Interview

"Verlässlich und nah dran"

Michael Gerdes (SPD /MdB) und Kai Whittaker (CDU/CSU / MdB) vor dem Bundestag

Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD ist von einer „Stärkung der Selbstverwaltung“ die Rede. Angesichts der Sozialwahlen im Jahr 2017 stehen die ersten Ideen bereits auf der Agenda, mit der konkreten Ausgestaltung will sich die Politik nach der Sommerpause beschäftigen.

Die soziale Selbstverwaltung gehört zu den Themenfeldern, mit denen sich die Bundestagsabgeordneten Kai Whittaker (CDU) und Michael Gerdes (SPD) vorrangig beschäftigen. ersatzkasse magazin. hat beide Politiker für ein Interview an einen Tisch geholt, um gemeinsam über den Wert der Mitbestimmung, über Engagement und Gestaltungsmöglichkeiten sowie über die Rolle der Selbstverwaltung in der Gesellschaft zu sprechen.

Herr Whittaker, Herr Gerdes, was fällt Ihnen spontan zum Stichwort Selbstverwaltung ein?

Kai Whittaker Ich verbinde damit sehr stark das Thema Eigenverantwortung, also die Tatsache, dass gewählte Vertreter auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite für die Versicherten Entscheidungen treffen und sich auch für diese Entscheidungen rechtfertigen müssen.

Michael Gerdes Ich verbinde damit Partizipation. Als Versicherter kann ich an Entscheidungen etwa meiner Krankenkasse teilhaben und mich damit auch aktiv an zukünftigen Ereignissen beteiligen.

Denken Sie, die Öffentlichkeit nimmt dies ähnlich wahr?

Michael Gerdes Ich glaube schon, dass die Menschen durchaus sehr politisch denken. Zwar lassen sich Menschen in Parteipolitik nicht unbedingt gerne einbinden. Aber wenn es um ihren eigenen Spielraum geht, dann sind sie durchaus politisch. Das fängt an bei der Gestaltung von Kindergärten und Schulen und endet bei der Frage nach der Höhe des Beitrags in ihrer Krankenkasse. Wenn Menschen verstanden haben, dass sie sich an diesen Entscheidungsprozessen beteiligen können, dann werden sie politisch.

Kai Whittaker Es hängt viel davon ab, ob die Menschen merken, dass hier Wichtiges entschieden wird. Deshalb ist es auch relevant, dass wir bei der Selbstverwaltung immer wieder darauf schauen, dass diese Gremien auch wirklich etwas zu entscheiden haben. Sodass die Menschen davon ausgehen können, dass wenn sie wählen gehen, die Repräsentanten auch etwas zu entscheiden haben. Wenn wir auf die Gesundheitssysteme in Europa blicken, finden sich sowohl rein staatliche als auch privatwirtschaftliche.

Ist der Mittelweg über die Selbstverwaltung, wie wir ihn hierzulande in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gehen, zukunftsfähig?

Kai Whittaker Ja, das ist er. Die Selbstverwaltung hat über 100 Jahre einen guten Dienst in diesem Land getan, weil sie auch zu einer Befriedung geführt hat zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Versicherung. Und wir wollen ja auch nicht nach jeder Bundestagswahl immer wieder neu den Leistungskatalog der einzelnen Versicherungen verhandeln. Wir wollen Verlässlichkeit, und genau das hat die Selbstverwaltung hervorgebracht.

Michael Gerdes Es wäre nicht gut, wenn wir uns von der Selbstverwaltung verabschieden würden. Sie ist nah dran an den Versicherten und kann auch der Politik den einen oder anderen Hinweis geben, wo es sich zu kümmern gilt.

Die Politik will die Selbstverwaltung stärken. Wo sehen Sie Stellschrauben? Wie viel traut man der Selbstverwaltung zu und wo soll der Staat intervenieren?

Kai Whittaker Vor dem Hintergrund der Unionspolitik sagen wir natürlich, wir möchten die Entscheidungen so weit wie möglich auf die Ebenen nach unten delegieren, Stichwort Subsidiarität. Bei den Krankenkassen beispielsweise kann man durchaus diskutieren, ob man die Festlegung der Beiträge nicht komplett wieder zurück gibt. Und dann natürlich auch die Frage, inwieweit man den Krankenkassen mehr Vertragsfreiheiten einräumen will.

Michael Gerdes Selbstverwaltung so weit, wie es geht, und so weit wie nötig. Dass man den Krankenkassen Entscheidungsspielräume gibt, da habe ich überhaupt nichts gegenzuhalten. Allerdings, völlig ungesteuert geht es nicht. Wir sollten den Krankenkassen einen Spielraum überlassen, aber doch auch ein bestimmtes Regulativ setzen, in dem sie sich bewegen können.

Kai Whittaker Man muss aber auch die Tendenz der letzten 20 Jahre sehen, dass wir uns als Bundespolitiker Kompetenzen ergriffen haben, anstatt zu delegieren. Die Frage ist, ob das in allen Bereichen der richtige Weg war. Diese Diskussion lohnt es sich zu führen.

