Compliance

Therapietreue muss fest verankert werden

Illustration: Patient steht vor einem Pillenschrank

Es gibt ein Gesundheitsproblem, an dem etwa 20 Millionen Bundesbürger leiden, von denen etwa 40.000 jährlich sterben und das mindestens zehn Milliarden Euro vermeidbare Kosten pro Jahr verursacht. Die Rede ist von „Non-Adherence“, der sogenannten mangelnden Therapietreue. Maßnahmen zum Erhalt der Therapietreue gibt es seit Langem, doch werden diese in Deutschland bislang nicht flächendeckend in der Regelversorgung angeboten.

Auf der einen Seite gibt es Krankheiten und Gesundheitsprobleme, die nicht wirksam behandelt werden können, weil die Medizin bis jetzt ihre Ursachen nicht entdeckt bzw. keine wirksame Behandlung dagegen gefunden hat. Auf der anderen Seite aber sind deren Ursachen sowie Therapien bekannt, und doch bleibt eine entsprechend ausreichend wirksame Behandlung aus. Dies betrifft vor allem auch Patienten, die an chronischen, lebensbedrohlichen Erkrankungen leiden. Man spricht hier von „Non-Adherence“ oder „Non-Compliance“ bzw. mangelnder Therapietreue. Diese Fachbegriffe beschreiben folgendes Verhalten: Ein Patient einigt sich mit seinem Therapeuten auf eine bestimmte Langzeitbehandlung, schafft es aber in der Folgezeit dann nicht, diese Behandlung im erforderlichen Maße durchzuhalten. Mindestens 50 Prozent der chronisch erkrankten, behandlungsbedürftigen Bundesbürger gehören zu dieser Gruppe. Etwa 40.000 Menschen in Deutschland sterben pro Jahr an den Folgen ihrer mangelnden Therapietreue. Zudem verursacht diese mangelnde Therapietreue jährlich mindestens zehn Milliarden Euro eigentlich vermeidbarer Kosten.

Es gibt zwar seit Langem hochwirksame Strategien zur Verbesserung der Therapietreue, diese werden jedoch in der Regelversorgung hierzulande nicht angeboten. Bereits 2003 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem Bericht „Adherence to long-term therapies: evidence for action“ auf diese Situation hingewiesen. Der Report belegt eindeutig, dass „Non-Adherence“ derzeit das wichtigste Gesundheitsproblem weltweit darstellt.  

Ein Beispiel aus Deutschland: Depression und Schizophrenie sind zwei typische chronische Erkrankungen, die mit großem Leid für die Betroffenen, einer deutlich erhöhten Sterblichkeitsrate und immensen Kosten verbunden sind. Durch eine konsequente Langzeitbehandlung kann die Rückfallrate bei beiden Erkrankungen um mindestens 50 Prozent gesenkt werden. Die meisten Erkrankten entschließen sich auch nach einer akuten Erkrankung zur Durchführung dieser medizinisch indizierten Langzeitbehandlung. Aber: Mehr als 50 Prozent von ihnen schaffen es nicht, diese Behandlung lange genug durchzuhalten. Und dies ist ihnen auch nicht persönlich vorzuwerfen: Weder der Autor noch viele andere Menschen schaffen es, selbst einfachere, gesundheitserhaltende Maßnahmen (zum Beispiel eine Parodontose-Prophylaxe) durchzuhalten. Wenn laut WHO-Report mehr als 50 Prozent der chronisch kranken Menschen mangelnde Therapietreue zeigen, dann ist es eine der wichtigsten Aufgaben eines modernen Gesundheitssystems, Maßnahmen zum Erhalt der Therapietreue flächendeckend in der Regelversorgung anzubieten.  

Genau dies haben wir in der psychiatrischen Ambulanz der Technischen Universität (TU) München in Zusammenarbeit mit einigen Krankenkassen 2005 getan. Patienten in einem bestimmten Versorgungssektor, die an einer chronischen Depression oder Schizophrenie leiden, wurde angeboten, sie im Rahmen eines integrierten Versorgungsvertrags und im Rahmen der Regelversorgung beim Durchhalten der von ihnen gewählten Langzeitbehandlung zu unterstützen. Dabei waren folgende Elemente und damit Maßnahmen zum Erhalt der Therapietreue wichtig:

  • Den Patienten und ihren Angehörigen wurde ausführlich und laiengerecht vermittelt, wie hilfreich die Behandlung für sie und das Erreichen ihrer individuellen Ziele ist (Psychoedukation).
  • Sie wurden aktiv in alle Behandlungsentscheidungen einbezogen (Shared Decision Making).
  • Sie wurden an alle erforderlichen Behandlungsmaßnahmen immer wieder erinnert.
  • Das gesamte Behandlungssetting wurde für sie insgesamt so attraktiv gestaltet, dass sie freiwillig und gerne die Langzeitbehandlung durchgehalten haben.  

Man sollte meinen, alle diese Maßnahmen seien längst selbstverständlicher Bestandteil moderner Therapie von chronischen Erkrankungen. Leider trifft das für die Regelversorgung hierzulande aber nicht zu, was verheerende Folgen für die Lebensqualität und die Behandlungsergebnisse der betroffenen Menschen, aber auch für die Gesundheitskosten, hat. Eine wissenschaftliche Auswertung der Behandlungsergebnisse des integrierten Versorgungsprogramms zur Verbesserung der Therapietreue ergab anhand von Daten u. a. der Krankenkassen, dass die Patienten durch den Einschluss in das Programm in den folgenden 18 Monaten 75 Prozent weniger Krankenhaustage wegen Rückfällen hatten als vorher. Patienten und Angehörige waren darüber sehr glücklich, aber auch die beteiligten Krankenkassen freuten sich über die um 75 Prozent reduzierten Krankenhauskosten. Und auch für die beteiligten Leistungserbringer war die drastische Reduktion der Rückfallraten ein sehr befriedigendes und ermutigendes Ergebnis.  

Die große Enttäuschung kam dann allerdings einige Jahre später. Entgegen der Erwartung werden solche Programme zur Aufrechterhaltung der Therapietreue hierzulande auch weiterhin weder für chronische psychiatrische Erkrankungen noch für körperliche Erkrankungen in der Regelversorgung flächendeckend angeboten. Bei der Suche nach Erklärungen hierfür stieß man immer wieder auf drei wesentliche Argumente:  

  • Kosteneinsparungen ließen sich für die Krankenkassen in der Regelversorgung nicht realisieren, weil die Leistungserbringer Wege fänden, zum Beispiel die bei einer Patientengruppe eingesparten stationären Behandlungskosten durch die zusätzliche stationäre Behandlung anderer Patientengruppen auszugleichen.
  • Integrierte Versorgungsverträge seien für Krankenkassen und Leistungserbringer in der Genehmigung, Abrechnung und Umsetzung viel zu aufwändig und lohnten sich deshalb für niemanden.
  • Kosteneinsparungen würden sich mittel- und langfristig für die Krankenkassen nicht positiv auswirken, weil sie immer durch entsprechende Gegenmaßnahmen ausgeglichen würden (Stichwort Risikostrukturausgleich).  

Wahrscheinlich gibt es diese und viele andere Hindernisse. Dass sie für Politik, Krankenkassen und Leistungserbringer wirklich unüberwindbar sind, ist aber fragwürdig. Ein Land wie Deutschland mit einem vorbildlichen Gesundheitssystem sollte es schaffen, so ein wichtiges gesundheitspolitisches Problem zu lösen.

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