Interview mit Prof. Achim Wambach

"Es muss ein fairer Wettbewerb sein"

Prof. Achim Wambach
Prof. Achim Wambach, Vorsitzender der Monopolkommission

Die Monopolkommission fordert in ihrem 75. Sondergutachten „Stand und Perspektiven im deutschen Krankenversicherungssystem“ eine Stärkung des Wettbewerbs. Handlungsbedarf sieht sie insbesondere bei dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA), der aufsichtsbehördlichen Handhabung innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sowie dem selektiven Kontrahieren. Vorsitzender der Monopolkommission ist Prof. Achim Wambach, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), Mannheim. Im Interview mit ersatzkasse magazin. spricht er über die wettbewerblichen Defizite im Gesundheitswesen, Anreize im Versorgungsgeschehen und Vorschläge zur Verbesserung der Zukunftsfähigkeit einer solidarischen Krankenversicherung.

Herr Prof. Wambach, Sie sind Wirtschaftswissenschaftler, Mathematiker und Physiker – wie sind Sie zur Gesundheitspolitik gekommen?

Ich habe mit Mathematik und Physik angefangen und schon immer Interesse an wirtschaftlichen Themen gehabt. Die analytischen Methoden sind sehr hilfreich, um Fragestellungen in den Wirtschaftswissenschaften anzugehen. Habilitiert habe ich zu Märkten mit Informationsasymmetrien, konkret zu der Frage, ob Versicherer Zugriff auf Gentestergebnisse haben sollen oder sogar Gentests selber anfordern dürfen. Im Gesundheitsmarkt finden sich viele solcher Informationsasymmetrien, das macht für den Wissenschaftler die Gesundheitspolitik so spannend. Und die Probleme sind gravierend – auch deshalb setzen wir uns in der Monopolkommission häufig mit Gesundheitsmärkten auseinander.

Was macht die Monopolkommission?

Sie ist ein unabhängiges fünfköpfiges Expertengremium, das die Bundesregierung und die gesetzgebenden Körperschaften auf den Gebieten der Wettbewerbspolitik, des Wettbewerbsrechts und der Regulierung berät. Dabei beobachten wir die Entwicklung der Unternehmenskonzentration und der netzgebundenen Märkte in Deutschland und erstellen dazu regelmäßig Gutachten. Die Monopolkommission ist kein Entscheidungsorgan. Als unabhängige Organisation mit gesetzlichem Auftrag ist sie durchaus eine deutsche Besonderheit. Sie kann auch aus eigenem Ermessen Gutachten erstellen, wenn an bestimmten Stellen wettbewerbliche Defizite vermutet werden. Auch das aktuelle Gutachten zum Krankenversicherungssystem ist aus eigenem Ermessen entstanden.

Welchen Anlass gab es, sich mit Wettbewerbsfragen im Gesundheitswesen zu beschäftigen?

Der Anteil des Gesundheitsmarktes am Bruttoinlandsprodukt liegt bei über elf Prozent, ein extrem relevanter Markt also, in dem Wettbewerbselemente erst nach und nach Einzug halten. Damit ist der Gesundheitsmarkt per se schon interessant für die Monopolkommission. Aktuell haben wir natürlich konkrete Debatten verfolgt, etwa die Diskussion um den RSA. Es ist unsere Aufgabe, Defizite aufzuspüren und sich die Märkte mer stark aktiv ist. Hier nimmt die GKV eine besondere Rolle ein.

Wie lässt sich denn der soziale Auftrag der GKV mit dem Wettbewerbsgedanken vereinbaren?

