Unter null – und wie es wieder bergauf ging

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Es gibt nicht die eine Psychotherapie. Sie richtet sich immer individuell nach den Bedürfnissen der Patienten. Umso wichtiger ist eine Vielfalt an unterschiedlichen Behandlungsangeboten. Das Medizinische Versorgungszentrum für Psychosomatik, Psychotherapie und Psychiatrie, kurz MVZ-Psyche, in Bonn stellt solch eine fachübergreifende ambulante Versorgung unter einem Dach bereit, zugunsten ihrer Patienten.

Es hat mit Bewegungsstörungen begonnen. Ihre Beine fühlten sich an wie Blei, ihre Hüfte schmerzte, jeder Gang war anstrengend. Doch kein Arzt konnte ihr helfen. „Ich habe jede denkbare medizinische Fachrichtung ausprobiert, ohne Erfolg“, sagt Susanne Winkler*. Nach jedem weiteren Arztbesuch kam die Erleichterung wie bei einem Bumerang als Verzweiflung zurück. „Es ist gut, wenn der Arzt nichts findet, aber gleichzeitig ist es so schlimm, wenn man weiß, irgendetwas stimmt nicht.“ Eine viermonatige Odyssee, wie sie sagt, lag hinter ihr, bevor sie überhaupt den Gedanken an eine Psychotherapie zuließ. „In meinem Umfeld kam der Begriff Psychotherapie quasi nicht vor. Und ich muss gestehen“, erinnert sich die Mitte 50-Jährige, „ich war nicht nur überrascht, dass meine körperlichen Beschwerden ihren Ursprung ganz woanders haben sollten, sondern konnte das auch schwer glauben.“ Dennoch nahm sie den Weg in das MVZ-Psyche auf sich, nicht zuletzt deshalb, weil sie hier zeitnah einen Termin bekam. Und dort habe sie sich ganz langsam, Millimeter für Millimeter, überzeugen lassen und verstanden, dass es tief sitzende mentale Gründe für ihre körperlichen Schmerzen gab, die ihr nicht bewusst waren. Dass sie unter einer psychosomatischen Erkrankung litt.

„Psychotherapie und Psychosomatik sind die Fachrichtungen der Sprechenden Medizin“, sagt ihre Therapeutin, Dr. Sabine Trautmann-Voigt. Sie ist psychologische Psychotherapeutin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin sowie Tanz- und Ausdruckstherapeutin im MVZ-Psyche. Psychosomatischen Erkrankungen begegnet sie in ihrem Beruf immer wieder, und immer häufiger. „Hinter jedem Schmerz, der keine körperliche Ursache hat, stehen entweder eine große Trauer oder nicht bewusste Aggressionen. Der Schmerz ist also nur ein körperliches Symptom für eine seelische Störung“, erklärt sie. „Leider vergeht oft viel Zeit, bis die Betroffenen diese Möglichkeit in Betracht ziehen.“ Laut Aussagen von Medizinern leiden 60 bis 80 Prozent der Patienten von Physiotherapeuten und Orthopäden auch unter psychischen Problemen. Eine Schmerzsymptomatik richtig einzuordnen und ihre psychische Verursachung zu erkennen, sei der erste wichtige diagnostische Schritt, so Trautmann-Voigt. „Darauf muss dann die richtige und an den Bedürfnissen der Betroffenen ausgerichtete Therapie aufsetzen.“

