Interview

"Strategie ist Sache der Selbstverwaltung"

Frank Plate gestikulierend im Interview

Das Gesundheitswesen ist in diesem Jahr geprägt von Reformpaketen, die sich zwangsläufig auch finanziell auf die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) auswirken. Insgesamt prognostiziert der GKV-Schätzerkreis für 2016 eine Deckungslücke im Gesundheitsfonds von rund 14 Milliarden Euro. Frank Plate ist seit Mitte März 2015 Präsident des Bundesversicherungsamtes (BVA). Das BVA führt die Rechtsaufsicht über die bundesunmittelbaren Träger der Sozialversicherung mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung und ist unter anderem auch für die Verwaltung des Gesundheitsfonds in der GKV verantwortlich. Im Interview mit ersatzkasse magazin. spricht er über Tätigkeiten und Einfluss des BVA, die finanzielle Entwicklung in der GKV und das Zusammenspiel zwischen BVA und Selbstverwaltung.

Herr Plate, wenn Sie auf die letzten Monate zurückblicken, wie haben Sie sich in Ihr Amt ein- gefunden?

Frank Plate Die Einarbeitung in diesen Monaten war sehr intensiv. Unterstützt durch das ganze Haus habe ich mich sehr gut eingefunden. Hilfreich hierbei war auch der Umstand, dass ich bereits von 1999 bis 2010, also gut elf Jahre, beim BVA in der Abteilung 1 tätig war, die übergreifende Aufgaben wahrnimmt, also einen starken Bezug zu allen Fachabteilungen des Hauses hat. Damit kannte ich das Haus insgesamt schon recht gut. Auch meine letzte Tätigkeit im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat mir sehr geholfen, wo ich mich weitgehend um die Themen Personal, Haushalt und Controlling gekümmert habe.  

Wo liegen die Schwerpunkte in der Arbeit des BVA?

Das BVA wurde 1956 zunächst als klassische Aufsichtsbehörde für die bundesunmittelbaren Sozialversicherungsträger errichtet. Die Zweige, in denen wir die Aufsicht führen, sind die Krankenversicherung mit der Pflegeversicherung, die Renten- sowie die Unfallversicherung. Vor allem in den vergangenen zwei Jahrzehnten sind dann nach und nach auch wichtige Verwaltungsaufgaben hinzugekommen; beispielhaft möchte ich für den Bereich der Krankenversicherung vor allem den Risikostrukturausgleich und den Gesundheitsfonds nennen. Diese Aufgaben stellen einen eigenständigen Verantwortungsbereich dar und werden von uns – anders als der Aufsichtsbereich – für das Gesamtsystem wahrgenommen.

Die landesunmittelbaren Versicherungsträger fallen unter die Landesaufsichten. Führen diese unterschiedlichen Zuständigkeiten zu Reibungspunkten?  

Man muss zunächst festhalten, dass sich diese unterschiedlichen Aufsichtszuständigkeiten aus der Verfassung herleiten und unserem föderalen System geschuldet sind. Da neben dem BVA 16 weitere Aufsichtsbehörden existieren und jede autonom in ihrem Zuständigkeitsbereich entscheidet, liegt es auf der Hand, dass es auch unterschiedliche Rechtsauffassungen zu bestimmten Themen gibt. Und es ist dann auch sehr unterschiedlich, wer die „strengere“ Auffassung vertritt, einzelne Länderaufsichten oder das BVA. Auch wenn die Aufsichtsbehörden sich auf ihren Arbeitstagungen und Arbeitsgruppensitzungen bemühen, Konsens herzustellen, gelingt dies allerdings nicht immer. Die jeweils zuständige Aufsicht entscheidet dann aufgrund ihres gesetzlichen Auftrags in eigener Verantwortung.

In der Vergangenheit kam es beispielsweise im Zuge von Selektivverträgen zu unterschiedlichen Bewertungen und Beanstandungen seitens des BVA und der jeweiligen Landesaufsicht. Sind das Ausnahmefälle?

