und insbesondere bei der Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung wahrnehmen können.

Der vdek setzt sich mit seinen Partnern auf europäischer Ebene weiterhin dafür ein, dass die Positionen der GKV berücksichtigt werden. Das Ziel ist, ein System mit hohem Sozialschutzniveau zu entwickeln, das sowohl den individuellen Bedürfnissen der EU-Bürger Rechnung trägt als auch ausreichend kompatibel untereinander ist.

 

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