Die GKV ist eine Solidarversicherung. Jeder Versicherte sollte die Leistungen der GKV zu finanzierbaren Beiträgen bekommen. Dies schließt aber nicht aus, dass die Krankenkassen im Wettbewerb stehen und mit dem besten Preis-Leistungs-Paket für ihre Versicherten ringen. Dabei sollte es kein reiner Preis-, sondern auch ein Qualitätswettbewerb sein. Wo sonst sollte Qualität ein ausschlaggebendes Kriterium sein, wenn nicht im Krankenversicherungsmarkt mit seinen Gesundheitsleistungen? Die Sozialversicherung definiert demnach eine gesetzlich vorgeschriebene Standardversicherung, sozusagen eine Basisversicherung, die eine gute Versorgung gewährleistet. Die gesetzlichen Krankenversicherungen konkurrieren dann mit selektiven Verträgen mit Leistungserbringern, durch die die Versorgung noch besser und individuell angepasster erbracht werden kann. Darüber hinaus gibt es den Zusatzversicherungsmarkt, in dem besondere Leistungen im Wettbewerb angeboten werden.

Basispaket als Begriff hat schon immer einen negativen Beigeschmack, als decke es nur eine minimale Grundversorgung ab. Was verstehen Sie also unter dem Begriff Basisversorgung?

Das ist ein guter Punkt, da muss man eine andere Begrifflichkeit finden. Denn das Sozialversicherungspaket ist ein attraktives Paket. Aber auch diese Leistung lässt sich durch selektives Kontrahieren besser, effizienter und den Umständen angepasster darstellen. Und über eine Zusatzversicherung kann man beispielsweise Ein- statt Mehrbettzimmer, eine bezahlte Drittmeinung oder Zugang zu den neuesten technischen Geräten bei der medizinischen Versorgung erhalten. Daraus ergeben sich natürlich Unterschiede in der Gesundheitsversorgung, das lässt sich kaum vermeiden. Daher sollten wir dafür sorgen, dass die Solidarversicherung innerhalb ihrer Möglichkeiten alle gut bedient. Wenn eine Krankenkasse dann durch selektives Kontrahieren eine noch bessere Versorgung schafft, umso besser.

Gut 80 Prozent der Leistungen sind in der GKV gesetzlich fixiert, etwa 20 Prozent werden unter anderem über Satzungsleistungen, Selektivverträge und Wahltarife geregelt. Welches Verhältnis schwebt Ihnen vor?

Bisher fehlen noch die Voraussetzungen, damit die Krankenkassen sich Selektivverträge umfänglich nutzbar machen können. Wenn die Weichen jedoch richtig gestellt werden, wird im Wettbewerb darum gerungen, wie hoch der Anteil etwa über Selektivverträge ist. Unbestritten ist, dass ein bestimmtes Maß an Regulierung auf dem Gesundheitsmarkt notwendig ist, wenn man eine Solidarversicherung will. Gleichzeitig dürfen und müssen aber auch Spezialisierungen möglich sein, die effektiv und effizient sein können. Wenn eine Krankenkasse sich zum Beispiel primär auf Versicherte mit chronischen Erkrankungen spezialisiert, holt sie sich die dafür besten Ärzte, Krankenhäuser und Behandlungen. Zugleich offeriert sie die Standardversicherung. Da freier Wechsel und Kontrahierungszwang in der GKV gelten, sucht sich der Versicherte die für sich beste Krankenkasse. Die Standardversicherung setzt dabei den Maßstab. Mit den Spezialpaketen grenzen sich die Krankenkassen ab.

Ein funktionierender Wettbewerb braucht gleiche Rahmenbedingungen für alle. Innerhalb der GKV gilt jedoch eine unterschiedliche Aufsichtspraxis auf Bundes- und Landesebene. Wie bewerten Sie das Nebeneinander verschiedener Aufsichtsstrukturen?