Also ist es durchaus möglich, dass Beschränkungen und damit Eingriffe in die Selbstverwaltung wieder aufgehoben werden?

Michael Gerdes Da gibt es eine ganze Menge, was auf Aktualität überprüft werden muss. Unsere Aufgabe ist es, sich die Gesetzestexte der letzten Jahrzehnte anzuschauen und zu bewerten, was eigentlich noch Bestand hat, was wichtig ist und was man verändern kann.

Kai Whittaker Auch ist es wichtig, dass wir uns die Dinge anschauen, die die Selbstverwaltung eigentlich schon machen darf, sich aber vielleicht nicht traut zu machen, oder vielleicht zum Teil auch nicht weiß, dass sie in bestimmten Bereichen agieren darf. Ich habe nämlich auch noch keine Liste gesehen, die zeigt, was eigentlich die Selbstverwaltung alles entscheiden darf. Das ist nirgendwo in einem Katalog festgehalten. Und auch die Öffentlichkeit weiß oft noch zu wenig, was die Selbstverwaltung eigentlich macht. Da brauchen wir mehr Transparenz.

Wie schafft man mehr Transparenz und Bewusstsein für die Selbstverwaltung?

Michael Gerdes Den Bürgern geht es darum, dass eine Selbstverwaltung für sie kostengünstig und effektiv arbeitet. Vor welchem Hintergrund ist erst mal egal. Der Versicherte fängt erst an, sich mit den Gesetzen auseinanderzusetzen, wenn seine Kur positiv oder negativ beschieden wurde. Und in dem Fall muss die Selbstverwaltung ihm das plausibel erklären können. Die vielen Gesetze und Paragrafen sind für die Versicherungen wichtig, keine Frage, aber nicht für die Versicherten. Das heißt für den Versicherten muss es einfacher werden, die Arbeit der Selbstverwaltung nachvollziehbarer. Aber den Königsweg  habe ich leider auch nicht parat.

Dass Sie das Thema Selbstverwaltung so explizit im Koalitionsvertrag aufgegriffen haben, ist ja durchaus ungewöhnlich. Wie kam es dazu?

Kai Whittaker Wir haben zuvor schon zwei Mal versucht, die Sozialwahlen tiefgreifender zu reformieren, was am Ende gescheitert ist, weil es eben auch nicht so explizit im Koalitionsvertrag ausgehandelt worden war. Deshalb finde ich es gut, dass wir jetzt in einem kurzen Absatz die Grunddaten festgelegt haben und nun müssen wir schauen, wie wir weitermachen.

Eine Reform ist also überfällig?

Michael Gerdes Wenn man die Sozialwahlen auf eine breite Basis stellen will, muss man sich Gedanken machen darüber, wie man es anders hinbekommt. Dazu zählt auch, sich mit  der sich verändernden Arbeitswelt auseinanderzusetzen, also mit dem Wegbrechen großer Industrien und der Entwicklung hin zur Klein-Unternehmung und Selbstständigkeit. Denn Selbstverwaltung hat etwas mit Mitbestimmung zu tun, aber diese konnte sich in den großen Industrien besser entfalten. Deswegen ist das schon richtig: Wir wollen an Sozialwahlen festhalten, aber müssen auch gewährleisten, dass diejenigen, die sich wählen lassen können, eine Legitimation erhalten. Da sind wir parteipolitisch gar nicht weit auseinander. Wir haben jetzt beide als große Parteien den Auftrag, hier etwas zu tun, und das wollen wir.

Im Koalitionsvertrag steht, dass Sie die Urwahlen ausweiten wollen. Ist es realistisch, die Urwahl für alle Versichertenträger einzuführen?

Michael Gerdes Die Friedenswahl hat sicherlich Vorteile, keine Frage. Beispielsweise sin  die Gewerkschaften nach wie vor dafür, möglichst eine Friedenswahl durchzuführen. Aber auf der anderen Seite ist es schwierig für die kleinen und mittleren Unternehmen, sich an einer Friedenswahl zu beteiligen. Dann wiederum sprechen Kostengründe gegen eine Urwahl. Aber Demokratie kostet Geld, und das muss man sich auch erlauben können. Es gibt für beides Vor- und Nachteile. Letztendlich ist es so: Wenn wir Urwahlen wollen, muss auch ein System dahinter stehen. Wie kann jemand kandidieren, wie kommt er auf die Liste? Fragen wie diese müssen beantwortet werden, und dann habe ich auch nichts gegen eine Urwahl. Ich habe auch nichts gegen eine Mischform, nur ist dann wichtig, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer einer Krankenkasse jeweils in einem einheitlichen Wahlsystem gewählt werden. Denn sie müssen sich auf Augenhöhe begegnen.

Kai Whittaker Für mich hängen Urwahl, Friedenswahl und die Frage der Legitimation auch davon ab, was dieses Gremium wirklich entscheiden darf. Wenn ich der Selbstverwaltung mehr Verantwortung übertrage, muss ich auch für eine gute Legitimation sorgen. Hier käme das Urwahl-System eher infrage. Klar kommt das Kostenargument immer wieder. Aber wir haben für die letzten Sozialwahlen fast 50 Millionen Euro ausgegeben, wenn man das auf einen Zeitraum von sechs Jahren betrachtet, sind das etwa 20 Cent pro Wähler pro Jahr. Das ist noch für jeden verschmerzbar.

