Interview

"Demografie muss endlich entdramatisiert werden"

Foto zeigt Prof. Dr. Gerd Bosbach mit gestikulierenden Händen

Mit Zahlen erklärt man die Welt. Insbesondere der demografische Wandel lebt vom Umgang mit Daten, Statistiken, Prognosen. Die Geburtenrate sinkt, die Menschen werden immer älter, die Zahl der Pflegebedürftigen steigt. Diese Fakten bestimmen auch die Entwicklungen im Gesundheitssystem. Und sie jagen den Menschen Angst ein.

Doch inwieweit kann man den Statistiken trauen? Der Mathematiker und Sozialforscher Prof. Dr. Gerd Bosbach schaut genau hin. Im Interview mit ersatzkasse magazin. erklärt der Koblenzer Statistiker, wie mit Zahlen argumentiert wird, welche Bedeutung sie für Politik und Gesellschaft haben und wie sie sich auf die Diskussion um Demografie und Pflege auswirken.

Herr Prof. Dr. Bosbach, haben Sie Angst vor dem demografischen Wandel?

Vor der demografischen Entwicklung habe ich persönlich keine Angst, nein. Natürlich gehen damit besondere Belastungen wie etwa Alzheimer oder Demenzerkrankungen einher. Auf der anderen Seite wird die Gesellschaft ja auch insgesamt leistungsfähiger und kann diese Belastungen besser schultern. So steht aufgrund des technischen Fortschritts insgesamt mehr Geld zur Verfügung, das die Gesellschaft auch in die Alterssicherung stecken könnte. Sie will es nur nicht. Es ist also nicht der demografische Wandel an sich, der den Menschen Angst machen muss, sondern der politische und gesellschaftliche Umgang damit.

Wie kommen Sie zu diesem Schluss?

Nehmen wir folgende volkswirtschaftliche Betrachtung: Das Bruttoinlandsprodukt wird steigen, wir produzieren und konsumieren also mehr. Zugleich soll die Anzahl der Menschen angeblich weniger werden. Dann haben wir weniger Leute mit einem gewachsenen Kuchen. Müssen wir da sparen? Nach meiner Rechnung nicht. Vorausgesetzt es wird aus dem Kuchen nicht vorher immer mehr rausgenommen. Aber genau das ist leider die Situation, die wir jetzt haben. Von dem, was wir produzieren, wandert immer mehr in Gewinn und Vermögen. Der Kuchen insgesamt wächst, aber was bleibt am Ende übrig? Zugleich sinkt die Anzahl der Arbeitsstunden, aus denen unsere Sozialsysteme bezahlt werden. Der allgemeine Wohlstand steigt also, nur kommt er nicht in den Sozialkassen an.

In der Krankenversicherung gibt es Einbußen bei den Einnahmen und eine Steigerung der Ausgaben. Muss etwas am Finanzierungssystem geändert werden?

Auf jeden Fall muss an der Finanzierung gearbeitet werden. Es macht einfach keinen Sinn, ein System, das Bismarck eingeführt hat, in der gleichen Art weiterzuführen. Ein relativ großer Anteil der heutigen Einnahmen kommt nicht mehr aus der normalen Arbeitswelt. Wir haben Pachten, Aktienbesitz, Zinsen, und dafür wird kein Cent Sozialversicherung gezahlt. Das muss aufgebrochen werden. Genauso müssen wir an der Stellschraube Beitragsbemessungsgrenze drehen, um auch reichere Menschen stärker in die Verantwortung für die Sozialsysteme zu nehmen. Unsere Gesellschaft ist nicht arm, allerdings muss mehr Geld aus dem Wohlstand in die Sozialsysteme fließen.

Halten Sie die sozialen Sicherungssysteme für stabiler als private Vorsorge?