Die geteilte Aufsicht, also dass das Bundesversicherungsamt für bundesunmittelbare Krankenkassen und die Aufsichtsbehörden der Länder für landesunmittelbare Krankenkassen zuständig sind, führt potenziell zu Wettbewerbsverzerrungen. Teilweise werden Gesetzeslagen unterschiedlich interpretiert. Lösungsansätze wären, dass man beispielsweise präzisere Formulierungen findet, Auslegungsrichtlinien an die Hand gibt oder den Aufsichten die Wettbewerbsperspektive und damit die Auswirkungen ihrer Entscheidungen auf den Wettbewerb sozusagen mit ins Stammbuch schreibt. Wir müssen das Problembewusstsein schärfen und zugleich die Voraussetzungen schaffen für ein gemeinsames Vorgehen. Denn klar ist: Krankenkassen im Wettbewerb müssen unter gleichen Bedingungen handeln können. Es muss ein fairer Wettbewerb sein.

Gewährleistet der Morbi-RSA derzeit diesen fairen Wettbewerb?

Zunächst einmal ist zu sagen, dass der RSA als Instanz meines Erachtens unumstritten ist. Wir können keinen Kunden- bzw. Versichertenwettbewerb mit nicht-risikoadäquaten Beiträgen vorhalten, ohne dass wir auf Ebene der Krankenkassen eine Risikokompensation machen. Nur so lässt sich ein wettbewerbliches System halten. Aber dieses Ausgleichssystem bringt auch Probleme mit sich. In dem Gutachten der Monopolkommission unterscheiden wir strukturelle Probleme, also Probleme, die auch aufträten, wenn der RSA optimal wäre, und Probleme, die es gibt, weil der RSA in seiner jetzigen Form eben nicht optimal ist.

Erläutern Sie das bitte anhand von Beispielen.

Nicht optimal ist der RSA dann, wenn Umfang und Adjustierung der Ausgleichsparameter nicht so gewählt sind, dass dadurch Wettbewerbsverzerrungen wirksam minimiert werden. Solchen Problemen geht der Wissenschaftliche Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs in seiner Evaluierung derzeit nach. Im Gutachten der Monopolkommission diskutieren wir insbesondere eine mögliche Regionalkomponente sowie die Anreize zur übermäßigen Kodierung von Krankheiten.

Und zur strukturellen Dimension?

Nehmen Sie den Bereich der Prävention. Eine Krankenkasse investiert in die Gesundheitsförderung ihrer Versicherten, zum Beispiel indem sie für chronisch Erkrankte Behandlungsprogramme plant und selektiv die bestgeeigneten Leistungserbringer kontrahiert. Das heißt sie nimmt möglicherweise höhere Kosten für eine präventive Versorgung in Kauf oder finanziert eine Behandlung, die heute zwar Geld kostet, aber vielleicht dazu führt, dass eine Krankheit erst viel später auftritt. Nun sorgt aber der RSA dafür, dass die Vorteile, die die Krankenkasse aufgrund des verzögerten Auftretens der Krankheit hat, wieder nivelliert werden. Denn für die Jahre, in denen die Krankenkasse ihren Versicherten gesund erhält, bekommt sie weniger Geld aus dem RSA. Die Gesunderhaltung lohnt sich also für sie nicht. Dieses Auseinanderfallen von Investition in Gesundheit und Ertrag ist ein systematisches Problem.

Was schlagen Sie vor?

Man könnte sich anschauen, wie gut die Krankenkasse bei der Versorgung dieser verschiedenen Krankheitsbilder aufgestellt ist, und zwar anhand der Inzidenzrate. Man betrachtet den Verlauf der Inzidenzrate im Vergleich zu anderen Krankenkassen und berücksichtigt das Ergebnis im RSA. Die Krankenkasse, die dann in ihre Versicherten im Sinne der Gesunderhaltung investiert, erhält aufgrund ihrer guten Inzidenzrate mehr Mittel aus dem RSA. Ginge es nach dem aktuellen RSA, würde sie weniger erhalten. So aber wäre ein Anreiz geschaffen.

Sollte man auch die Krankheitsauswahl im RSA verändern?

