Wissenschaft

Qualitätsforschung stärken

Illustration: Wissenschaftler diskutieren über Qualität

2015 sind in den USA allein in der hoch renommierten Zeitschrift JAMA 29 wissenschaftliche Artikel zum Thema Qualitätsverbesserung erschienen, davon 13 zu Indikatoren, sechs zu Public Reporting (Qualitätsbericht) und zehn zu Pay for Performing (Qualitätsorientierte Vergütung, P4P). In Deutschland sind wir davon leider weit entfernt, obwohl immer wieder betont wird, wie wichtig Qualitäts- und Patientensicherheitsforschung seien. Natürlich gibt es auch bei uns gute Ansätze, aber wenn man diese an der Bedeutung misst, die Qualität und Patientensicherheit im deutschen Gesundheitswesen zugeschrieben wird, dann sind es hinsichtlich Umfang und Ressourcenausstattung viel zu wenige.

Das Thema wird zusehends wichtiger: Wenn wir Mitte der 90er Jahre damit gestartet waren, Qualität und Sicherheit nicht mehr allein als individuelle, sondern als organisatorische und Teamleistung zu verstehen (daher Qualitätsmanagement), dann sind wir heute in eine Phase eingetreten, in der Qualität zunehmend auf der Systemebene eine Rolle spielt. Die qualitätsorientierte Vergütung oder die qualitätsorientierte Krankenhausplanung sind Beispiele mächtiger Systeminterventionen, die (so zeigen die Erfahrungen im Ausland) durchaus spezifischer wissenschaftlicher Evaluation bedürfen, sollen hier Fehlentwicklungen und paradoxe Wirkungen vermieden werden. Woran liegt die Diskrepanz? Drei Faktoren sind zu nennen:

1.      Die Praxis hat die Evaluation überrollt

Als Mitte der 90er Jahre mit dem institutionellen Qualitätsmanagement (QM) begonnen wurde, war der Veränderungsdruck (z. B. im Rahmen der Einführung pauschalierter Vergütungssysteme) derart hoch, dass für Forschung kaum Raum war, insbesondere da „das QM“ noch mit zahlreichen anderen Managementaufgaben betraut wurde (z. B. Prozessmanagement und Controllingaufgaben). Kaum war ein Projekt zu Ende gebracht, musste das nächste beginnen, und die Evaluation des ersten wurde verschoben. Diese Situation hat sich heute, wo es um Qualitätsverbesserung auf Systemebene geht, nicht verändert.

2.      Die Methodik war kaum entwickelt

Eine Evaluationsstudie einer QM-Intervention (z. B. die Einführung einer Leitlinie) ist keine Medikamentenstudie, und für eine Cluster-Randomisierung (von Stationen statt von Patienten) konnte man sich kaum irgendwo Rat holen. Heute hat sich die Situation durch die Etablierung der Versorgungsforschung deutlich verbessert.

3.      Die Untersucher sind selbst involviert

Während in der biomedizinisch-naturwissenschaftlichen Forschung die Trennung zwischen Untersucher und Objekt gut durchzuhalten war und man gelernt hatte, mittels der Randomisation möglichst alle Störfaktoren zu eliminieren, waren bei einer QM-Studie die Untersucher gleichzeitig „Agenten des Wandels“, also selbst in das Untersuchungsobjekt involviert. In der Konsensusempfehlung zur Veröffentlichung von Ergebnissen der Qualitätsforschung SQUIRE 2.0 heißt es hierzu ganz lakonisch: „‚Doing‘ an improvement project is fundamentally different from ‚studying‘ it.“ Dieser Umstand macht den Einsatz qualitativer sozialwissenschaftlicher Ansätze notwendig, die aber in der klassischen Klinischen Forschung an den Universitäten nicht gut angesehen waren. Dies führt zum nächsten Punkt:

4.      Forschungsansätze außerhalb des biomedizinisch-naturwissenschaftlichen Ansatzes wurden in den Medizinischen Fakultäten nicht geschätzt

Unter der Herrschaft des Impact Factors war es für junge Forscher keine Erfolg versprechende Option, in ein Gebiet wie das der Qualitätsforschung zu investieren. Es gab auch innerhalb der Fakultäten keine Unterstützung, Public Health war in seiner Bedeutung zurückgegangen, und andere Disziplinen, z. B. die Sozialmedizin, wurden aus den Fakultäten herausgedrängt. Erst durch das Aufkommen der Versorgungsforschung und deren öffentliche Unterstützung hat sich das Blatt gewendet.

