UN-Behindertenrechtskonvention

Inklusion - aber wie?

Fast zehn Jahre ist es her, dass sich Deutschland mit der Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) verpflichtet hat, die politische, wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu verwirklichen. Damit bekennt sich Deutschland zur umfassenden Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Doch wie genau sieht das aus?

Inklusion bedeutet, dass alle Menschen gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben. Teilhabe behinderter Menschen ist ein Menschenrecht. Die UN-BRK stellt dies klar und konkretisiert es für unterschiedliche Lebensbereiche, wie etwa Barrierefreiheit, persönliche Mobilität, Gesundheit, Bildung, Beschäftigung, Rehabilitation, Teilhabe am politischen Leben, Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung. Ganz wichtig: Die Betroffenen sollen dabei stets mitsprechen. Ist das zu viel verlangt?

Zwei Nationale Aktionspläne zur Umsetzung der UN-BRK, zwei Teilhabeberichte der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen und ein Bundesteilhabegesetz (BTHG) später müssen wir leider konstatieren, dass die Idee von einem inklusiven Deutschland noch lange nicht Wirklichkeit geworden ist. Veränderungen kommen nur sehr schleppend in Gang und wo man auch hinschaut, begegnet man Barrieren für behinderte Menschen. Dabei haben wir im April 2015 schon einmal schriftlich den Spiegel vorgehalten bekommen. Ein aus 18 Sachverständigen bestehendes UN-Fachgremium, das für die Überwachung der Umsetzung und Einhaltung der Konvention zuständig ist, legte erstmalig seinen Bericht über die Umsetzung der UN-BRK für Deutschland vor. Zu jedem der 33 Artikel brachten die UN Kritik und die dazugehörigen Empfehlungen und Verbesserungsvorschläge vor.

Positiv bewertet wurden lediglich vier Punkte: die Erstellung eines nationalen Aktionsplans zur Umsetzung des Abkommens, die Einsetzung einer Bundesbeauftragten für Behinderungen, die offizielle Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache als eigene Sprache sowie die Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes. Besonders kritisiert wurde die in Deutschland immer noch gängige Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen. Weitere wichtige Kritikpunkte des Fachgremiums betrafen den Mangel an Zugänglichkeit, zum Beispiel zu Gerichtsverfahren und zur Gesundheitsversorgung, aber auch die Diskriminierung von Kindern und Migranten und Migrantinnen mit Behinderungen.

Es stellt sich die Frage, was in Deutschland falsch läuft. Und warum sind wir noch so weit weg von der Inklusion? Die naheliegende Erklärung wäre: Inklusion kostet Geld. Das ist sicher richtig, aber gilt längst nicht für alle Bereiche, beispielsweise nicht zwingend für die fehlende Barrierefreiheit (z. B. bei Neubauten), die fehlende Beteiligung oder Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung. Darüber hinaus ist Deutschland ausweislich ein ausgesprochen reiches Land, das sich diese Investitionen leisten könnte, zumal von Inklusion letztlich auch die gesamte Gesellschaft profitiert. Experten sagen, ein Grund für die zögerliche Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention mag auch sein, dass Behindertenvertreter immer noch zu wenig Einfluss auf das politische Geschehen haben. Die UN empfahlen Deutschland daher dringend, verstärkt Selbstvertretungsorganisationen bei der Gestaltung von Konzepten und Programmen sowie der Gesetzgebung mit einzubeziehen.

Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die Menschen in vielen Bereichen nicht per Gesetz zur Inklusion gezwungen werden können und die meisten Menschen nicht wissen, wie es ist, behindert zu sein oder zu werden. Wir haben einfach kein Bewusstsein für dieses Thema und sind daher auch nicht dafür sensibilisiert. Wenn von Menschen mit Behinderungen gesprochen wird, entsteht das Bild des Rollstuhlfahrers oder man denkt an geistig behinderte, an blinde oder taube bzw. schwer seh- und hörbeeinträchtigte Menschen. Sprechen wir über Barrierefreiheit, scheint mit der Rollstuhlrampe das Ziel erreicht. Oft denken Menschen gar nicht an Barrierefreiheit für alle. Sie wissen nicht, wann Menschen gerne mitmachen würden, aber es vielleicht einfach nicht können.