Ich möchte zunächst auf meine Antwort zur  vorangegangenen Frage verweisen und gehe davon aus, dass es sich eher um Einzelfälle handelt. Speziell zu den Selektivverträgen gibt es eine eigens hierfür eingerichtete Arbeitsgruppe der Aufsichtsbehörden, die sich ausschließlich mit diesem Themenkomplex befasst und hier um eine einheitliche Auslegung der gesetzlichen Regelungen bemüht ist.

Wäre eine einheitliche Aufsichtspraxis wünschenswert?

Das ist aufgrund des bereits beschriebenen  föderalen Systems illusorisch. Unterschiedliche Rechtsauffassungen wird es immer geben. Wenn etwas anderes gewünscht ist, bedarf es hierzu entsprechender verfassungsrechtlicher und gesetzlicher Regelungen. Geschieht dies nicht, werden wir auch weiterhin mit dieser Situation leben müssen.

Für das BVA stand im letzten Jahr die Umstellung auf einen neuen kassenindividuellen prozentualen Zusatzbeitrag in der GKV im Fokus. Wieso war diese Reform notwendig?

Die Notwendigkeit von gesetzlichen Änderungen beurteilt letztlich der hierzu berufene Gesetzgeber. In den vergangenen Jahren gab es unterschiedliche Formen von zusätzlichen Beiträgen. Wie in der Vergangenheit war auch die jetzige Entscheidung letztlich eine politische Entscheidung. Im Rahmen unserer Aufgabenstellung ist entscheidend, dass  wir bei der Genehmigung des Zusatzbeitrages aber auch unterjährig darauf achten, dass die Krankenkassen im Rahmen des geltenden Rechts ausreichend finanziert sind.

Der durchschnittliche Zusatzbeitrag steigt im nächsten Jahr um 0,2 Beitragssatzpunkte auf 1,1 Prozent, die Kassen setzen ihren Beitragssatz entsprechend ihrer kassenindividuellen Situation fest. Ist zu befürchten, dass es zu einer großen Wechselwanderung der Versicherten kommt?

Wie ich gehört habe, hatte man diese Sorge ja auch schon zu Beginn dieses Jahres. Sie hat sich aber nicht bestätigt, die Befürchtungen, die man hatte, sind nicht eingetreten. Bei der Festlegung des Zusatzbeitrags und der strategischen Ausrichtung seitens der einzelnen Kasse spielt die mögliche Reaktion der Versicherten sicherlich eine Rolle. Die Bestimmung des Zusatzbeitrages ist die ureigene Entscheidung der Selbstverwaltung, solange sich die Kassen aus unserer Sicht im Rahmen dessen bewegen, was finanziell vertretbar ist. Ob und zu welchen Wechselwanderungen es unter den Versicherten kommen wird, ist schwer vorhersagbar.

Aber ist nicht zu erwarten, dass die Spreizung bei den Zusatzbeitragssätzen weiter zunimmt? Einige Kassen verfügen noch über Reserven, andere nicht. Das wird doch sicher auch den Wettbewerb beeinflussen.  

Das ist richtig. Aber solange die Kassen sich im rechtlichen Rahmen bewegen und die Mindestrücklage nicht unterschreiten, ist es ihre strategische Entscheidung, ob sie vorhandene Reserven zur Senkung ihres Zusatzbeitrages einsetzen.

Krankenkassen mit erhöhtem Zusatzbeitrag müssen ihre Mitglieder über die Möglichkeit des Kassenwechsels in eine günstigere Krankenkasse informieren. Das gibt es eigentlich in keiner anderen Branche. Ist zu befürchten, dass der Wettbewerb im Zuge der Hinweispflicht nur noch über den Preis läuft, weniger über die Leistung?  

Das ist nicht ausgeschlossen. Während es in vielen anderen Bereichen mit dem reinen Hinweis auf ein Sonderkündigungsrecht bei Preis- oder Beitragsänderungen sein Bewenden hat, hat der Gesetzgeber hier die weitergehende Hinweispflicht vorgegeben.

Der GKV-Schätzerkreis geht von einer Deckungslücke im Gesundheitsfonds von 11,1 Milliarden Euro in 2015 aus, von 14 Milliarden Euro in 2016. Wie schätzen Sie diese finanzielle Entwicklung in der GKV ein?

