Pflegeversicherung 2.0

Auf dem Weg zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff

Die Einführung der sozialen Pflegeversicherung vor 20 Jahren war ein weiterer Meilenstein der Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland. Der seit damals im SGB XI verankerte und im Wesentlichen auf die körperlichen Defizite ausgerichtete, also verrichtungsbezogene, Pflegebedürftigkeitsbegriff führte zu einer Benachteiligung von an Demenz erkrankten Personen.

Diese Schieflage wurde schon relativ früh erkannt. Durch eine Reihe von gesetzgeberischen Maßnahmen wurde ab 2001 die Situation von Demenzerkrankten systematisch verbessert. Der entscheidende und überfällige Schritt der Neuausrichtung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs soll mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz erfolgen.

Hierfür waren zwei Expertenbeiräte und mehrere Studien erforderlich. Ende 2006 hatte das Bundesministerium für Gesundheit den Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs eingesetzt. Drei Jahre später legte der Beirat seinen Umsetzungsbericht vor. Dessen wesentliches Ergebnis war die Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Nicht mehr der zeitliche Aufwand für einzelne, vorwiegend auf körperliche Beeinträchtigungen bezogene, Maßnahmen ist der Maßstab für die Einschätzung der Pflegebedürftigkeit, sondern der Grad der Selbstständigkeit. Offen ließ der Bericht allerdings noch zahlreiche Detailfragen zur Einführung.

Im Mai 2012 nahm der Expertenbeirat zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs seine Arbeit auf. Seine Aufgabe war es, inhaltlich an den Bericht des ersten Expertenbeirats anzuknüpfen und die offengebliebenen Fragen zur Finanzierung der Einführung und zur rechtssicheren Überleitung, die für die politische Beratung bedeutsam sind, zu klären. Mit dem Abschlussbericht des zweiten Expertenbeirates 2013 lagen der Politik die erforderlichen Eckpunkte zur Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs vor – jetzt war ihr Handeln gefordert.

Mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (PNG), das zum 1. Januar 2013 in Kraft trat, wurden neue bzw. verbesserte Leistungen für Demenzkranke und ihre Angehörigen eingeführt. Anschließend haben CDU/CSU und SPD im Koalitionsvertrag im Herbst 2013 festgehalten, dass mit der Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs begonnen werden soll. Die Politik entschied sich letztendlich für eine zweistufige Einführung. Mit dem ersten Pflegestärkungsgesetz (PSG I), das zum 1. Januar 2015 in Kraft trat, erfolgten Leistungsverbesserungen – insbesondere eine Ausweitung der Leistungen für Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz sowie eine Flexibilisierung der Leistungsansprüche -, eine Dynamisierung der Leistungen, die Einführung des Pflegevorsorge-Fonds und eine Beitragsanpassung zur Finanzierung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Die Einführung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs soll mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG II) erfolgen. Beabsichtig ist, dass das Gesetz zum 1. Januar 2016 in Kraft tritt, die Umsetzung soll ab dem 1. Januar 2017 erfolgen.

Fünf Pflegegrade statt drei Pflegestufen

Die Erwartungen und Aufgaben, die mit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs bei allen Beteiligten einhergehen – den Pflegebedürftigen und deren Angehörigen, den Pflegeinrichtungen und den Pflegekräften, der Pflegeselbstverwaltung, den Pflegekassen, und letztendlich auch der Politik –, sind hoch. Klar ist, dass sie zu einer vollkommenen Neujustierung des Leistungs-, Vertrags- und Vergütungsrechts führt. Ergebnis ist die Pflegeversicherung 2.0. Demenzerkrankte werden mit der Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs in die Soziale Pflegeversicherung integriert. Leistungsbezieher der Pflegeversicherung erwarten den Schutz ihres jetzigen Besitzstandes. Hier hat der zweite Expertenbeirat klare Vorgaben entwickelt. Vorgeschlagen wurde für Leistungsbezieher ohne eingeschränkte Alltagskompetenz ein einfacher Stufensprung. Das heißt, wer bisher Leistungen der Pflegestufe 2 erhält, wird in den Pflegegrad 3 der künftigen fünf Pflegegrade übergeleitet. Für an Demenz Erkrankte wird ein doppelter Stufensprung vorgeschlagen. Das heißt, wer bisher Leistungen der Pflegestufe 2 erhält, wird in den Pflegegrad 4 übergeleitet. Die Politik wird sich diesem Vorschlag nicht verschließen, da sie immer gefordert hat, dass bisherige Leistungsbezieher nicht schlechter gestellt werden dürfen.

