Bundestagswahl 2017

Entscheidung in dramatischen Zeiten

Illustration: Wahlkabine

Am 24. September 2017 wird der Deutsche Bundestag zum 19. Mal gewählt. Die Wahl verspricht eine der spannendsten in der Geschichte der Bundesrepublik zu werden.

Die Spannung bezieht sich dabei nicht so sehr – wie bei manchen früheren Wahlen (zum Beispiel 2005, 2002, 1976 oder 1969) – auf den Ausgang. Aufgrund des sicheren Vorsprungs der Unionsparteien vor den Sozialdemokraten erscheint es relativ gewiss, dass Angela Merkel die Bundeskanzlerin einer von CDU und CSU angeführten Regierung bleiben wird. Auch wer als Koalitionspartner in ihre Regierung eintritt, kann man ziemlich verlässlich eingrenzen. Entweder bleibt es bei der bestehenden Großen Koalition mit der SPD. Oder die Union bildet zum ersten Mal zusammen mit den Grünen eine Regierung, eventuell erweitert um die FDP, falls es für eine eigene Mehrheit nicht reicht. Ein vergleichbares Szenario hatte es bereits 2013 gegeben. Damals scheiterte die Koalitionsbildung an den Grünen, die am Ende – auch wegen ihres schwachen Wahlergebnisses – nicht bereit waren, das Bündnis mit der Union zu wagen.

Ära der Unsicherheit

Was die Wahl zu einer außergewöhnlichen, ja dramatischen macht, sind die Umstände, unter denen sie stattfindet. Eine neue Ära der Unsicherheit und Instabilität scheint in Europa und der westlichen Welt angebrochen zu sein, die bisherige Gewissheiten infrage stellt. Die liberale Demokratie, von der wir gehofft hatten, dass sie als Herrschaftsmodell auch über die Grenzen des Westens hinaus ausstrahlt und sich durchsetzen würde, ist nicht nur im Osten des Kontinents und in der Türkei auf dem Rückzug. Auch im Westen selbst gerät sie zunehmend unter Druck. Dass rechtspopulistische Parteien in Kernländern der Europäischen Union (EU) wie Frankreich, Österreich oder den Niederlanden in die Nähe der Mehrheitsfähigkeit gelangen, hätte man vor zwei oder drei Jahren ebenso wenig für möglich gehalten wie einen Sieg des „Unpolitikers“ Donald Trump bei der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl oder den von populistischen Gegnern der EU befeuerten „Brexit“ in Großbritannien. Unterstützt von einem strukturellen Wandel der Öffentlichkeit und der Medien, fordern diese Kräfte das politische und gesellschaftliche Establishment in einer bis dato nicht gekannten Weise heraus. Auf die Globalisierung antworten sie mit Forderungen nach einer „Schließung“ unserer offenen Gesellschaften und Rückkehr zur vertrauten Nationalstaatlichkeit.

Neben den für den Niedergang verantwortlich gemachten Eliten hat der Rechtspopulismus zwei Hauptfeindbilder: die EU und den nicht europäischen (das heißt: christlich-abendländischen) Kulturkreis des Islams. Der Zulauf der Populisten geht auf die krisenhaften Zuspitzungen zurück, die sich mit beiden Erscheinungen seit den 2000er Jahren verbinden. Waren die Schattenseiten des einseitig marktliberal ausgerichteten Integrationsprojekts der EU schon in den 1990er Jahren sichtbar geworden, so wurde spätestens mit der Finanz- und Eurokrise deutlich, dass die den Mitgliedsländern übergestülpte gemeinsame Währung den Zusammenhalt der Gemeinschaft nicht beförderte, sondern bedrohte. Deutschland gelang es zwar, seinen Kurs der „Rettungspolitik gegen harte Sparauflagen“ innerhalb der Währungsunion durchzusetzen – selbst mit einem Ausschluss Griechenlands wurde 2015 offen geliebäugelt. Eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung der Südländer, die das wirtschaftliche und soziale Gefälle in der Union mittel- und langfristig vermindern und die Eurozone damit zugleich auf eine stabile politische Grundlage stellen könnte, ist jedoch weiterhin nicht in Sicht.  