Wir haben uns im Gutachten nicht dafür ausgesprochen, die Krankheitsauswahl aufgrund der Präventionsproblematik zu ändern. Über die Frage der Krankheitsauswahl muss der Wissenschaftliche Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs befinden. Derzeit werden 80 Krankheiten im RSA berücksichtigt. Ist das überhaupt sinnvoll? Sind diese richtig gewählt? Was wären die Kriterien für die Wahl anderer Krankheiten? Sollte man nicht alle Krankheiten berücksichtigen? Für diese Antworten müssen wir das Gutachten des Beirats abwarten.

Sie fordern auch, dass der RSA um regionale Komponenten erweitert wird.

Der RSA sollte so gestaltet sein, dass keine Selektionsanreize bestehen. Eine Krankenkasse sollte nicht Ressourcen verwenden, um ein bestimmtes Versichertenklientel anzuziehen, weil diese Versicherten tendenziell zu hohe Zuweisungen aus dem RSA erhalten. Zu hohe oder zu niedrige Zuweisungen für Versicherte können auch dann ein Wettbewerbsproblem hervorrufen, wenn Krankenkassen durch ein regional angelegtes Angebot ein anderes Versichertenklientel hat als eine andere Krankenkasse, die zum Beispiel bundesweit Menschen versichert. Wenn nun aber eine Klientel günstiger ist, weil sie etwa in einer ländlichen Region lebt, wird diese Klientel für einen überwiegend dort aktiven Versicherer zu einem Wettbewerbsvorteil, ohne dass dies auf seine Leistung zurückzuführen ist. Eine mögliche Lösung wäre eine regionale Ausrichtung des RSA. Demzufolge würde die Krankenkasse für Versicherte in kostengünstigeren Regionen weniger Geld aus dem RSA bekommen als für Versicherte in anderen Regionen. Eine andere Lösung wären regional unterschiedliche Beiträge, womit der Ausgleich nicht direkt über den RSA laufen würde. Attraktiv bei dieser Lösung wäre, dass die Versicherten dann bei der Entscheidung, wo sie wohnen möchten, die Gesundheitskosten mit berücksichtigen.

Bei der regionalen Beitragslösung müssten bundesweit aufgestellte Krankenkassen ihre Strukturen anpassen im Gegensatz zu landesunmittelbaren Krankenkassen. Wäre das nicht schon im Ansatz eine Wettbewerbsverzerrung?

Eine Wettbewerbsverzerrung sehe ich nicht. Bundesweit aufgestellte Krankenkassen würden zwar regionale Beiträge verlangen, aber damit treten sie ja dann quasi auf Augenhöhe in Konkurrenz zu den landesunmittelbaren Krankenkassen. Umgekehrt gilt, dass auch derzeit einige landesunmittelbare Krankenkassen gegenüber national aufgestellten Krankenkassen Nachteile haben, nämlich die, die in teuren Regionen anbieten. Durch regionale Beiträge würde auch hier ein level playing field geschaffen.

In Diskussionen heißt es, dass der RSA zu 100 Prozent zielgenau sein muss. Ist Zielgenauigkeit

überhaupt möglich?

Wir haben beim RSA tatsächlich das Problem: Was ist das Ziel des RSA und wie messe ich dieses? Es kann nicht das Ziel sein, 100 Prozent im Sinne von Treffgenauigkeit der Ausgaben zu erreichen. Denn der RSA ist prospektiv, die erwarteten Ausgaben unterscheiden sich von den realisierten Ausgaben. Das Ziel muss sein, Selektionsanreize zu verhindern, was wiederum schwieriger zu messen ist.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass der RSA zeitnah weiterentwickelt wird?

Vom theoretischen Konstrukt her ist er ja sehr überzeugend. Bei der Umsetzung gibt es immer Baustellen. In jedem Regulierungssystem muss stets justiert werden. Eine regelmäßige Evaluierung macht daher Sinn. Die Monopolkommission hat Vorschläge unterbreitet und der Wissenschaftliche Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs präsentiert sein Gutachten im Herbst. Ich gehe davon aus, dass die Sachargumente so gut sind bzw. sein werden, dass sie in mögliche Koalitionsverhandlungen einfließen werden.

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