Reportage

Modellprojekt für psychisch Kranke

Jugendliche handwerken in einem Schulraum.

Wie ein Modellprojekt erfolgreich zur sektorenübergreifenden Versorgung psychisch Kranker beiträgt: Vor knapp anderthalb Jahren haben die sächsischen gesetzlichen Krankenkassen mit dem Heinrich- Braun-Klinikum (HBK) Zwickau einen Selektivvertrag abgeschlossen, der ein Finanzierungssystem vorsieht, das auf ein individuelles ganzheitliches Therapiekonzept abzielt. Ob stationär, teilstationär oder ambulant – die Abrechnung von Leistungen erfolgt im Rahmen eines Gesamtbudgets, sodass sich die Behandlung unabhängig von ökonomischen Anreizen an den Bedürfnissen der Patienten ausrichtet. Das zahlt sich in vielerlei Hinsicht aus.

Es ist ein Neustart für Mutter und Kind. „Wir gehen das zusammen an“, sagt Nadine Beyer (Name v. d. Red. geändert), „und ich bin zuversichtlich, dass wir das hinkriegen.“ Sie spricht von einem gemeinsamen Projekt, einer Aufgabe, die sie Hand in Hand bewältigen. Ihr Sohn Jonas ist Patient in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters am HBK in Zwickau. Der Fünfjährige leidet unter der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts- Störung (ADHS), für ihn und seine Familie eine enorme Belastung. Aber seit gut einem Jahr profitieren die Beyers von einer besonderen Behandlung vor Ort, der Multifamilientherapie. Dieses Behandlungskonzept hat zum Ziel, die Ressourcen von Familien zu stärken, ihre Selbstwirksamkeit zu erhöhen und so den Therapieerfolg positiv zu beeinflussen. Dass das HBK die Multifamilientherapie überhaupt anbieten kann, ist Ergebnis eines besonderen Finanzierungsmodells, das die Kliniken für Erwachsenen- sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie der HBK mit den sächsischen Krankenkassen ausgehandelt hat.

Dabei handelt es sich um ein Modellvorhaben nach § 64b SGB V zur Weiterentwicklung der Versorgung psychisch kranker Menschen sowie des neuen Psych-Entgeltsystems. Im Rahmen eines Selektivvertrags vereinbarten das HBK und die vor Ort tätigen Krankenkassen einschließlich aller sechs Ersatzkassen im Oktober 2013 ein sektorenübergreifendes Modellprojekt für psychisch Erkrankte. Hier erfolgt eine enge Verzahnung von ambulanten und stationären Leistungen. Damit wurden bisherige Fehlanreize durch unterschiedliche Vergütungsstrukturen für ambulante und stationäre Behandlungen beseitigt, denn in der Regel können Krankenhäuser mitunter bestimmte Leistungen nur für stationäre Patienten abrechnen. Jetzt sorgt ein Gesamtbudget für eine finanzielle Sicherheit aufseiten der Klinik.

Hinter der Idee des auf acht Jahre ausgelegten Modellvorhabens steht das Angebot eines ganzheitlichen sektorenübergreifenden Behandlungskonzeptes. Eine damit verknüpfte Erwartung ist, dass sich die vollstationären Aufenthalte zugunsten des Patienten verkürzen. „Dies schließt auch die Erwartung mit ein, dass ein weiterer Bettenausbau vermieden wird“, erklärt Katrin Knoll aus der Landesvertretung Sachsen der Techniker Krankenkasse (TK), die federführend beim Abschluss des Selektivvertrages mitwirkte. Dies wiederum gestaltet sich positiv für den Patienten. Eine bessere Verzahnung der Sektoren optimiere die Behandlung und berücksichtige vor allem weit mehr die individuellen Bedürfnisse, so Knoll.