Das Ergebnis hat mich nicht überrascht. Man muss wissen, dass es in der jetzigen Zeit viele Unwägbarkeiten gibt sowohl hinsichtlich der Einnahmen als auch hinsichtlich der Ausgaben. Von daher würde ich sagen, es war eher schwierig, eine Prognose zu formulieren. Aber die Experten haben ein einheitliches Votum abgegeben, und das kann ich nur gutheißen.  

Zugleich weist die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds Überschüsse aus. Wäre es angesichts des prognostizierten Defizits ratsam, eine Obergrenze für die Liquiditätsreserve einzuführen, um ggf. Überschreitungen für Zuweisungen an die Krankenkassen zu nutzen?

Auch das ist eine politische Entscheidung. Unabhängig davon ist festzuhalten, dass der Gesetzgeber schon einige Maßnahmen beschlossen hat, die auf den Gesundheitsfonds und seine Reserven zurückgreifen, etwa die Entnahme von Mitteln für den Innovationsfonds und den Krankenhausstrukturfonds. Die Reserven werden also bereits deshalb zurückgehen. Und die Reserve erfüllt natürlich auch einen weiteren Zweck. Wenn die Konjunktur weniger gut läuft und die Einnahmen wegbrechen, ist es letztlich der Gesundheitsfonds mit seiner Liquiditätsreserve, der dies auffängt.

Die Finanzergebnisse der Kassenarten fallen unterschiedlich aus, was zeigt, dass der Finanzausgleich über den Risikostrukturausgleich (RSA) nicht hinreichend funktioniert. Wo besteht Potenzial zur Weiterentwicklung?

Zunächst ist zu sagen, dass die Auswirkungen auch innerhalb der Kassenarten höchst unterschiedlich sind. Und ich kann Ihnen sagen, alle Kassenarten waren bei mir und haben sich über den Risikostrukturausgleich beklagt. Wenn alle klagen, dann kann das System ja nicht so ungerecht sein. Im Ernst: Der Risikostrukturausgleich ist ein System, das sich ständig weiterentwickelt. Wir haben jetzt Gutachten zum Krankengeld und zu den Auslandsversicherten in Auftrag gegeben; diese werden nächstes Jahr vorliegen und ausgewertet werden. Der Wissenschaftliche Beirat hat in seiner Evaluierung 2011 Schwachstellen des Risikostrukturausgleichs aufgedeckt, und die sollen mit den Gutachten abgearbeitet werden. Aber es wird immer so sein, dass derjenige, dem Geld genommen wird, das ein anderer bekommt, dies als ungerecht empfinden wird. Der zu verteilende Kuchen wird ja durch Änderungen im RSA nicht größer.

Aber die Zahlen kann man nicht wegdiskutieren – einige Kassenarten weisen eine deutliche Unterdeckung, manche eine Überdeckung auf. Müssen da nicht doch neue Lösungen her, wird zum Beispiel eine Regionalkomponente politisch diskutiert?

Noch einmal: Der Ausgleich zielt nicht auf die Kassenarten, sondern auf die einzelnen Kassen. Das Ergebnis der Kassenart ist keine RSA-Größe. Mit Blick auf die Diskussion zum Thema Regionalisierung sind wir vollkommen offen. Nur wenn ich den RSA nicht kassenartenbezogen regeln kann, kann ich ihn bestimmt auch nicht bundesländerbezogen regeln. Der RSA ist kein Länderfinanzausgleich. Dieser länderbezogenen Betrachtungsweise sind ja aber auch schon verfassungsgerichtlich Grenzen aufgezeigt worden. Man kann durchaus Überlegungen anstellen, spezifische regionale Besonderheiten im RSA zu berücksichtigen. Auf der anderen Seite sollte aber auch nicht reine Überversorgung finanziert werden.

Sie erwähnten bereits den Innovations- und Krankenhausstrukturfonds. Wie muss man sich hier die Systematik und Organisation vorstellen?  