Die Skepsis gegenüber Migration und Multikulturalismus, die den Rechtspopulismus schon in den 1980er Jahren auszeichnete, hat durch die 2001 in den USA einsetzende Welle islamistischen Terrors, die in den Anschlägen von Paris (Januar und November  2015), Brüssel (März 2016), Nizza (Juli 2016) und Berlin (Dezember 2016) kulminierte, und die sich 2015 dramatisch verschärfende Flüchtlingskrise nochmals eine neue Dimension bekommen. Weil der „Islamische Staat“ die Flüchtlingsbewegung auch dazu genutzt hat, weitere potenzielle Attentäter nach Westeuropa zu schleusen, fiel es den Rechtspopulisten leicht, beide Entwicklungen miteinander zu verknüpfen. Dabei spielten ihnen Ereignisse wie in der Kölner Silvesternacht 2015/16 zusätzlich in die Hände. Dort war es zu zahlreichen sexuellen Übergriffen auf Frauen durch vornehmlich aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum stammende Gruppen junger Männer gekommen.

Mit der „Alternative für Deutschland“ (AfD) ist der Rechtspopulismus jetzt auch in der Bundesrepublik zu einer festen Größe geworden. Dabei handelt es sich um die einschneidendste Veränderung der Politik und des Parteiensystems in der jüngeren Vergangenheit. Wurde das Gelegenheitsfenster für den Neuankömmling 2013 durch die Eurokrise geöffnet – die im April 2013 gegründete Partei sollte den Sprung in den Bundestag ein halbes Jahr später nur knapp verpassen –, so sah es Mitte 2015 fast danach aus, dass die AfD von der politischen Bühne bald wie der verschwinden würde. Die Gründe dafür lagen zum einen in der Partei selbst, die von Richtungskonflikten und personellen Querelen gebeutelt wurde. Diese mündeten im Juli 2015 in den Abgang des von Parteigründer Bernd Lucke angeführten gemäßigten Flügels. Zum anderen hatte sich das Euro-Thema zu dieser Zeit weitgehend auf das Problem „Griechenland“ reduziert, wo die AfD gegen die von der Bundesregierung und hier vor allem der Union vertretene harte Position nicht mehr viel gewinnen konnte. Die Flüchtlingskrise, welche die deutsche Innenpolitik ab August 2015 dauerhaft in Atem halten sollte, bedeutete vor diesem Hintergrund für die AfD tatsächlich das „Geschenk“, als das es ihr stellvertretender Vorsitzender Alexander Gauland in einer ebenso ehrlichen wie entlarvenden Äußerung bezeichnet hat. War die Partei schon bei den vorangegangenen Wahlen hauptsächlich wegen ihrer migrationskritischen Positionen gewählt worden, so konnte sie diese jetzt nicht nur gegen die Regierungsparteien (mit Ausnahme der CSU), sondern auch gegen die Opposition (Grüne und Linke) voll ausspielen, die Merkels liberale Flüchtlingspolitik im Grundsatz mittrug. Dieses Alleinstellungsmerkmal bescherte den Rechtspopulisten bei allen fünf Landtags-wahlen, die 2016 stattfanden, zweistellige Ergebnisse. In den ostdeutschen Ländern Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern landeten sie mit 24,3 bzw. 20,8 Prozent der Stimmen sogar auf Platz zwei in den jeweiligen Parteiensystemen.