Inwieweit mit dem PSG II die Versicherten mehr Leistungen erhalten, bleibt abzuwarten. Dies hängt vor allem von der Festlegung der Leistungsbeträge durch den Gesetzgeber ab. Eine Anhebung der Leistungsbeträge ist wünschenswert, da die bisherigen Erhöhungen seit der Einführung der Pflegeversicherung nicht der Preisentwicklung für die Pflegevergütungen gefolgt sind. Hier ist die Politik gefordert, entsprechende Entscheidungen zu treffen. Die Ersatzkassen haben bereits im Gesetzgebungsprozess zum PSG I eine an eine wirtschaftliche Kenngröße – z. B. die Preisentwicklung – gekoppelte und im SGB XI verankerte Dynamisierung der Leistungsbeträge gefordert. Mit einer solchen Regelung würde die Dynamisierung der Leistungen weitestgehend von einer finanzpolitischen Diskussion entkoppelt.

Pflegeeinrichtungen und Pflegekräfte haben die Erwartung, dass sie mit Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs mehr Zeit für die Pflege haben und weg von der Minutenpflege kommen. Inwieweit dieser Wunsch in Erfüllung geht, ist schwer abzuschätzen.

Vertrags- und vergütungsrechtliche Anpassungen erforderlich

Richtig ist, dass mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff neben den leistungsrechtlichen Veränderungen auch die vertrags- und vergütungsrechtlichen Bedingungen angepasst werden müssen. Dieser Aufgabe muss sich die Pflegeselbstverwaltung stellen. Im ambulanten und teilstationären Bereich sind die bisher in § 123 SGB XI übergangsweise geregelten Leistungen für Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz in die Verträge zu integrieren. Dies kann im ambulanten Bereich z. B. durch eine Neujustierung der Leistungskomplexe erfolgen.

Im stationären Bereich werden die vertrags- und vergütungsrechtlichen Anpassungen gravierender sein, um die derzeit auf die Pflegestufen ausgerichteten Rahmenverträge und Vergütungsvereinbarungen auf die Pflegegrade umzustellen. Das muss bei ca. 12.000 stationären Pflegeeinrichtungen erfolgen. Die vom Expertenbeirat empfohlene Umsetzungszeit beträgt nur 18 Monate - bei der Menge der Einrichtungen und der Tiefe der Änderungen eine Herausforderung. Außerdem muss noch entschieden werden, ob die zuletzt mit dem PSG I ausgeweiteten Leistungen zur Betreuung und Aktivierung für Pflegebedürftige (§ 87b SGB XI) in die Leistungen der teilstationären und vollstationären Pflege (§§ 41 und 43 SGB XI) integriert werden, oder ob diese Leistungen weiterhin als „Sonderleistungen“ bestehen bleiben.

Bei der Neuausrichtung der Rahmenverträge und der Vergütungsvereinbarungen werden auch die Personalschlüssel auf die Pflegegrade neu zu justieren sein. Dies wird eine der größten Herausforderungen der Vertragspartner. Außerdem gibt es in der Politik Überlegungen, im stationären Bereich einrichtungsinterne und pflegegradübergreifende einheitliche Eigenanteile für die Versicherten einzuführen. Zu diesen beiden Punkten muss die Politik klare Entscheidungen treffen und Vorgaben entwerfen, die dann von der Selbstverwaltung umzusetzen sind. Es sollte auf die Erfahrungen bei der Einführung der Pflegeversicherung zurückgegriffen werden. Hier hatte der Gesetzgeber klare Überleitungsregelungen entwickelt, die den Beteiligten die Umsetzung erleichterten haben.

Die Pflegekassen erwarten, dass durch die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs das Dickicht des leistungsrechtlichen Dschungels durch wiederholtes Andocken von Leistungsverbesserungen, z. B. für Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, gelichtet wird. Die Leistungsinanspruchnahme und damit auch das leistungsrechtliche Geschehen soll sich für Versicherte und Kassen klarer darstellen und unbürokratischer werden, beispielsweise was Kostenerstattungsverfahren oder die Gleichbewertung der Verhinderungs- und Kurzzeitpflege angeht.

Der seit langem von allen erwartete neue Pflegebedürftigkeitsbegriff wird mit dem PSG II kommen und die bisherige ungleiche Behandlung von kognitiv und psychisch eingeschränkten Pflegebedürftigen im Vergleich zu körperlich Eingeschränkten beenden. Ein weitaus größerer Personenkreis von Versicherten kann zukünftig Leistungen der Pflegeversicherung erhalten. Die Ersatzkassen haben sich von Beginn aktiv an der Diskussion zur Ausgestaltung des Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs beteiligt und die jetzt erreichte Gleichbehandlung von Pflegebedürftigen unabhängig von ihren Einschränkungen gefordert.

Für die Einführung und Umsetzung in der Praxis ist es für alle Beteiligten wichtig, dass der Gesetzgeber konkrete und rechtssichere Festlegungen zum Inhalt des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, zum Übergang von Pflegestufen zu Pflegegraden und zum Bestandsschutz trifft.

Die Umsetzung der Pflegeversicherung 2.0 wird alle Beteiligten – Politik, Versicherte, Pflegekassen und Leistungserbringer – vor große weitere Herausforderungen stellen. Der Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) wird diesen Prozess aktiv begleiten.

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