Das MVZ-Psyche wird dieser Anforderung gerecht. Gegründet wurde es 2007 von zwei Medizinern, Dr. med. Bernd Voigt und Florian Benner, die auf der Basis ihrer Facharztqualifikationen einen psychosomatisch-psychotherapeutischen mit einem psychiatrischen Schwerpunkt zusammenbringen wollten. Ihr Ziel ist eine ganzheitliche Versorgung von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen. Derzeit arbeiten in der Bonner Einrichtung, die sich über vier Etagen erstreckt, 102 Ärzte und Therapeuten, die zusammen das gesamte psychotherapeutische Spektrum abdecken: Diagnostik, Krisenintervention und psychiatrische Behandlung sowie psychotherapeutische Langzeitbehandlungen für Erwachsene, Kinder und Jugendliche. „Wir sind in der Lage, individuelle Hilfsangebote vorzuhalten, denn jeder Patient und jede Störung sind anders. Entsprechend verhält es sich mit der Therapie. Wir können Betroffene jeden Alters und mit ihren ganz speziellen psychischen Problemen behandeln“, sagt Trautmann-Voigt. Winkler etwa nahm am MVZ-Psyche zunächst eine körperorientierte Therapieform auf, die dann durch eine Richtlinienpsychotherapie (in dem Fall eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie) ergänzt wurde. Diese Vielfalt könne eine Einzelpraxis nicht leisten, so Trautmann-Voigt. Daher misst sie den ambulanten Medizinischen Versorgungszentren eine ganz besondere Bedeutung bei. Die enge Zusammenarbeit von Kollegen mit ihren verschiedenen Arbeitsschwerpunkten, Kenntnissen und Erfahrungen komme den Patienten zugute. „Denn wir schöpfen aus einem großen Repertoire.“

Eine weitere Besonderheit des MVZ-Psyche ist der Bezug zu und das Engagement in der Ausbildung von angehenden Psychotherapeuten. So leiten Trautmann-Voigt und ihr Mann die Köln-Bonner Akademien für Psychotherapie und Verhaltenstherapie (kbap/kbav), während das MVZ-Psyche als Versorgungseinrichtung im selben Haus dient und somit ein großer Synergieeffekt eintritt. Denn diese kooperierende Aus-, Weiter- und Fortbildungsstätte ermöglicht den angehenden Therapeuten eine frühzeitige Arbeit am Patienten unter genauer Anleitung und Beobachtung (Supervision) der erfahrenen Kollegen. „Diese Qualität der ambulanten Ausbildung muss unbedingt erhalten bleiben“, betont Trautmann- Voigt. Die Diskussion um die angekündigte Reform des Psychotherapeutengesetzes, wie sie im Koalitionsvertrag von Schwarz-Rot geschrieben steht, verfolgt sie daher ganz genau. „Derzeit sieht es so aus, als wolle man die Ausbildung universitär ausrichten und verkürzen und den Praxisanteil in der ambulanten Ausbildung verringern – das wäre fatal.“ Sie wisse aus ihrer täglichen Arbeit heraus, wie wichtig die praktische Erfahrung mit Langzeitbehandlungen im ambulanten Rahmen sei.

Dass dieser praktische Anteil in der psychotherapeutischen Ausbildung für den späteren Berufsweg wertvoll und hilfreich ist, untermauert Sylvia Breitkopf*, Ausbildungsteilnehmerin in einem fortgeschrittenen Stadium an der kbap: „Das, was mir am meisten bringt, ist die Arbeit hier in der Ambulanz.“ Jederzeit könne sie einen Arzt um Mithilfe bitten, wenn beispielsweise ein Patient phasenweise Medikamente benötige. Zudem bekomme sie nur vordiagnostizierte Patienten zugewiesen. „Ich fühle mich aufgehoben, die Profis geben mir Sicherheit“, sagt sie. Das Arbeiten in der psychiatrischen Klinik, wo sie ihr Jahrespraktikum absolviert habe, sei etwas ganz anderes. Da gebe es keine Langzeittherapien, nur Kriseninterventionen. „Hier lerne ich, Menschen länger zu begleiten und mit ihnen die Probleme, die sie haben, durchzustehen.“ Natürlich könnten die Berufsanfänger nicht jeden Patienten begleiten, ergänzt Trautmann-Voigt. Es komme auf die Schwere der Störung an. „Aber wenn man entsprechend schult, kontrolliert und den angehenden Therapeuten zur Seite steht, sollte man ihnen auch ruhig etwas zutrauen.“

Zumal ein Bedarf an psychotherapeutischen Behandlungen besteht, wie ein Blick auf die Wartelisten zeigt. „Mindestens drei bis sechs Monate warten zu müssen, bis ein Therapieplatz bei einem Psychotherapeuten mit Kassenzulassung frei wird, ist die Regel.“ Trautmann- Voigt geht davon aus, dass die Nachfrage weiter steigt, weil psychische Erkrankungen heute eher anerkannt würden und bei den Patienten eine größere Bereitschaft bestünde, sich behandeln zu lassen. Akutsprechstunden und Kurzzeittherapien begrüßt sie, solange diese Behandlungen auch wirklich den Betroffenen gerecht werden. „Aber Kurzkontakte dürfen nicht aus rein ökonomischen Zwecken überhand nehmen. Denn viele Störungen bedürfen einer längerdauernden Auseinandersetzung.“ Es bringe nichts, nur die Symptome verschwinden zu lassen, anstatt sich die Langzeiteffekte genau anzuschauen. Schlimmstenfalls käme es ein paar Jahre später zu einem Rückfall.