Selbst ohne eine starke AfD wäre davon auszugehen, dass die Bundestagswahl von den Themen Flüchtlinge und Innere Sicherheit bestimmt sein wird. Auch die Außenpolitik könnte eine größere Rolle spielen als bei früheren Wahlen, und die in den Wahlkämpfen normalerweise dominierenden sozial- und steuerpolitischen Themen in den Hintergrund treten lassen. Dies ist vor allem für die Sozialdemokraten eine beunruhigende Aussicht, die sich gerade auf diesem Gebiet als Alternative zur Union profilieren müssten. Die SPD hat allerdings schon zu Beginn der Legislaturperiode schmerzlich erfahren, dass die von ihr in der Koalition durchgesetzten sozialpolitischen Maßnahmen (Mindestlohn und Rente nach 45 Beitragsjahren) kaum zusätzliche Wählerunterstützung einbrachten. Umso mehr ruhen ihre Hoffnungen jetzt auf Martin Schulz, der als Herausforderer der Bundeskanzlerin und neuer Parteivorsitzender über eine hohe Zustimmung sowohl in den eigenen Reihen als auch in der Gesamtwählerschaft verfügt.

Alte und neue Konkurrenten

Für Merkel und die CDU wird es bei der Wahl nicht nur darauf ankommen, ob sie ihre Position als stärkste Partei behält; sie muss auch die alten (FDP) und neuen (AfD) Konkurrenten im bürgerlichen bzw. rechten Lager auf Distanz halten. Bei den weiterhin schwächelnden Liberalen wird ihr das wohl gelingen, bei der AfD ist es auch wegen deren schwer berechenbarer interner Entwicklung nicht sicher. Wie weit sich das im Zuge der Flüchtlingskrise zerrüttete Verhältnis zur Schwesterpartei CSU nachteilig auswirken wird, ist ebenfalls nicht absehbar. Raufen sich beide Seiten halbwegs zusammen, könnte es sich sogar als Vorteil erweisen, wenn CDU und CSU – mit getrennten Rollen spielend – in dieser Frage unterschiedliche Positionen vertreten.   

So schmerzhaft es für die Union ist, dass sie in ihrer Regierungszeit zum ersten Mal die Geburt einer neuen Konkurrenzpartei im eigenen Spektrum erleben muss – eine Erfahrung, die ihr die SPD mit den Grünen und der Linkspartei gleich doppelt voraus hat –, so trägt die neue Konstellation zugleich zur Stabilisierung ihrer Regierungsmacht bei. Weil der Rechtspopulismus Wähler auch aus dem Lager von SPD und Linken abzieht, verschiebt sich die Achse des Parteiensystems insgesamt nach rechts. Eine rot-rot-grüne Koalition rückt damit bereits arithmetisch in weite Ferne, auch wenn sie politisch vielleicht nicht mehr ganz so abwegig wäre wie 2013. Auf der anderen Seite bleibt eine Zusammenarbeit der Union mit der sich weiter radikalisieren- den AfD auf unabsehbare Zeit ein Tabu. CDU und CSU brauchen deshalb in jedem Fall einen Koalitionspartner aus dem anderen politischen Lager. Ob ihre Präferenz dabei eher bei den Grünen oder der SPD liegen wird, hängt auch von den weiteren Entwicklungen bis zur Bundestagswahl ab. Je mehr die Themen Flüchtlinge und Innere Sicherheit die Agenda bestimmen, umso kleiner könnten hier die programmatischen Schnittmengen mit den Grünen werden. Offen ist auch, ob die Sozialdemokraten sich für eine Fortsetzung der Großen Koalition überhaupt zur Verfügung halten würden. Die schlechten Erfahrungen, die man mit der Juniorpartnerrolle aus elektoraler Sicht einmal mehr gemacht hat, könnten sie vielleicht bewegen, diesmal anders zu entscheiden als 2013. Dies hätte auch den Vorteil, dass dem Land das  Szenario einer von der AfD angeführten Opposition im Bundestag erspart bliebe, das unter Demokratiegesichtspunkten nur schwer erträglich wäre.

Weitere Artikel aus ersatzkasse magazin. 1./2.2017