Erprobungsstudie

Versorgungsaufwände in stationären Einrichtungen

Statistik: Zeitaufwände nach Pflegegraden. HTML-Version im Longdesc-Attribut.

Mit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, der auf einem neuen Begutachtungsassessment (NBA) beruht, müssen auch die Leistungshöhen der neu geschaffenen Pflegegrade festgelegt werden. Die Studie zur Erfassung der Versorgungsaufwände in der stationären Pflege (EVIS) untersucht die gegenwärtige pflegerische, gesundheitliche und betreuerische Versorgungssituation und liefert bedeutende Hinweise auf die Kompatibilität des NBA.

Der derzeitige Pflegebedürftigkeitsbegriff ist streng somatisch ausgerichtet und berücksichtigt die besonderen Belange der kognitiv beeinträchtigten Menschen, insbesondere  der Menschen mit Demenz, nicht angemessen. Bereits 2006 hat das Bundesgesundheitsministerium daher einen Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs eingesetzt, der wiederum in insgesamt drei Berichten einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff vorschlug, der auf einem neuen Begutachtungsassessment (NBA) beruht. Im Koalitionsvertrag wird die Einführung dieses neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs in dieser Legislaturperiode gefordert, und Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe kündigte seine Einführung für 2017 an.

Vor Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs müssen allerdings Leistungssätze für die neu geschaffenen Pflegegrade festgesetzt werden. Der Expertenbeirat hat dazu lediglich Modellrechnungen vorgelegt, aber keine Empfehlungen abgegeben, gleichzeitig allerdings festgestellt: „In der stationären Versorgung (...) können mit empirischen Studien zum professionellen Pflegeaufwand Hinweise gewonnen werden, die die fachliche Begründung von Leistungshöhen und -spreizungen unterstützen können.“ (Bericht des Expertenbeirats, S. 9, Ziffer 11)

Studienziel, Daten und Methoden

Mit der Studie zur Erfassung der Versorgungsaufwände in der stationären Pflege (EVIS) wurde dieser Auftrag umgesetzt und eine umfassende empirische Bestandsaufnahme der gegenwärtigen pflegerischen, gesundheitlichen und betreuerischen Versorgungssituation vorgenommen. EVIS ist als Querschnittsstudie mit Echtzeitmessungen konzipiert. Mittels EDV-gestützter Selbstaufschriebe mit vorgegebenen Tätigkeitslisten und Interventionskatalog wurden sämtliche erbrachten Pflege- und Betreuungsleistungen in Echtzeit durch Mitarbeiter von stationären Langzeitpflegeeinrichtungen erfasst. Innerhalb von zwei Wochen vor oder nach der Leistungserfassung erfolgte eine Begutachtung der Bewohner zur Ermittlung des Pflegegrades durch Mitarbeiter der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK). Im Zeitraum von Juni bis November 2011 wurden in sieben Bundesländern (Bremen, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Baden Württemberg) Daten von 1.586 Bewohnern aus 39 Pflegeeinrichtungen erhoben. In Bezug auf Geschlecht, Pflegestufenverteilung, Alter und PEA-Status (Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz) der Bewohner ist die Stichprobe repräsentativ für die Pflegeheimbewohner in Deutschland.

Aus der Fülle der Einzelergebnisse können zwei Schlussfolgerungen hervorgehoben werden, die für die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs von besonderer Bedeutung sind.

Schlussfolgerung 1:

Die Höhe der Versorgungsaufwände korrespondiert mit den Pflegegraden: Mit steigendem Pflegegrad steigt auch der Versorgungsaufwand. Die Relation der Mittelwerte liefert damit wichtige Hinweise für die Gestaltung des Leistungsrechts für die neuen Pflegegrade.

Für die Pflegegrade 1 bis 4 verläuft die Steigerung der Versorgungsaufwände im Mittel annähernd linear. Für den Übergang von Pflegegrad 4 zu 5 gilt dies nicht im gleichen Maße. Hier ist die Aufwandssteigerung unterproportional. Zwar steigen die Zeitaufwände für die Grundpflege, gleichzeitig sinken aber die Aufwände für die soziale Betreuung. Dies ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass die Bewohner mit Pflegegrad 5 nur noch in geringem Umfang an Gruppenaktivitäten teilnehmen. Dies veranschaulichen auch die beiden Abbildungen. Dabei sind in der Abbildung 1 weniger die absoluten Zeitwerte relevant als vielmehr deren Relation zueinander. Abbildung 2 zeigt, wie Gruppenaktivitäten bzw. die jeweiligen Versorgungszeiten/Zeitaufwände aus der Perspektive der Bewohner sowie der Mitarbeiter bewertet werden.

Für die Weiterentwicklung der Pflege stellt sich daher die Frage, ob der Bedarf nach sozialer Betreuung in dieser Gruppe tatsächlich nur noch gering ausgeprägt ist oder ob für diesen Personenkreis andere Wege gefunden werden müssen, soziale Betreuung zu gewährleisten.

Schlussfolgerung 2:

Das NBA ist in der Lage, kognitive und somatische Einschränkungen angemessen und vergleichbar zu erfassen. Innerhalb der neuen Pflegegrade unterscheiden sich die Zeitaufwände für Personen mit somatischen und kognitiven Einschränkungen nicht signifikant. Damit ist das NBA dem derzeitigen Begutachtungssystem deutlich überlegen. Innerhalb der Pflegestufen unterscheiden sich die Zeitaufwände für diese beiden Personengruppen nämlich erheblich.

Bekanntermaßen wird die eingeschränkte Alltagskompetenz im derzeitigen Begutachtungsverfahren bei der Bestimmung der Pflegestufen nicht angemessen gewürdigt. Folglich erhalten Personen mit und ohne eingeschränkte Alltagskompetenz die gleiche Pflegestufe, obwohl sich ihre Bedarfe quantitativ erheblich unterscheiden. Innerhalb der gleichen Pflegestufe übersteigen die Zeitaufwände für Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz diejenigen für Personen ohne eingeschränkte Alltagskompetenz erheblich. Innerhalb der neuen Pflegegrade unterscheiden sich die Zeitaufwände bei einer mitarbeiterbezogenen Betrachtung dagegen nur noch in geringerem Ausmaß. Werden Personen mit somatischen und kognitiven Einschränkungen anhand der Merkmale des NBA miteinander verglichen, so sind keine systematischen Unterschiede mehr erkennbar. Insofern funktioniert das NBA.

Fazit

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass das NBA eine Abbildung von Pflegebedürftigkeit liefert, die mit der tatsächlichen Versorgungssituation kompatibel ist. Sie geben dem Gesetzgeber zudem Hinweise auf fachlich begründete Festsetzungen von Leistungshöhen und Regeln für die Überleitung von Pflegesätzen von alten Pflegestufen in neue Pflegegrade. Erst wenn diese Festlegungen vorliegen, kann die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs erfolgen.

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