Ja, ganz sicher. Das Umlagesystem ist sozial und natürlich. Die Gesellschaft ist schon immer ein Umlagesystem gewesen und wird es auch bleiben, selbst wenn Geld etwa in Form von Steuergeldern dazwischen geschaltet wird. Und wenn es tatsächlich eine Krise wegen Demografie gäbe und es uns wegen zu wenigen jungen Leuten schlechter ginge, dann hätten alle Leute zu dem Zeitpunkt weniger, aber es wäre sozial. Was die Vorsorge anbelangt: Denken Sie mal, was für ein Verwaltungsaufwand es wäre, jetzt Geld für 30 Jahre anzusparen. Die Versicherungen selbst sagen, dass 15 Prozent allein an Verwaltungsaufwand anfällt. Nehmen wir mal an, wir haben alle angespart, die Versicherungen zahlen uns das Geld aus, aber es gibt zu wenige Leute, die Güter produzieren und neu einzahlen in die Versicherung. Dann stößt viel Geld auf einen beschränkten Gütermarkt, die Preise steigen. Und die jungen Menschen könnten sich die Güter nicht mehr leisten. Das ist ein System, was unlogisch ist und auch dem ganz Normalen widerspricht.

Wie viel Zeit bleibt uns denn, bis uns der demo-grafische Wandel einholt?

Es heißt ja immer, Demografie bringt uns in Zukunft eine Belastung. Das ist eines der größten Märchen. Demografische Entwicklung haben wir, seit wir amtliche Statistik haben. Im letzten Jahrhundert sind die Menschen über 30 Jahre älter geworden, der Jugendanteil hat sich mehr als halbiert, der Altenanteil mehr als verdreifacht. Das war nie ein Problem, aber jetzt auf einmal? Diese demografische Entwicklung hat überhaupt nicht dazu geführt, dass die Sozialsysteme zusammengebrochen sind. Im Gegenteil, wir haben sie ausgebaut und entwickelt. Und parallel dazu die Arbeitszeit verkürzen können, von 60 auf 40 Stunden. Der Urlaub wurde verdreifacht von zwei auf sechs Wochen, und die Lebensarbeitszeit war früher 14 bis 70 Jahre, heute beträgt sie 20 bis 65 Jahre. Diese Tatsachen dürfen nicht aus der Diskussion ausgeblendet werden.

Warum wird es in der öffentlichen Diskussion dennoch getan?

Unsere heutigen Ängste gegenüber der demografischen Entwicklung, also Geburtenschwund, Überalterung und Ähnliches, gab es wie gesagt auch schon im letzten Jahrhundert. Nur wurden die Ängste damals nicht planmäßig verstärkt. Angst vorm Altern steckt in vielen von uns persönlich drin und lässt sich deshalb psychologisch wunderbar nutzen. Seit 2003 wird das Thema Demografie politisch auf und ab diskutiert, es wird viel Geld für Kampagnen ausgegeben und es werden Ängste geschürt. Ich wünsche mir eine ehrliche Diskussion in dieser Frage und nicht eine, die fast nur Angst und Schrecken verbreitet.

Wer zieht einen Nutzen aus dieser Diskussion?

Die Privatisierung der Sozialsysteme sollte vorangetrieben werden. Die Menschen sollten sensibilisiert werden für die private Vorsorge. Die Versicherungsbranche hat ganz massiv an derartigen Angst-Kampagnen gearbeitet. Natürlich haben die riesig viel daran verdient – man denke an die Riester-Rente oder an den Pflege-Bahr – und dementsprechend auch gerne propagiert. Arbeitgeber gewinnen durch das Aufbrechen der Parität bei der Rente jährlich etwa 15 Milliarden Euro. Ein weiterer Grund ist, dass auch die Politik in der Demografie immer einen Schuldigen finden kann für gesellschaftliche Fehlentwicklungen.

Haben Sie ein Beispiel, wo die Demografie als Entschuldigung herhalten musste?

Die Einführung der Praxisgebühr. Ein alter Schuh aus 2003, aber da lief gerade die Welle der Kampagnen an. Begründet wurde sie von der damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt mit der demografischen Entwicklung des 21. Jahrhunderts. Nur, 2003 gab es offiziell 4,5 Millionen Arbeitslose, Löhne und Wirtschaft stagnierten, und die Sozialkassen waren leer. Um diese wieder zu füllen, kam die demografisch bedingte Praxisgebühr, die dann in der letzten Legislaturperiode genauso schnell wieder abgeschafft wurde.

Gibt es aus Ihrer Sicht weitere Beispiele aus dem Gesundheitsbereich?

