Interview

"Der Risikostrukturausgleich ist nie wirklich fertig“

Porträtfoto Prof. Dr. Wolfgang Greiner, Gesundheitsökonom an der Universität Bielefeld

Prof. Dr. Wolfgang Greiner, Gesundheitsökonom an der Universität Bielefeld

Die gesetzlichen Krankenkassen haben unterschiedliche Versichertenstrukturen. Um Risikounterschiede zwischen den Krankenkassen auszugleichen, gibt es seit 1994 den sogenannten Risikostrukturausgleich (RSA) in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz wurde das Verfahren des RSA neu ausgestaltet und der morbiditätsorientierte RSA (Morbi-RSA) eingeführt. Jetzt hat die Debatte um die Weiterentwicklung des Morbi- RSA erneut Fahrt aufgenommen. Prof. Dr. Wolfgang Greiner, Gesundheitsökonom an der Universität Bielefeld, bringt sich aktiv in die Debatten ein. Im Interview spricht er über die Herausforderungen und Möglichkeiten und über notwendigen Veränderungsbedarf. Herr Prof. Dr. Greiner, der Morbi-RSA wurde mit dem Ziel eingeführt, Risikoselektion zu verhindern und faire Wettbewerbsbedingungen zwischen den Krankenkassen zu schaffen bzw. eine ausgeglichene und gerechtere Beitragsbelastung der GKV-Mitglieder zu erreichen und Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Krankenkassen abzubauen. Wird er diesem Ziel gerecht?

Prof. Dr. Wolfgang Greiner: Wenn es den RSA nicht schon gäbe, man müsste ihn sofort einführen. Für einen Wettbewerb unter den Krankenkassen ist er unabdingbar. Diese Einschätzung ist mittlerweile auch weitgehend Konsens in der Fachöffentlichkeit. Allein diese Tatsache ist großer Fortschritt, wenn wir uns an die Situation nach Einführung des RSA in den 90er Jahren zurückerinnern. Damals gab es leidenschaftliche Debatten gegen jede Form des Eingriffs in die Beitragsautonomie der einzelnen Krankenkassen. Mittlerweile geht es bei den Diskussionen wesentlich sachlicher zu, da es vordergründig vor allem um technische Details dieses Ausgleichs geht. Daraus könnte man schließen, dass der RSA grundsätzlich den von Ihnen skizzierten Zielen durchaus gerecht wird. Andererseits sind die technischen Details des RSA keineswegs nur akademische Petitessen. Die wirtschaftlichen Effekte auf die Krankenkassen und damit auf den Wettbewerb, der ja den Versicherten zugutekommen soll, sind einfach zu groß da- für. Deshalb lohnt es, die Wirkungen und das Verfahren des RSA immer wieder kritisch zu durchleuchten und sich nicht von seiner Komplexität abschrecken zu lassen. Am Ende geht es immer um die Frage, ob der RSA Risikoselektion verhindert – das scheint mir weitgehend erreicht – und faire Wettbewerbsbedingungen schafft – da gibt es hier und da sicher noch Nachbesserungspotenzial.

Die Ersatzkassen haben in den letzten Jahren festgestellt, dass die Schere zwischen Überdeckungen vor allem bei der AOK und Unterdeckungen bei den Ersatzkassen weiter auseinandergeht. Teilen Sie diese Analyse und worauf führen Sie diese Unterschiede zurück?

Die Situation stellt sich nicht so sehr als Auseinanderdriften zwischen den Kassenarten dar, sondern zwischen Krankenkassen, die sehr unterschiedlich von den Regelungen des RSA betroffen sind. Es gibt also durchaus auch AOK, die keine eminent großen Überdeckungen aufweisen, und Ersatzkassen, die ganz gut mit dem RSA leben können. Noch unter- schiedlicher ist die Situation innerhalb der Betriebskrankenkassen. Von daher würde ich die Diskussion lieber vor dem Hintergrund bestimmter Risikokonstellationen der jeweiligen Versichertengemeinschaft einzelner Kassen führen. Da ergeben sich im Ausgleich offen- sichtlich Schräglagen, die man überprüfen und abbauen sollte.

Und wo besteht der größte Nachbesserungsbedarf?

