Gutachten des Sachverständigenrats

Bedarfsgerechte ländliche Versorgung im Fokus

Grafik: Ländliches Krankenhaus mit dem Schild "Dr. Landarzt", davor Menschen unterschiedlichen Alters.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat gemäß § 142 SGB V den Auftrag, Möglichkeiten und Wege zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens aufzuzeigen. Hierzu überreicht er dem Bundesgesundheitsminister im Abstand von zwei Jahren Gutachten mit entsprechenden Analysen und Empfehlungen. In seinem aktuellen Gutachten 2014 widmet er sich dem Thema „Bedarfsgerechte Versorgung – Perspektiven für ländliche Regionen und ausgewählte Leistungsbereiche“.

Steigende Lebenserwartung und niedrige Geburtenraten prägen die allgemeine Bevölkerungsentwicklung in Deutschland. Eine weitere Tendenz ist die vermehrt zu beobachtende Verstädterung – mit Folgen auch für die Gesundheitsversorgung. So müssen mittelfristig nicht allein die Auswirkungen des demografischen Wandels bewältigt werden, sondern es gilt auch, regionale  Ungleichverteilungen auszugleichen, die ins- besondere ländliche Regionen benachteiligen. Mit dem 2012 in Kraft getretenen Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VStG) wurde eine Reihe neuer Regelungen zur Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung vor allem durch ambulant tätige Ärzte eingeführt. So wurde die Bedarfsplanung reformiert und es sollten Anreize geschaffen werden, die Niederlassung vornehmlich dort zu befördern, wo Unterversorgung droht oder bereits besteht. Das aktuelle Gutachten geht nun mit Blick auf eine bedarfsgerechte ländliche Versorgung der Frage nach, ob die geplanten Maßnahmen gegriffen haben, und macht weitere Vorschläge zum Abbau von Über- und Unterversorgung.

Nebeneinander von Über- und (drohender) Unterversorgung

Zur Bewertung der aktuellen Versorgungssituation hat der Rat eine Reihe von Analysen durchgeführt. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Neufassung der Bedarfsplanungsrichtlinie insgesamt zu einer Verringerung des Plansolls an Arztsitzen geführt hat. Gleichzeitig bestätigen sich Ungleichverteilungen sowohl geografischer als auch fachspezifischer Art. Auffällig ist das Nebeneinander von Überversorgung in Ballungsräumen und (drohender) Unterversorgung in ländlichen Regionen. Die Verteilung von Haus- und Fachärzten zeigt ein zunehmendes Ungleichgewicht zuungunsten der allgemeinmedizinischen Grundversorgung. Es ist festzustellen, dass die mit dem GKV-VStG verfügbaren Instrumente – wie zum Beispiel Strukturfonds, Sicherstellungszuschläge, Umsatzgarantien, Gründungszuschüsse, aber auch Aufkauf von Arztsitzen – bisher nur verhalten angewendet werden. Dies zeigt eine Befragung aller Kassenärztlichen Vereinigungen durch den Rat. Regionale Disparitäten sind auch für den akutstationären Bereich festzustellen. Die Sicherstellung der Krankenhausversorgung dürfte insbesondere die Flächenländer in den neuen Bundesländern künftig vor große Herausforderungen stellen. Die derzeit verfügbaren Kapazitäten in der Langzeitpflege hingegen werden auch in der Summe nicht ausreichen, eine angemessene und qualitativ hochwertige Versorgung zu gewährleisten, zumal die Zahl pflegebedürftiger Menschen weiter stark ansteigen wird.

Vor diesem Hintergrund kommt der Rat zu dem Schluss, dass die bereits eingeleiteten Maßnahmen zur Sicherstellung einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung konsequent umgesetzt und weiterentwickelt werden sollten. Er empfiehlt dazu ein Paket von – auch sektorenübergreifenden – Maßnahmen, das Änderungen für den ambulantärztlichen, den akutstationären und den langzeitpflegerischen Bereich vorsieht. Zugrunde liegt die Einschätzung, dass eine Vielzahl an Faktoren dazu führt, dass ländliche Regionen als unattraktiv wahrgenommen werden – darunter Infrastrukturbedingungen. Entsprechend setzen auch die Vorschläge auf verschiedenen Ebenen an: von eher langfristig angelegten qualitativen Verbesserungen der Rahmenbedingungen bis hin zu schneller wirksamen finanziellen Anreizen.

Für eine bessere Verteilung vertragsärztlicher Strukturen werden die Einführung eines „Landarztzuschlags“ einerseits und die Verpflichtung zum Aufkauf überzähliger Arztsitze andererseits empfohlen. Das konkrete Modell sieht vor, dass niedergelassene Hausärzte, allgemeinversorgende Fachärzte sowie Kinder- und Jugendpsychiater in Planungsbereichen mit einem Versorgungsgrad von unter 90 Prozent für Hausärzte bzw. unter 75 Prozent für Fachärzte für zehn Jahre einen 50-prozentigen Vergütungszuschlag auf alle ärztlichen Grundleistungen erhalten. Die Finanzierung soll für die Versicherten kostenneutral erfolgen und von denjenigen Ärzten aller Fachgruppen getragen werden, die in Planungsbereichen praktizieren, die nicht von Unterversorgung bedroht sind. Daneben schlägt der Rat vor, die bestehende Regelung zum Aufkauf frei werdender Arztsitze in eine „Soll-Regelung“ umzuwandeln und bei einem Versorgungsgrad ab 200 Prozent sogar verpflichtend zu machen, mit Ausnahme der Psychotherapeuten.