Heute sieht die Situation also etwas besser aus. Die Qualitätsfrage ist auf politischer Ebene an relativ gut ausgestattete Einrichtungen delegiert (z. B. das Institut für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen beim Gemeinsamen Bundesausschuss), und das institutionelle Qualitätsmanagement ist durch die zunehmende Zahl von gesetzlichen Regelungen (z. B. im Bereich Patientensicherheit) relativ gut verankert. Es werden aber drängen-de Fragen aufgeworfen:

Wird die Qualitätsforschung gehört? Die Akzeptanz im System ist keine Selbstverständlichkeit. Die Handlungslogik im Bereich Politik und Selbstverwaltung darf nicht selbstreferentiell werden, und es darf nicht dazu kommen, dass Wissenschaft nur als Störfaktor empfunden wird, der die Abläufe von check and balances stört und sowieso (wie bei Wissenschaft durchaus möglich) nur Annäherungen an das Thema erlaubt. Aber die Förderung der Versorgungsforschung im Innovationsfonds ist ein Hoffnungsschimmer. Ist die Qualitäts- und Patientensicherheitsforschung ihrer Aufgabe gewachsen? Die Beantwortung dieser Frage ist keine Selbstverständlichkeit. Natürlich kann heute die Versorgungsforschung den methodischen Hintergrund bilden, jedoch gibt es zahlreiche Schwierigkeiten, die im Thema selbst begründet sind:

  • Interventionen weisen sehr häufig eine hohe Augenscheinvalidität auf, sodass die Notwendigkeit einer Evaluation von den Beteiligten infrage gestellt wird – sie ist jedoch wichtig, will man z. B. paradoxe Effekte vermeiden.
  • Interventionen zeigen für sich genommen oft nur kleine Effekte, daher greift man zu Mehrfachinterventionen, die durchaus wirksam erscheinen, jedoch größere Anforderungen an die Evaluation stellen (z. B. bundle interventions wie zur Verminderung nosokomialer Infektionen).
  • Einige Phänomene der Patientensicherheit (z. B. Seitenverwechselung) sind sehr selten und können daher statistisch nur schwer direkt gefasst werden.
  • Interventionen unterliegen in hohem Maße dem Phänomen der sozialen Erwünschtheit, außerdem ist ein ausgeprägter Hawthorne-Effekt (unspezifische Wirkung einer Intervention) zu beobachten, der jedoch nur eine limitierte zeitliche Konstanz hat.
  • Interventionen sind sehr kontextbezogen (z. B. kann eine Studie zu P4P mit Indikatoren, die bereits im Qualitätsbericht genutzt wurden, keinen Erfolg zeigen, weil der zusätzliche finanzielle Anreiz keine weitere Verbesserung erreichen kann).
  • Auf der anderen Seite bringt die „Qualitätsszene“ auch Erfahrungen mit, die den kombinierten Einsatz qualitativer und quantitativer Methoden bei der Evaluation komplexer Interventionen fördern können:
  • Untersucher sind zumindest im institutionellen Bereich vertraut mit Veränderungsbedingungen in komplexen Zusammenhängen sowie komplexen Mehrfach-Interventionen, wie sie z. B. zur Verminderung von Katheterinfektionen eingesetzt werden, und sind daher auf methodisch-technische Schwierigkeiten in der Durchführung von Evaluationen, auf paradoxe Effekte und eine geringe Ausprägung der Effektmaße vorbereitet.
  • Im Bereich Qualität und Patientensicherheit besteht eine besondere Nähe zu explorativen Methoden und damit eine Akzeptanz von qualitativen Verfahren, die die quantitative Evaluation ergänzen und zusätzliche Aspekte aufzeigen können.

Welche Aufgaben kommen folglich auf die Qualitäts- und Patientensicherheitsforschung zu:

1. Zielbestimmung: Qualitätsverbesserung ist nur möglich, wenn vorher Qualitätsziele festgelegt werden. Die „Qualitätssicherung“ ist rein auf die operative Akutmedizin und nicht die eigentlichen Herausforderungen der alternden Bevölkerung bezogen (Morbiditätsdimension).

2. Strukturveränderungen müssen positiv unterstützt werden, insbesondere die Integration des Systems.

3. Die Qualitätsperspektiven müssen überdacht werden: Bislang herrscht eine reine Anbietersicht vor, viel wichtiger wäre es, die Patientenperspektive einzunehmen.

4. Die Messinstrumente müssen kritisch hinterfragt werden. In Deutschland herrschen quantitative Instrumente vor („Rate der Katheterinfektionen“), die risikoadjustiert werden müssen. Wichtiger wäre es aber, mit Indikatoren zu arbeiten, die Ereignisse vorhersagen (Rate von Katheterinfektionen als Parameter, der die Qualität der Versorgung auf einer Intensivstation vorhersagt). In allen großen Qualitätsverbesserungsprojekten international wird fast ausschließlich mit Prozessindikatoren gearbeitet, nur in Deutschland wird das (an sich sehr attraktive) Konzept der Ergebnisindikatoren hochgehalten, z. B. mit der Folge der Benachteiligung kleinerer Anbieter.

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