Derzeit wird in der Fachdiskussion über eine ganze Reihe von Themen gestritten, aber mir scheinen vor allem drei Bereiche von besonderer Bedeutung: Da ist zunächst der Ausgleich des Krankengeldes. Die derzeitige Übergangsregelung mit dem teilweisen Ausgleich von tatsächlichen Kosten sollte möglichst bald durch ein System abgelöst werden, das wie- der ausschließlich Standardzuweisungen – also unabhängig von den im Einzelfall gezahlten Beträgen – nutzt. Der Grund ist, dass ein Ausgleichssystem immer mehr in eine ungute Anreizsituation driftet, je mehr Ist-Kosten im Gesamtsystem ausgeglichen werden. Dann braucht es auch keinen Wettbewerb mehr, denn wenn die Höhe der Ausgaben ohnehin später ausgeglichen wird, gibt es keinen Anreiz mehr für die Einzelkasse, besonders sorgsam mit den Beitragsmitteln umzugehen. Es liegen bereits zwei Gutachten zu diesem Thema vor, sodass hier ausreichend Ideen für eine bessere Ausgestaltung vorgelegt worden sind. Die Besonderheit des Ausgleiches von Krankengeldzahlungen liegt ja darin, dass die Aus- gaben nicht nur vom Leistungsbedarf infolge von Krankheit abhängen, sondern auch vom Einkommen der Versicherten, weil die Höhe des Krankengeldes einkommensabhängig ist. Zudem sind vom Krankengeld naturgemäß jüngere Menschen betroffen, die das Rentenalter noch nicht erreicht haben, während bei den anderen Ausgaben der Krankenkassen vor allem die über 65-Jährigen die Struktur der Gesamtausgaben bestimmen.

Welcher Bereich ist noch von besonderer Bedeutung?

Der zweite wichtige Bereich ist aus meiner Sicht die Auswahl der Krankheiten. Im RSA sollen ja höchstens 80 Krankheiten berücksichtigt werden. Die bisherigen Analysen haben gezeigt, dass es auch wenig bringt, noch mehr – oder alle – Krankheiten einzubeziehen. Andererseits muss dann in regelmäßigen Abständen immer wieder darüber bestimmt werden, welche Krankheiten im RSA ausgeglichen werden sollen. Anfällig für Manipulationen sind dabei vor allem Krankheiten, die sich vor allem über ambulante Diagnosen ab- bilden, also eine hohe Verbreitung aufweisen. Es ist daher zu überlegen, ob man dann eher Krankheiten einbezieht, die weniger stark verbreitet sind und damit den Verbreitungsgrad, also die Prävalenz, weniger stark gewichtet. Unsere Berechnungen haben ergeben, dass die Zielgenauigkeit des Ausgleichs dann nur wenig kleiner wäre.

Und der dritte Bereich?

Schließlich sollte ein Thema angepackt werden, das in der RSA-Diskussion eine lange Geschichte hat, nämlich die Einbeziehung des Wohnortes der Versicherten. Die bisherigen Berechnungen dazu zeigen keine ganz einheitlichen Resultate, aber dies scheint eher eine Frage der räumlichen Bezugsgröße zu sein: Diese darf weder zu groß, zum Beispiel ein ganzes Bundesland, noch zu klein, zum Beispiel Postleitzahlbereiche, gewählt werden, damit sinnvolle Ergebnisse zu erwarten sind.

Sie sprechen von dem RSA als ein „lernendes System“. Was genau ist darunter zu verstehen?

Der RSA war von Anfang an als lernendes System angelegt. Darauf deuten die Einrichtung eines wissenschaftlichen Beirates für die Ausgestaltung des RSA beim Bundesversicherungsamt hin und auch die jährlichen Anpassungen in der RSA-Systematik, zum Beispiel was den Zuschnitt der Krankheitsgruppen angeht. Auch vom Ausland kommen immer wieder neue Ideen und Erfahrungen, die im deutschen Ausgleichsmechanismus bedacht werden sollten. Der RSA ist also nie wirklich „fertig“, sondern ein immerwährendes Forschungsthema. Leider ist der Zugang zu den RSA-Daten vollumfänglich nur dem Bundesversicherungsamt möglich, was die kritische Analyse durch andere Wissenschaftler erschwert.

Wie müsste demzufolge eine Weiterentwicklung des Morbi-RSA Ihrer Meinung nach aussehen?

