Multimedikation

Zu viele Pillen oder doch nur die falschen?

Grafik: Alte Frau mit Krückstock, um Sie herum Gedankenblasen mit Medizin für den täglichen Bedarf.

Die Arzneimittelverordnung ist die meist praktizierte therapeutische Maßnahme. Dabei bestehen bei vielen, insbesondere älteren Patienten häufig mehrere Krankheiten, wie etwa Herzinsuffizienz, Hypertonie oder Demenz, die lebensbegleitende Arzneimitteltherapien erforderlich machen und zu einer sogenannten Multimedikation führen. Hier müssen Wege gefunden werden, um die Herausforderungen komplexer Arzneitherapien besser bewältigen zu können.

Mit der Zahl der Diagnosen steigt auch die Anzahl der verordneten Medikamente. So nehmen über 65-Jährige in etwa der Hälfte der Fälle fünf und mehr Arzneimittel gleichzeitig und in zwölf Prozent sogar mehr als zehn Arzneimittel ein, der Durchschnitt in deutschen Pflegeheimen liegt bei sieben verschiedenen Arzneimitteln. Eine Erklärung für diese Multimedikation (in der Regel definiert als Einnahme von fünf und mehr Arzneimitteln) besteht in der unreflektierten Anwendung von Leitlinien, nach denen sich Ärzte zur Optimierung der Pharmakotherapien ja richten sollen. Jede Leitlinie empfiehlt etwa drei Arzneimittel. Über 80-Jährige weisen im Schnitt über drei Diagnosen auf. Hieraus ergibt sich eine Arzneimittelzahl von dreimal drei, also knapp zehn Medikamente insgesamt. Dies entspricht leider auch der Realität. Der Denkfehler liegt darin, dass es aufgrund der großen Heterogenität der Hochbetagten keine echten evidenzbasierten Leitlinien gibt. Daher sind auch keine Leitlinienübertretungen nötig, um zu einer rationaleren Therapie zu kommen.

Diese ist aber dringend nötig. Multimorbidität kann den Arzt zu einer Polypragmasie (zu viel Diagnostik und zu viele Behandlungen) mit kaum vorhersagbaren Folgen veranlassen. Dabei verursacht eine Fülle von Faktoren netzwerkartig unerwünschte Arzneiwirkungen (UAW), zum Beispiel Organfunktions- und Compliancestörungen, die kein seltener Grund für Krankenhauseinweisungen sind (bis zu 20 Prozent aller Einweisungen). Zudem können UAW als neue Erkrankungen fehlinterpretiert werden, die dann wiederum behandelt werden. In den USA rechnet man mit immerhin etwa 2,1 Millionen Krankenhauseinweisungen und 100.000 Todesfällen pro Jahr durch UAW, in Deutschland geht man von etwa 20.000 Todesfällen aus. Das Autofahren ist mit hierzulande 3.400 Verkehrstoten pro Jahr durch die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte (Gurte, Verkehrsführung, strenge Kontrollen) sicherer.

Entwicklungen dieser Art sind auch für die Arzneisicherheit zu fordern. Dabei ist einiges einfach erreichbar. So nimmt beispielsweise die Nierenfunktion mit zunehmendem Alter ab, was für die Arzneimittelausscheidung wichtig sein kann. Sie lässt sich über einfache Formeln schnell und kostengünstig abschätzen. Weiter beeinflussen krankheits- und altersbedingte Veränderungen der End- oder Zielorgane die Wirkung von Arzneimitteln. Dass über die Nieren ausgeschiedene Arzneimittel bei Nierenschäden angepasst dosiert werden müssen, gehört zum Grundwissen. Dass aber auch Arzneimittel Nierenschäden hervorrufen können, mit zum Teil akuten Vergiftungen, wird weniger beachtet. In erster Linie sind hier Schmerzmittel, die nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR), zu nennen, die zusammen mit ACE-Hemmern oder Diuretika zu akutem Nierenversagen führen können. Bei Hochdruckpatienten macht ein NSAR im Schnitt das Hinzufügen eines weiteren Hochdruckmittels erforderlich und die Häufigkeit kardiovaskulärer Erkrankungen verdreifacht sich. Die hohe Empfindlichkeit des geschädigten, aber auch des alten Gehirns gegenüber Beruhigungs-, Schlaf- und Schmerzmitteln, zum Beispiel Morphin und insbesondere Benzodiazepinen, sei hier eben-falls erwähnt.

Die Herausforderungen komplexer Arzneitherapien sollten jedoch nicht dazu verleiten, erfolgreiche Arzneimittel vorzuenthalten. Wichtig ist, sich auf essenzielle Therapien zu konzentrieren und somit die Zahl der Medikamente zu vermindern, vor allem aber die Qualität der Medikation zu erhöhen. Die Behandlungen des Bluthochdrucks oder des Vorhofflimmerns sind inzwischen auch für ältere Patienten als äußerst erfolgreich belegt. Es ist daher notwendig, die bezüglich Prognose und Symptomen wichtigsten Diagnosen zu erfassen und die Wirksamkeit und Sicherheit der verfügbaren Arzneimittel in der individualisierten Situation zu beurteilen. Unter Alltagsbedingungen (zehn Minuten Kontaktzeit in der primärärztlichen Versorgung) ist dies fast unmöglich. Als Hilfsmittel zur raschen Beurteilung sind daher Listen zu vermeidender Arzneimittel erstellt worden, sogenannte Negativlisten wie zum Beispiel die Beers-Liste oder die in Deutschland entwickelte PRISCUS-Liste. Leider zeigen Studien sehr begrenzte Effekte einer derartigen „Verbotsstrategie“, da sie nicht angibt, wie denn nun behandelt werden soll. Die erste Positiv-/Negativ-Liste für die Alterstauglichkeit von Arzneimitteln ist die FORTA (Fit fOR The Aged)-Liste, die eben auch zeigt, welche Arzneimittel zu geben sind. Hierbei unterscheidet man zwischen vier Kategorien:

  • A – unbedingt geben
  • B – in der Regel geben, es sei denn, dass UAW dagegen sprechen
  • C – nur ausnahmsweise und bei genauer Beobachtung des Patienten geben
  • D – unbedingt vermeiden

Die FORTA-Bewertungen wichtiger Arzneimittel in der chronischen Therapie sind jetzt frei zugänglich (Kuhn-Thiel AM, Weiß C, Wehling M et al. Drugs Aging 31, 131-40, 2014). Ihre Anwendung hat in einer ersten Studie zu einer signifikanten Sturzreduktion (Stürze sind ein großes Altersproblem) geführt. Generell sollte bei Patienten, die fünf und mehr Medikamente einnehmen, ein Anfangsverdacht auf Übertherapie entstehen. Allerdings lässt sich eine optimale Medikation nicht nur an dieser Zahl messen. Vor allem ihre auf die Gesamtsituation des individuellen Patienten bezogene Qualität sollte verbessert werden, damit neben der Übertherapie auch die ebenso häufigen Unter- und Fehltherapien korrigiert werden. Leider fehlen in vielen Bereichen noch Studiendaten zur Arzneimitteltherapie, insbesondere bei älteren Patienten, da sie aus Zulassungsstudien häufig ausgeschlossen werden.

Abschließend muss betont werden, dass jede Arzneimittelanwendung ein Individualexperiment darstellt, das trotz aller Informationen und Vorhersagen nur unter genauer klinischer Kontrolle sicher durchzuführen ist.

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