Onkologie

Kostenexplosion in der medikamentösen Therapie

Illustration: Berg aus Medikamenten

Es ist zu einem enormen Preisanstieg bei onkologischen Arzneimitteln – auch bei solchen mit nur marginalem klinischem Nutzen – gekommen, der unser solidarisch finanziertes Gesundheitssystem vor große finanzielle Herausforderungen stellt. Deshalb sollten falsche Anreize für redundante Forschung und Entwicklung von onkologischen Wirkstoffen beseitigt werden. Darüber hinaus sollten verstärkt wissenschaftliche Projekte gefördert werden, die für die Festlegung eines am patientenrelevanten Nutzen orientierten Preises von Bedeutung sind.

Etwa ein Viertel aller jährlich neu zugelassenen Wirkstoffe sind für die Behandlung solider Tumoren bzw. hämatologischer Neoplasien vorgesehen, häufig als Orphan Drugs für seltene Leiden und/oder nach beschleunigten Zulassungsverfahren. Gleichzeitig haben die pharmazeutischen Unternehmen (pU) erfolgreich eine strategische Kehrtwende vorgenommen und streben heute statt nach Größe eher nach Positionierung in Erfolg versprechenden Therapiegebieten, wie beispielsweise der Onkologie. Verantwortlich hierfür sind neben der demografischen Entwicklung – mit Anstieg der Prävalenz an Krebserkrankungen bei alternder Bevölkerung – und den Fortschritten im Verständnis der molekulargenetischen Grundlagen des Tumorwachstums vor allem das Auslaufen zahlreicher Patente für Blockbuster zur Behandlung von Volkskrankheiten und die Notwendigkeit, Aktivitäten im Bereich Forschung und Entwicklung effizienter zu gestalten. Angesichts des meist sehr lukrativen Marktvolumens im Bereich der Onkologie und neuer Hoffnungsträger, vor allem für die Immuntherapie, werden zukünftig eine weitere Fokussierung auf spezielle Indikationen (z. B. Melanom, Lungen- und Blasenkrebs) und strategische Erwägungen (z. B. Alleinstellungsmerkmal und somit Schutz vor Konkurrenz) eine wichtige Rolle spielen.  

In Europa erfolgt die Zulassung bzw. Indikationsausweitung für alle onkologischen Arzneimittel in einem zentralisierten Verfahren der European Medicines Agency (EMA). Für die Durchführung sowohl der explorativen Phase-I/II-Studien als auch der konfirmatorischen Phase-III-Studien wurden insbesondere als Methode zur Maximierung des Gesamtnutzens bei knappen finanziellen Ressourcen kritisiert. Es wäre beispielsweise denkbar, dass für die Linderung kurz andauernder Symptome in der letzten Lebensphase an Krebs erkrankter Patienten keine finanziellen Mittel vorgehalten würden, da der erreichte QALY-Wert vergleichsweise gering wäre. Die Operationalisierung des Nutzens von Arzneimitteln in Form des QALY-Ansatzes ist also mit einem Werturteil (der Maximierung des Gesamtnutzens) verbunden, das nicht nur unseren moralischen Intuitionen, sondern auch anderen wichtigen Werten, wie z. B. dem ethischen Prinzip des Wohltuns, widerspricht.

In Deutschland hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) einen anderen methodischen Ansatz zur Nutzenbewertung gewählt. Der Nutzen von Arzneimitteln wird über die patientenrelevanten Effekte auf Mortalität, Morbidität und gesundheitsbezogene Lebensqualität bestimmt. Auch diese Form der Operationalisierung des Nutzens enthält Werturteile. Konkrete Beispiele hierfür sind die Festlegung von Konfidenzintervallen oder Entscheidungen darüber, ob ein Risikowert als relatives oder absolutes Maß bestimmt wird. Diese Entscheidungen können nicht aus der empirischen Methodik abgeleitet werden und sind gleichzeitig bedeutsam für das Ergebnis der Nutzenbewertung. Onkologische Arzneimittel In den letzten Jahren sind die Kosten für die  Behandlung von Krebserkrankungen kontinuierlich gestiegen.