Das ist aus unserer Sicht relativ einfach, denn Erfahrungen mit Fonds haben wir ja schon. Wir haben den Gesundheitsfonds aufgebaut und wir verwalten den Ausgleichsfonds in der Pflegeversicherung. Insgesamt sind die Fondsstrukturen ähnlich. Natürlich müssen wir uns die Besonderheiten des Innovationsfonds und des Krankenhausstrukturfonds und die damit verbundenen Aufgaben genau anschauen. Aber die Strukturen sind eng an den Gesundheitsfonds angelehnt. Genau deshalb sind sie ja auch bei uns angesiedelt. Natürlich ist das nicht nebenher zu machen, wir benötigen entsprechend zusätzliches Personal. Aber die Aufgabe ist für uns keine Zauberei, sondern lässt sich im üblichen Verwaltungsverfahren gut einbinden.  

Die Reformgesetze dieser Wahlperiode waren alle geprägt durch Mehrausgaben. Ist es nicht an der Zeit, auch mal wieder ans Sparen zu denken?  

Auch hierfür bin ich nicht der richtige Ansprechpartner. Ich bin seit fast 25 Jahren im Bereich Sozialversicherung tätig, und da lassen sich Wellenbewegungen beobachten. Es gab Zeiten, in denen Reformgesetze betrieben wurden, und dann wieder Phasen mit Spargesetzen. Nun hatten wir in der Vergangenheit eine Zeit lang einige Spargesetze, während die jetzige Regierung sich für Leistungsverbesserungen und Innovation einsetzt. Ich gehe davon aus, dass sich bei steigenden Ausgaben der Druck wieder verstärken wird, wo und wie möglicherweise gespart werden kann.

Zuletzt noch ein Blick auf den Kassenmarkt. Beschlossen wurde kürzlich die Fusion der BARMER GEK mit der Deutschen BKK. Auf der einen Seite haben wir solche großen Fusionen, auf der anderen Seite kleine Kassen, die sich nach wie vor am Markt behaupten. Wohin geht der Trend?  

Die Welt ist bunt. Die Motivation und Hintergründe für Fusionen sind höchst unterschiedlich, manchmal sind die Gründe finanzieller Natur, manchmal passen die Versichertenstrukturen gut zusammen. Ich gehe davon aus, dass es auch in den nächsten Jahren weiterhin in moderatem Maße Fusionen geben wird. Für uns geht es dann darum, rechtlich zu beurteilen, ob die finanzielle Situation einer neuen Kasse tragfähig ist.

Wie genau bindet sich das BVA bei Fusionsvorhaben ein?  

Grundsätzlich kommt das BVA relativ spät ins Spiel. Die Entscheidung über eine Fusion ist zunächst die Entscheidung der Selbstverwaltung der beteiligten Krankenkassen. Sie regeln die Rechtsbeziehungen untereinander und zu Dritten und legen dar, wie die Kassen zusammenwachsen sollen hinsichtlich Organisation, Personal, Verwaltung. Das Konzept, wie eine Kasse aufzustellen ist, ist ebenfalls Sache der Selbstverwaltung. Wir prüfen die Satzung des neuen Trägers auf Rechtsmäßigkeit, einschließlich des geplanten Zusatzbeitrags, sowie die Vereinbarung über die Rechtsbeziehungen zu Dritten und genehmigen dann die Fusion. Letztendlich beschränkt sich unsere Aufgabenstellung auf die Prüfung der rechtlichen Rahmenbedingungen.

Wo sehen Sie im nächsten Jahr die großen Herausforderungen für die Krankenkassen?  

Allgemein sollte eine gleichmäßige, ausreichende und qualitativ möglichst hochwertige Versorgung der Versicherten gewährleistet sein, und das auf einer soliden Finanzgrundlage. Im nächsten Jahr besteht die Herausforderung für die Krankenkassen zunächst darin, die zahlreichen Gesetze im Gesundheitswesen, die aktuell verabschiedet wurden bzw. werden, in die Praxis umzusetzen. Hier sind auch wir als BVA gefordert, diese Umsetzung entsprechend zu begleiten. In dem Zusammenhang ist für mich ganz besonders wichtig, die Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen dem BVA und den Krankenkassen bzw. deren Selbstverwaltungen zu stärken. Mein Ziel ist, eine Vertrauensbasis zu schaffen, die Dialogbereitschaft, Informationsaustausch und Sachlichkeit umfasst, um gemeinsam die anstehenden Aufgaben zu bewältigen und bestmögliche Lösungen für die Versicherten zu finden.

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