Was mich momentan auf die Palme bringt, ist das Gerede vom demografisch bedingten Ärztemangel. Wir haben einen Numerus Clausus von 1,0 bis 1,3. Das heißt wir haben ganz viele junge Leute, die Medizin studieren wollen, aber wir lassen sie nicht. Man spart im Bildungssystem, sagt aber, die Demografie sei schuld. Fakt ist, man will es sich nicht leisten, junge Leute auszubilden und in den Krankenhäusern entsprechend zu bezahlen. Mitnichten ist es so, dass wir nicht genug Leute haben, die gerne als Arzt arbeiten würden.

Zumindest in der Pflege herrscht offiziell ein Fachkräftemangel.

Für den Pflegebereich gilt dies ganz explizit, aber auch da lassen wir die jungen Leute nicht ran. Pflegeschulen haben mir bestätigt, dass sie Leute abweisen, weil sie nicht genug staatliches Schulgeld und somit die Ausbildung nicht refinanziert bekommen. Über Pflegemangel zu reden und gleichzeitig den Schulen eine Beschränkung aufzuerlegen, ist kontraproduktiv. Es gibt noch andere Beschränkungen. Wenn zum Beispiel eine Pflegeschule keine gute Abgangsquote hat, ist die ganze Maßnahme gefährdet. Das führt dazu, dass Pflegeschulen lieber Abiturienten nehmen und somit zum Teil junge Menschen ausbilden, die das System relativ schnell wieder verlassen, um sich weiterzubilden. Und nicht zuletzt ist die Bezahlung der Pflegekräfte eine Beschränkung. Dabei ist es zurzeit offensichtlich so, dass mehr Menschen den Pflegeberuf ergreifen wollen als dürfen.

Trotzdem werden die Menschen älter – steigen damit nicht proportional die Zahl der Pflegebedürftigen und damit auch die Kosten?

Nein. Das Statistische Bundesamt geht davon aus, dass die Menschen bis 2050 um sieben Jahre älter werden. Seinen Rechnungen zufolge führt die Alterung zu einer Vervierfachung der über 83-Jährigen. Dann geht man davon aus, dass die Zahl der Pflegebedürftigen in etwa mit der Zahl der über 83-Jährigen übereinstimmt. Aber jetzt daraus abzuleiten, dass sich dann auch die Pflegekosten vervierfachen, ist höflich gesagt eine Milchmädchenrechnung. Leben wir denn alle sieben Jahre, die wir älter werden, nur noch in Pflege? Werden wir keinen einzigen Tag gesund älter? Wenn wir sieben Jahre älter werden, werden wir die nicht alle siechend erleben. Die Logik, dass wir älter und älter und älter werden, aber kein bisschen gesund älter, geht einfach nicht auf. Die Dramatik der Vervierfachung ist völliger Unsinn.

Aber eine Steigerung der Pflegebedürftigen und Kosten ist doch nicht zu leugnen.

Generell gilt, dass es schwierig ist, Prognosen für so eine lange Zeit, in diesem Fall bis 2050, abzugeben. Aber diese Methode der langen Zeiträume wird beim Thema Demografie gerne angewandt. Wenn man kleine Veränderungen auf 50 Jahre hochrechnet, dann steht am Ende immer ein Riese, womit sich Schreckensmeldungen verbreiten lassen. Dieser lange Zeitraum macht aus ein paar übereinander gestapelten Mücken einen Elefanten. Mein Vorschlag: Rechnen Sie Veränderungen auf ein Jahr um und schauen Sie, wie sich das auswirkt und bewältigen lässt. Das sieht dann schon ganz anders, nämlich einfacher, aus.

Was muss passieren, damit Altern wieder mehr als Chance begriffen wird und nicht so sehr angstbesetzt ist?

Natürlich habe ich ein paar Ideen, etwa wie gesagt in der Finanzierung oder eben auch im Bildungsbereich. Da wäre eine ganz konkrete Forderung an die Politik, den jungen Leuten Perspektiven und Ausbildungsplätze anzubieten, eben auch im Pflegebereich. Aber meine Aufgabe als Statistiker sehe ich darin, die Wunden und Widersprüche aufzudecken und Fehler zu erklären. Ich möchte eine andere Diskussionskultur bei diesem Thema erreichen. Die Lösungswege müssen allerdings von der gesamten Gesellschaft kommen.

Weitere Artikel aus ersatzkasse magazin. 5./6.2014