Dem stimmt Prof. Dr. Horst Haltenhof zu. Er ist Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am HBK und hat die Umsetzung des Modellprojekts mit angestoßen. „Entscheidend ist, dass wir nicht mehr von Fällen reden. Es geht um den Menschen.“ Er spricht von flexibleren Behandlungen und durchlässigen Sektorengrenzen zugunsten der Patienten. Und auch er nimmt den weitläufig zu verzeichnenden Mengenanstieg im stationären Bereich in den Blick. So sei ein Ziel des Vertrags, die Zahl der stationären Behandlungen nicht weiter steigen zu lassen. „Es gibt Grenzen und Gründe für Krankenhausaufenthalte, natürlich kommt man nicht ohne Betten aus. Aber es stimmt eben auch, dass wir davon in Deutschland viel zu viele haben.“ Entsprechend froh sei er, dass sich die HBK-Leitung von dem Modellprojekt habe überzeugen lassen und damit auch anerkenne, dass sich eine erfolgreiche psychiatrische Behandlung unter anderem durch innovative Konzepte auszeichne. Das Modellprojekt erfordere zwangsläufig, dass Abläufe neu organisiert und Personal anders aufgestellt werden müssten, gibt denn auch HBK-Geschäftsführer Rüdiger Glaß zu bedenken. „Aber wir stellen uns diesen Herausforderungen, weil wir von dem Vorhaben und dem positiven Effekt für die Patienten überzeugt sind.“

Voraussetzung allerdings zur Umsetzung des Vertrags sei gewesen, dass sich alle gesetzlichen Krankenkassen dem Selektivvertrag anschlossen, um Parallelstrukturen in der Abrechnung zu vermeiden, betont Bianca Steiner, im HBK für Controlling und Patientenabrechnung zuständig. Dazu komme, dass sich Klinik und Krankenkassen mit diesem Modell von dem sonst üblichen Prüfmechanismus von Leistungen verabschiede. Man vertraue den Ärzten bei der Beurteilung gerechtfertigter Leistungen, lediglich bei Ungereimtheiten würde der Medizinische Dienst eingeschaltet. Dieses Verfahren, so Steiner, müsse dann aber auch für alle Krankenkassen gelten. Es gäbe eben auch Grenzen für selektives Handeln. „Letztendlich machen solche Modellvorhaben nur dann Sinn, wenn sie bei Erfolg auf alle Krankenkassen übergehen“, bestätigt Knoll. Daher wäre es wünschenswert, wenn etablierte Modellprojekte am Ende der Laufzeiten in eine Art Regelversorgung übergingen; quasi der Selektivvertrag als Brückenschlag zum Kollektivsystem.

Für Patienten und Angehörige ist dieses innovative Finanzierungs- und Behandlungskonzept deutlich spürbar, wie nicht nur das Beispiel Multifamilientherapie zeigt. „Insgesamt verlaufen die Übergänge zwischen stationär, teilstationär und psychiatrischer Institutsambulanz fließender, was eine geringere Belastung für den Patienten bedeutet“, sagt Cornelia Stefan, Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters am HBK. Das Modell vertiefe auch das Konzept eines Case-Managers, bei dem der Patient im Laufe der Behandlung verbleibe, ganz gleich in welchem Therapiesetting er sich gerade befinde. „Wir zielen auf eine Therapie aus einer Hand, die den jeweiligen Bedürfnissen gerecht wird“, so Stefan. Denn auch wenn sich die Diagnosen in den psychiatrischen Einrichtungen im HBK zum Großteil auf wesentliche Kategorien verteilen – bei den Kindern und Jugendlichen gehören ADHS, Bindungs- und autistische Störungen zu den häufigsten Krankheitsbildern, bei den Erwachsenen sind es Suchtkrankheiten, Depressionen und neurotische Störungen –, so müsse jede Therapie eben doch individuell zugeschnitten sein. „Diesen Anspruch spiegelt der Modellvertrag im besten Sinne wider.“

Eine Sorge jedoch treibt Stefan wie auch Haltenhof um: Dass solche effektiven wie effizienten Modellvorhaben am Ende zu Personalabbau führen könnten, wenn beispielsweise das Ziel des Bettenabbaus im stationären Bereich erreicht würde. „Dies wäre eine falsche Konsequenz“, sagt Stefan. Vielmehr müsse es dann darum gehen, die Pflegekräfte an anderen Stellen, wie etwa in der Multifamilientherapie, einzusetzen, sie entsprechend zu schulen und Abläufe flexibler zu gestalten. „Der Behandlungsaufwand ist nicht geringer“, betont Stefan, „sondern ein anderer.“ Ein Aufwand, der sich für alle Beteiligten lohne – den Patienten und dessen Familie, das Krankenhaus und die Kassen. „Da sollte man bei Erfolg nicht am falschen Ende sparen.“

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