Onkologische Arzneimittel sind in Deutschland die umsatzstärkste Wirkstoffgruppe im Arzneimittelmarkt der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und erzielen weltweit unter allen Wirkstoffklassen die mit Abstand höchsten Umsätze. Vor diesem Hintergrund haben Onkologen aus den USA und Europa in letzter Zeit die Preisentwicklung und Erschwinglichkeit onkologischer Wirkstoffe – teilweise mit Jahrestherapiekosten von 50.000 bis mehr als 100.000 Euro pro Patient – sehr kritisch kommentiert. Zudem haben die Vielzahl lukrativer, ähnlicher Wirkstoffe mit marginalem Nutzen – auch als „Me-too“-Mentalität bezeichnet – detaillierte Empfehlungen ausgesprochen, die sich u. a. beziehen auf die Charakterisierung des Patientenkollektivs und der Tumorerkrankung, die Art der klinischen Studie und deren Design, Ein- und Ausschlusskriterien sowie klinisch relevante Endpunkte.  

Mängel in den für die Zulassung onkologischer Arzneimittel relevanten klinischen Studien („pivotal trials“) betreffen dabei vor allem: das Studiendesign, die gewählten Surrogatendpunkte, die meist (zu) restriktiv definierten Ein- und Ausschlusskriterien – vorwiegend jüngere und fittere Patienten werden eingeschlossen –, den vorzeitigen Abbruch der Studien mit Wechsel der Patienten aus dem Kontroll- in den experimentellen Arm und die kurzen Zeiträume der (Nach-)Beobachtung. Diese Studien werden meist von pU gesponsert, konzipiert, ausgewertet und oft mithilfe von kommerziellen Schreibagenturen publiziert.

Klinische und ethische Aspekte

Aufgrund der Defizite bei der Arzneimittelzulassung lässt sich zum Zeitpunkt der Markteinführung der Stellenwert von innovativen Arzneimitteln mit Blick auf den Nutzen für den Patienten häufig nur begrenzt bestimmen. Wesentliche Gründe hierfür sind die fehlende Erfahrung in der breiten Anwendung des neuen Arzneimittels im Alltag einschließlich einer fundierten Nutzen- und Schadensbewertung, vor allem im Vergleich zu bereits etablierten Arzneimitteln. Die Bewertung des Nutzens von Arzneimitteln ist ein äußerst komplexer Prozess, der neben medizinischer Expertise unter anderem auch ethische Kompetenzen erfordert. Einige der ethisch relevanten Herausforderungen der Nutzenbewertung lassen sich am Beispiel der sogenannten „qualitätsangepassten Lebensjahre“ (Quality Adjusted Life Year, QALY) veranschaulichen. Als QALY wird das Produkt von Lebensqualität und Lebenszeit bezeichnet, das bei Anwendung einer medizinischen Maßnahme, beispielsweise einer bestimmten Immun-/Chemotherapie, erreicht wird. Ein ganzes Lebensjahr mit unbeeinträchtigter Lebensqualität erhält den Wert 1. QALYs werden vor allem in Großbritannien als Grundlage für die Kosten-Nutzen-Bewertung von neuen Arzneimitteln verwendet. Aus medizinethischer Perspektive wurde der QALY-Ansatz negative Auswirkungen auf die Entwicklung echter, patientenrelevanter Innovationen und die Kreativität in der klinischen Forschung.

Wie wenig sich die Preise für neue onkologische Wirkstoffe derzeit am Innovationsgrad bzw. dem klinischen Nutzen orientieren, zeigt eine Analyse von Wissenschaftlern des National Cancer Institute in den USA. Bei der Analyse der vom 1. Januar 2009 bis zum 31. Dezember 2013 von der Arzneimittelzulassungsbehörde FDA zugelassenen 51 neuen onkologischen Arzneimittel fand sich keine Korrelation zwischen Innovationsgrad – d. h. neuartiges Wirkprinzip oder Nachfolgepräparat („next-in-class“) mit häufig nur marginalen Unterschieden zu den bereits eingeführten onkologischen Wirkstoffen –, dem bei Zulassung belegten klinischen Nutzen und der Höhe der von pU verlangten Preise. Die Ergebnisse widerlegen somit die von pU häufig genannten Gründe für die sehr hohen Kosten neuer onkologischer Arzneimittel – Ausgaben für Forschung und Entwicklung – und verdeutlichen, dass die Preisgestaltung nicht rational erfolgt, sondern in erster Linie widerspiegelt, was der Markt bereit ist zu zahlen.  