Da die Grundversorgung wesentlich durch Hausärzte erfolgt, empfiehlt der Rat, die Förderung der Allgemeinmedizin in der Aus- und Weiterbildung sowie der praktischen Tätigkeit deutlich voranzutreiben. Vorgeschlagen wird ferner, dass für Planungsbereiche mit einem haus- und fachärztlichen Versorgungsgrad von unter 75 Prozent der Sicherstellungsauftrag auf das Land übergehen können sollte. In dem Fall soll eine sektorenübergreifende Rahmenbedarfsplanung mit öffentlicher Ausschreibung der Versorgung stattfinden. Die Umsetzung könnte den gemeinsamen Landesgremien nach § 90a SGB V obliegen, die dafür mit erweiterten Kompetenzen ausgestattet werden müssten. Im stationären Bereich bedürfen diejenigen Krankenhäuser besonderer Förderung, deren wirtschaftlicher Betrieb durch einen fortschreitenden Bevölkerungsrückgang erschwert wird. Besonders in ländlichen Regionen empfiehlt der Rat daher die Zahlung von Sicherstellungszuschlägen. Dieses bereits bestehende Instrument sollte so weiterentwickelt werden, dass klare Anspruchskriterien vorliegen und über einen Rechtsanspruch Planungssicherheit gewährleistet wird. Zugleich erachtet der Rat einen planvollen Abbau von Überkapazitäten als notwendig. Hierzu könnte ein Fonds beitragen, der über eine Bereitstellung von Mitteln an die Länder einen Abbau oder eine Umwandlung nicht benötigter Kapazitäten ermöglicht.

Neue Formen der Kooperation

Bei der pflegerischen Versorgung sieht der Rat einen Trend zur Ambulantisierung und empfiehlt neben dem Ausbau auch eine Diversifizierung bisheriger Strukturen. Gefordert wird die umgehende Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Dem im Pflegebereich stark ausgeprägten Fachkräftemangel sollte nach Ansicht des Rates mit einer Professionalisierung und Statusaufwertung der Pflege begegnet werden. Dies bedeutet neue Karrieremöglichkeiten, bessere Vergütung, eine Ausbildungsreform und eine teilweise Akademisierung, die durch einen Ausbau universitärer pflegewissenschaftlicher Standorte flankiert werden sollte. In diesem Zusammenhang sollten auch neue Formen der Kooperation und Arbeitsteilung zwischen den Gesundheitsprofessionen angestrebt werden. Dies ist bereits möglich im Rahmen von Modellvorhaben nach § 63 Abs. 3c SGB V, wird aber bisher kaum erprobt.

Über die Empfehlung einzelner Maßnahmenpakete hinaus setzt sich der Sachverständigenrat seit vielen Jahren für den Ausbau sektorenübergreifender Versorgungskonzepte ein. In seinem aktuellen Gutachten kommt er dabei zu dem Schluss, dass vernetzte Strukturen speziell für die Versorgung ländlicher Regionen an Bedeutung gewinnen werden. Er empfiehlt zum Beispiel eine langfristige Zusammenführung der drei Bereiche der Notfallversorgung: des vertragsärztlichen Bereitschaftsdienstes, des Rettungsdienstes und der Notaufnahmen am Krankenhaus. Dabei könnten Kliniken eine zunehmend große Rolle spielen. Hier schlägt der Rat interdisziplinäre Notaufnahmen mit Beteiligung von Allgemeinmedizinern vor, um bei Patienten, die keine stationäre Aufnahme benötigen, keine entsprechenden Fehlanreize zu setzen, sondern sie bestmöglich ambulant zu versorgen. Auch bei der Sicherstellung der ambulanten Regelversorgung könnte Krankenhäusern eine größere Rolle zufallen. So wird empfohlen, sie weiter für die ambulante Behandlung zu öffnen. Über eine Gesetzesänderung des § 116a SGB V könnten die Zulassungsausschüsse verpflichtet werden, geeignete Häuser hierzu zu ermächtigen.

Zentralisierung von Angeboten

Im Sinne einer regional vernetzten Versorgung für den ländlichen Raum weitergehender ist das vom Rat entworfene Modell von Lokalen Gesundheitszentren zur Primär- und Langzeitversorgung. Ihr Ausgangspunkt könnte sowohl bei einer Klinik als auch bei Praxen liegen. Kern ist die Integration verschiedener ambulanter und stationärer Versorgungsangebote an einem Ort. Dies bedeutet eine gewisse Zentralisierung medizinischer Versorgungsangebote und kann beispielsweise verschiedene niedergelassene Ärzte, eine Kurzliegerstation und ggf. weitere stationäre Kapazitäten besonders der grundversorgenden Fachgebiete und Geriatrie, zudem Pflegekapazitäten und mitunter auch bestimmte höher spezialisierte Angebote einschließen. Ein zentrales Case Management kann einen reibungslosen Übergang zwischen den Angeboten koordinieren. Mobilitätsdienste tragen dazu bei, die Erreichbarkeit sicherzustellen. Die Integration der Notfallversorgung und auch ein Einbezug von telemedizinischen Angeboten sind denkbar. Durch die Möglichkeit verschiedener Arbeitsmodelle mit besonderem Fokus auf eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf soll die Attraktivität gestärkt werden, in einem entsprechenden Umfeld – ggf. auch für eine umschriebene Zeit – tätig zu werden. Neben der Versorgung in ländlichen Regionen (Teil II) sind weitere zentrale Themen (Teil I) des Gutachtens die Arzneimittelversorgung, Medizinprodukte und der Rehabilitationssektor.

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