Eine Reduzierung der Kosten verspricht man sich von der geplanten Online-Wahl. Sind die technischen und gesetzgeberischen Voraussetzungen rechtzeitig zu den Sozialwahlen 2017 zu schaffen? Und werden tatsächlich so viele Bürger davon Gebrauch machen?

Kai Whittaker Je höher die Sicherheitsanforderungen, desto teurer das System und desto weniger Menschen werden es nutzen. Insofern hoffe ich, dass das Ministerium und alle Beteiligten seitens der Versicherungen ein zwar sicheres, aber praktikables System nutzen werden. Was die Kosten angeht, da hat man immer erst mal Investitionskosten, wenn man etwas Neues einführt. Aber wenn mal ein System steht, dann senkt es schon auch beträchtlich die weiteren Kos-ten. Und ich kann mir schon vorstellen, dass wir es zeitlich hinkriegen, wenn wir auf dem Teppich bleiben. Wir wollen im September die ersten Eckpunkte fertig haben und dann im zweiten Halbjahr einen Gesetzentwurf, den wir dann so verabschieden können, dass er spätestens nach Ende des ersten Quartals 2015 im Gesetzblatt steht. Denn die Versicherungsträger benötigen auch etwa zwei Jahre Vorlaufzeit, um die Wahlen vorbereiten und rechtssicher durchführen zu können. Wobei man sicherlich auch diskutieren kann, die Online-Wahl probehalber zunächst nur bei bestimmten Versicherungsträgern einzuführen.

Erreicht man mit der Online-Wahl mehr Menschen?

Michael Gerdes Wenn wir nur Online-Wahl machen würden, hätten wir ein Problem. Dann würden nämlich viele der Älteren sagen, damit habe ich nichts am Hut. Wenn wir aber beide Systeme nutzen können, also das bisherige und quasi als Service-Leistung das Online-Verfahren, dann ließe sich damit schon eine breitere Basis finden. Nur: Es nützt mir ja nichts, wenn ich wählen kann, aber nicht weiß, dass ich wählen darf und wie es funktioniert. Irgendwo ein Kreuzchen zu machen und dann den Brief einzuwerfen, tut auch nicht weh, und dennoch haben es viele nicht getan. Deswegen müssen wir uns überlegen, wie man den Menschen die Sozialwahlen schmackhaft macht. Online oder nicht online ist für mich eher nebensächlich. Online-Wahl ist kein Selbstläufer. Die Wahlbeteiligung hat mit dem System Sozialwahlen zu tun, nicht mit dem technischen System Wahlen. Wir müssen in den Köpfen klar machen, dass es wichtig ist, sich an der Wahl zu beteiligen. Wie das nachher technisch umgesetzt wird, mit Kugelschreiber oder mit Klick, ist eine andere Frage.

Und wie kann man die Bürger motivieren, selbst in der Selbstverwaltung aktiv zu werden?  

Kai Whittaker Das hat unter anderem damit zu tun, wie gut man vorbereitet und gewappnet ist für so eine Aufgabe, Stichwort Schulungen und Freistellungen. Bei den Weiterbildungsmaßnahmen bewegen wir uns momentan im Graubereich, das müssen wir regeln. Wenn wir der Selbstverwaltung mehr Verantwortung übertragen wollen, müssen wir ihr auch ehrlicherweise die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellen. Engagement und Kompetenz gehen für mich Hand in Hand. Dann hat es auch mit uns Politikern zu tun, die als Vorbild vorangehen und betonen, wie wichtig es ist, dass man sich in der Selbstverwaltung engagiert. Und ich denke, die Menschen wollen sich auch engagieren.

Was geben Sie den Versicherten in Anbetracht der Sozialwahlen 2017 mit auf de  Weg?

Michael Gerdes Dass sie es genauso wie bei jeder anderen Wahl in der Hand haben, wer für sie die Geschicke leitet und lenkt. Dass sie sich einfach mal fünf Minuten Zeit nehmen, um sich mit dem Thema Sozialwahlen auseinanderzusetzen. Sie müssen sich ja nicht sofort damit identifizieren, aber zumindest beschäftigen.

Kai Whittaker Den Wunsch habe ich auch, dass die Menschen sich wirklich mit dem Thema beschäftigen. In meinen Bürgersprechstunden drehen sich die meisten Anliegen um Renten- oder Krankenversicherungsbeiträge sowie Leistungen aus der Renten- oder Krankenversicherung. Und die Bürger machen uns Politiker dafür verantwortlich. Das sind wir auch zu einem gewissen Teil, aber eben nicht nur. Deshalb lege ich jedem ans Herz: Beschäftige dich mit der Sozialwahl und gehe wählen. Denn ob du deine Kur bekommst oder wie hoch dein Krankenkassenbeitrag ist, das entscheidet nicht alleine die Politik. Das entscheidet eben auch die Selbstverwaltung.

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