Da sich der Zusatznutzen neuer onkologischer Arzneimittel zum Zeitpunkt der Markteinführung in der Regel noch nicht genau abschätzen lässt, ist gerade in der Onkologie neben der frühen eine späte Nutzenbewertung – z. B. zwei bis drei Jahre nach Markteinführung des jeweiligen Wirkstoffes – eine wichtige Voraussetzung für die am Zusatznutzen orientierte Festlegung eines angemessenen Preises. Angesichts des in der frühen Nutzenbewertung neuer onkologischer Arzneimittel geringen oder sogar fehlenden Zusatznutzens bei vielen neu zugelassenen Wirkstoffen wäre auch eine Nutzenbewertung für Arzneimittel im Bestandsmarkt, d. h. für onkologische Wirkstoffe, deren Zulassung vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) erteilt worden ist, sinnvoll gewesen.  

Eine gute wissenschaftliche Evidenz ist Voraussetzung für die Bestimmung des patientenorientierten Nutzens. Es muss allerdings bedacht werden, dass sich die Antwort auf die Frage nach einem angemessenen Preis für ein bestimmtes Arzneimittel nicht aus den vorliegenden Daten ableiten lässt. Denn die Frage nach dem angemessenen Preis neben empirischen Informationen über ein (möglichst gut untersuchtes und definiertes) Nutzen-Schaden-Profil erfordert auch eine Aussage zum „Wert“ eines Arzneimittels. Dies spiegelt sich in der Debatte um das sogenannte „value based pricing“ wider. Die Gesellschaft muss entscheiden, welchen (Gegen-)Wert sie für einen bestimmten Preis fordert. Die entsprechenden Bewertungen sind abhängig von klinischen Kontextfaktoren (z. B. Art der Erkrankung, bestehende Therapiemöglichkeiten), aber auch von kulturell beeinflussten Präferenzen und Prioritäten einer Gesellschaft.

Klinischer Nutzen

Vor dem Hintergrund einer stärker am Nutzen orientierten Preisbildung haben 2015 die American Society of Clinical Oncology (ASCO) und die European Society for Medical Oncology (ESMO) nützliche Vorschläge unterbreitet, wie Ärzte anhand prospektiver randomisierter kontrollierter Studien (RCT) den klinischen Nutzen neuer onkologischer Wirkstoffe bzw. von Therapiestrategien quantitativ ermitteln können. Sie basieren auf Scores, die für eine Punktwertung Parameter heranziehen wie Verlängerung von Gesamt- oder progressionsfreiem Überleben, Verbesserung der Lebensqualität bzw. der durch die Tumorkrankheit verursachten Symptome und/oder Verminderung der Toxizität der Behandlung.  Die genannten Scores sind wichtige erste Beiträge für eine Diskussion über Preis und Gegenwert. Insbesondere ermöglichen sie es Onkologen, im Sinne des „value based pricing“ eigene Bewertungen abzugeben. Gleichzeitig müssen, auch aus medizinethischer Perspektive, die unterschiedlichen Entscheidungsebenen bei der Bewertung des Nutzens von Medikamenten und Entscheidungen über die Finanzierung getrennt werden. Ärzte sind zunächst ihrem Patienten verpflichtet. Von dieser Mikroebene muss die Makroebene unterschieden werden, auf der, demokratisch legitimiert und unter Einbeziehung der relevanten Interessengruppen, entschieden werden muss, welche finanziellen Ressourcen für welche Arzneimittel und andere Therapiestrategien eingesetzt werden.

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