Erschwerend komme hinzu, dass die ambulante Psychotherapie generell noch immer einen schweren Stand gegenüber der stationären Behandlung habe. „Sie war schon immer im berufspolitischen Diskurs ein Stiefkind. Kliniken hatten schon immer eine bessere Lobby als wir Niedergelassenen“, bedauert Trautmann-Voigt. Desto wichtiger sei es, die Ergebnisqualität der ambulanten Psychotherapie unter realen Versorgungsbedingungen nachzuweisen und kontinuierlich zu verbessern.

Daher hat das MVZ-Psyche in Zusammenarbeit mit der Universität Bonn und der Universitätsklinik Köln an der kbap eine Evaluationsstudie durchgeführt, um den Stellenwert und die Wirksamkeit der ambulanten Psychotherapie zu untersuchen und aufzuzeigen.** Dabei hat man sich zunächst auf die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie konzentriert (daneben existieren die Verhaltenstherapie sowie die Analytische Psychotherapie als von den gesetzlichen Krankenkassen getragene Therapieformen, die ebenfalls vor Ort angeboten werden), weil gerade in diesem Bereich kaum mehr universitäre Forschung zur Versorgungsrealität stattfinde, berichtet Trautmann-Voigt. Sie betont, dass umso mehr den Ambulanzen der tiefenpsychologischen Ausbildungsinstitute eine zukunftsweisende Rolle bei der Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung versorgungsrelevanter Forschung und im Bemühen um Qualitätssicherung zukomme.

Seit fast drei Jahren ist Winkler nun am MVZ-Psyche in Behandlung. „So ein Therapieverlauf ist kein Zuckerschlecken“, sagt sie. „Aber immer wieder aufgefangen zu werden, ist ein gutes Gefühl.“ Inzwischen habe sie für sich akzeptiert, eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen zu müssen. Sie habe gelernt, sich über frühere Lebensereignisse bewusst zu werden; das sei eine echte Mammutaufgabe gewesen. „Im Grunde habe ich bei unter null angefangen.“ Dank der kontinuierlichen Begleitung ihrer Therapeutin könne sie aktuelle Geschehnisse heute besser bewältigen. Dabei greife sie auf persönliche Ressourcen zurück, wie etwa ihre Begeisterung für Musik und Malerei. Besonders freut sie sich darüber, von Medikamenten verschont geblieben zu sein. „Das wäre vielleicht der einfachere Weg gewesen, aber der mühsame Weg hat sich ausgezahlt. Denn nur so kann ich die Zusammenhänge begreifen.“ Sie wisse, was ihr hier Gutes widerfahren sei.

Ob sie bereut, nicht schon vorher therapeutische Hilfe aufgesucht zu haben? „Hätte und könnte, das ist müßig“, sagt sie. „Es sind die Symptome, die einen Menschen antreiben, etwas Neues zu versuchen.“ Viele Schmerzen oder Gefühle könne man allein gar nicht einordnen, man wisse nicht, wohin damit. Dem stimmt Trautmann-Voigt zu. Irgendwann aber komme hoffentlich der Moment, in dem man entscheidet, sich Hilfe zu holen. Und dafür sollte es nie zu spät sein. 

*Namen von der Redaktion geändert

**Krischa, M, Trautmann-Voigt, S, Kaspers, S, Voigt, B, Flechtner, H-H, Lehmkuhl, G. (2013): Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen In: Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie 2013, 41/2, S 87-97. 

Geiser, F, Trautmann- Voigt, S, Kaspers, S, Zander, D, Voigt, B, Wegner, I, Hofmann, P, Conrad, R, Imbierowicz, K. (2014): Evaluation ambulanter tiefenpsychologischer Psychotherapie: Ergebnisse einer kontrollierten Feldstudie. In: Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 2014, 60, S 251-266.

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