Es besteht derzeit weitgehen- de Einigkeit, dass der RSA einer Gesamtbewertung bedarf. Eine solche umfassende Evaluation hat es schon einmal 2011 durch den wissenschaftlichen Beirat beim Bundesversicherungsamt gegeben und es wäre sinnvoll, diese Berechnungen in regelmäßigen Abständen von beispielsweise drei bis vier Jahren durchzuführen. Bis dahin ist es leider notwendig, die Diskussion auf der Grundlage weniger guter Daten, als sie beim Bundesversicherungsamt vorliegen, zu führen. Da die in der letzten Zeit erschienenen Gutachten sich jeweils mit Teilaspekten zur Weiterentwicklung des RSA beschäftigt haben, wäre es nun gut, die Vorschläge in einer solchen Gesamtevaluation zu bewerten. Allerdings besteht dabei die Gefahr, dass Reformen am RSA verzögert werden, weil es sich bei Änderungen im RSA immer um Nullsummenspiele handelt, bei denen der eine das gewinnt, was der andere verliert. Wer also derzeit gut dasteht und Befürchtungen hat, bei einer Neuordnung im RSA schlechter als bisher gestellt zu werden, wird eher abwarten wollen und eher für viel Ruhe und Bedächtigkeit bei den anstehenden Entscheidungen plädieren.

Wie stehen Sie zu der Diskussion um die Einführung einer Regionalkomponente? Wie könnte die Einführung einer Regionalkomponente die Zielgenauigkeit des Morbi-RSA verbessern? Nach allen Daten, die uns vorliegen, würde die Einführung einer Regionalkomponente die Zielgenauigkeit des RSA tendenziell verbessern. Wie stark dieser positive Effekt ist, hängt stark von der Ausgestaltung ab und lässt sich daher generell nicht sagen. Bei einer guten Datengrundlage, wie sie im Bundesversicherungsamt vorliegt, sollte es aber möglich sein, eine wesentliche Verbesserung des Status quo zu erreichen. Es hat dem Thema sehr geschadet, dass das Thema Regionalität lange eher fiskalisch diskutiert worden ist, ob also beispielsweise bayerische Versicherte mehr in den RSA einzahlen, als für sie an Leistungen gezahlt wird. Hier ein regionales Gleichgewicht herzustellen, ist aber nicht Aufgabe des RSA. Wenn dagegen ein regional unterschiedliches Inanspruchnahmeverhalten festzustellen ist, was von den einzelnen Krankenkassen nicht beeinflusst werden kann, kommt dieser Umstand sehr wohl für einen RSA-Ausgleich infrage. Das oft gehörte Argument, die Krankenkassen verlören die Anreize, selbst auf ein angemessenes regionales Nachfrageniveau hinzuwirken, beispiels- weise durch Einfluss auf regionale Bedarfspläne, wenn regionale Unterschiede im RSA ausgeglichen würden, ist solange nicht sehr überzeugend, wie der Krankenkasseneinfluss gerade bei der Planung von Versorgungsangeboten, zum Beispiel von Krankenhäusern und ambulanten Facharztpraxen, minimal ist. Sollten die Krankenversicherungen dagegen zu- künftig einmal wesentliche Mitspracherechte bei diesen Planungsentscheidungen erhalten, müsste die Einbeziehung dieser Variable in den RSA noch mal überdacht werden. Aber es scheint mir, davon sind wir gesundheitspolitisch sehr weit entfernt.

Muss nicht vielmehr das Thema Wettbewerbsfähigkeit der Kassen stärker in den Fokus gerückt werden?

Wettbewerbsfähigkeit ist zunächst einmal ein individuelles Thema jeder einzelnen Krankenkasse. Dazu gehören interessante Angebote für die Versicherten, guter Service und ein attraktiver, also nicht allzu hoher Zusatzbeitrag. Dazu muss wie bei jedem anderen Unternehmen auch ständig an den innerbetrieblichen Abläufen gearbeitet werden, sowohl was die Verwaltung der internen Vorgänge, etwa der Rechnungsprüfung, angeht als auch die Kreativität, Wünsche der Versicherten zu erkennen und im Rahmen des Möglichen und Sinnvollen darauf einzugehen. Allerdings sollten all diese unternehmerischen Bemühungen, die ja letztlich den Versicherten zugutekommen sollen, nicht durch einen fehlerhaften RSA konterkariert werden, denn dann würden sich ggf. gerade die, im Sinne der Versicherten, „falschen“ Versicherer durchsetzen, die sich nämlich auf überhöhte Zuweisungen und einen dement- sprechend günstigen Preis verlassen können und sich sonst im Wettbewerb weder um effiziente Abläufe noch um Kundenorientierung besonders kümmern müssen.

Was kann die Wissenschaft zu einer Versachlichung der Debatte beitragen?

Es ist wichtig, dass das Thema RSA nicht nur kampagnenartig in eher zufälligen Zyklen gesundheitspolitisch diskutiert wird. Ähnlich wie die Krankenhausfinanzierung und -struktur ist der RSA ein Dauerthema in unserem Gesundheitswesen, weil unser Finanzierungsmechanismus mit einkommensabhängigen Beiträgen eine ständige Neujustierung des Risikoausgleiches zwischen den Krankenkassen erfordert. Im Gegensatz zur Krankenhausfinanzierung ist der RSA aber nicht wirklich Massenmedien tauglich. Deshalb kommt der Wissenschaft hier die Aufgabe zu, mit guten Datenanalysen und Anregungen zur Weiterentwicklung die gesundheitspolitische Aufmerksamkeit für das Thema zu erhalten. Auch rein interessengeleitete Vorschläge, die in einem derartig verminten Gelände wie dem RSA schnell gedeihen, sollten immer erst auf den Prüfstand der empirischen Analyse, bevor sie in die Praxis des RSA umgesetzt wer- den. Das geschieht auch schon in erheblichem Umfang durch das Bundesversicherungsamt selbst, sollte aber noch in geeigneter Weise durch eine Öffnung des RSA-Datensatzes für die Wissenschaft gestärkt werden.

Wann sollte politisch das „Minenfeld“ Weiterentwicklung des Morbi-RSA angegangen werden?

Im Bereich Krankengeld könnte man, da die Analysen hier schon weitgehend vorliegen, relativ schnell zu sinnvollen Änderungen kommen. Andere, weitreichendere Modifikationen wie die Einführung einer Regionalkomponente müssen wohl noch bis zur nächsten Legislaturperiode bzw. den nächsten Koalitionsverhandlungen warten.

Welche Voraussetzungen sind zu schaffen, damit zeitnah und realistisch über weitere Elemente des Morbi-RSA diskutiert werden kann?

Das hängt von der weiteren Ausgestaltung des RSA ab. Für eine Regionalkomponente oder die Einbeziehung des Branchenschlüssels des Arbeitgebers müsste das Gesetz den verfügbaren Datenkreis erweitern. Aber dazu sollte zügig eine Gesamtevaluation des RSA erfolgen, in die die unterschiedlichen Vorschläge der vergangenen Monate eingebracht und analysiert werden könnten, was ihre Effekte auf die Zielgenauigkeit der Zuweisungen und die Deckungsquoten der Krankenkassen sein würden. Die mittleren Deckungsquoten der Krankenkassen sollten dabei ein größeres Entscheidungsgewicht erhalten als bisher. Es ist zwar keinesfalls das Ziel, alle Krankenkassen auf eine Deckungsquote von 100 Prozent zu bringen (das ginge nur mit einem Ist-Kosten-Ausgleich, der ja gerade vermieden wer- den soll). Aber außergewöhnlich hohe oder niedrige Deckungsquoten, die selbst bei einem optimalen Versorgungsmanagement und höchster Effizienz in den internen Abläufen nicht erzielbar erscheinen, sollten durch einen zielgenauen RSA vermeidbar sein.

Was würden Sie sich wünschen, was der Gesetzgeber in den nächsten fünf Jahren umsetzt?

Auf meiner Wunschliste steht ganz oben die schnelle Umsetzung eines von den Ist-Kosten der jeweiligen Krankenkasse ganz gelösten Ausgleichs der Krankengeldausgaben. Daneben sollte es zukünftig regelmäßig eine Gesamtevaluation des RSA geben. Man sollte prüfen, ob man diese Analysen nicht extern im Ausschreibungsverfahren vergibt, damit ein frischer Blick auf die Materie gewahrt bleibt. Das Bundesversicherungsamt wäre für die Datenlieferung verantwortlich und mit seinem Fachwissen auch bei der Konzeption der Evaluation stark beteiligt. Der Gesetzgeber müsste ggf. die Möglichkeit für weitere Analysevariablen öffnen, ins- besondere für eine Regionalkomponente und weitere Angaben zum beruflichen Umfeld der Versicherten, wie etwa den Branchenschlüssel oder den Teilzeitstatus, wenn sich diese als sinnvolle Ergänzung für den RSA erwiesen haben. Wenn dann noch dafür gesorgt wird, die RSA-Datenbestände der wissenschaftlichen Nutzung zukünftig zugänglicher zu machen, wäre schon viel erreicht.

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