Wir haben keine Vorstellung, wie eine inklusive Gesellschaft aussieht und was dafür getan werden muss. Nur allzu schnell wird akzeptiert, dass eine Behinderung mit Einschränkungen einhergehen muss. Welche das sind und was das für den Einzelnen bedeutet, interessiert kaum noch. Und das passiert selbst zum Teil Personen, die im engen Bekanntenkreis oder in der Familie in Kontakt mit Menschen mit Behinderung stehen. Es fehlt also bereits an der Vorstellung von einer inklusiven Gesellschaft. Alles, was man nicht denken kann, kann man auch nicht umsetzen oder erreichen. Daher muss mehr als bisher das Thema Inklusion – Selbstbestimmung und Teilhabe in allen Lebensbereichen – bei jedweder Gesetzgebung berücksichtigt und gleichzeitig der Fokus auf die Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft gelegt werden.

Mit dem Ende 2016 verabschiedeten BTHG wird das deutsche Recht mit Bezug auf die UN-BRK weiterentwickelt und damit die Teilhabe und Selbstbestimmung weiter gefördert. Das Gesetz tritt stufenweise in Kraft. Mit dem ab dem 1. Januar 2018 in Kraft tretenden novellierten Teil 1 des SGB IX (Reformstufe 2) fokussiert der Gesetzgeber stärker als bisher auf die Verantwortung der Rehabilitationsträger gegenüber den Menschen mit (drohender) Behinderung. Eine Ausweitung des Leistungskatalogs der Rehabilitationsträger erfolgt damit aber nicht.

Die bisher verankerten Leistungen der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung unterstützen Menschen mit (drohenden) Behinderungen dabei, selbstbestimmt am Leben in der Gesellschaft teilzuhaben. Allerdings gibt es auch hier noch Verbesserungspotenzial. Der Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) setzt sich zusammen mit seinen Partnern an vielen Stellen nachdrücklich für die Umsetzung der UN-BRK ein. Dies geschieht beispielsweise durch

  • die Berücksichtigung des Leitgedankens der Inklusion bei den Entscheidungen des
    Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA),
  • die Anpassung der Heilmittel-Richtlinie an die Nomenklatur der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF),
  • die Bedarfsfeststellung auf Grundlage der ICF,
  • die Etablierung der langfristigen Heilmittelverordnung für Versicherte mit dauerhaften schwerwiegenden Behinderungen,
  • die Festlegung, dass Heilmittelerbringung für Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr auch in tagesstrukturierenden Fördereinrichtungen und Regelschulen (Inklusionsschulen) möglich ist,
  • die Umsetzung des Patientenrechtegesetzes, die Beteiligung an der Initiative RehaFutur und RehaInnovativen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS),
  • die Förderung des betrieblichen Eingliederungsmanagements u. a. durch ein gemeinsames Projekt der Ersatzkassen und der Deutschen Rentenversicherung Bund namens „TOUR de BEM“,
  • die Unterstützung des Persönlichen Budgets,
  • den Ausbau wohnortnaher ambulanter und mobiler Rehabilitation,
  • die Forderung und Förderung von Barrierefreiheit bei Leistungserbringern, z. B. Reha-Einrichtungen.

Ein wesentliches Anliegen des vdek ist es, die Menschen bei der Suche und Auswahl von sowie dem Zugang zu Leistungen zu unterstützen. Hierfür wurden bereits drei internetbasierte Leistungsfinder, der vdek-Pflegelotse, der vdek-Kliniklotse und der vdek-Arztlotse, eingerichtet.

Gemeinsam mit anderen Partnern startet und begleitet der vdek unterschiedliche Aktivitäten, um einen entscheidenden Beitrag auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft zu leisten. So ist er beispielsweise einer der Kooperationspartner der Initiative Gesundheit und Arbeit (iga). Auch in diesem trägerübergreifenden Verbund spielt die UN-BRK eine Rolle. Zu nennen ist hier das Projekt „Recherche und Zusammenstellung von Faktoren, die die Einstellung/Beschäftigung von Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben hemmen bzw. fördern“.

Zusammen mit der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin wird in dem Präventionsprojekt GESUND! mit einem integrativen Konzept untersucht, wie sich Strategien zur Gesundheitsförderung für Menschen mit Lernschwierigkeiten umsetzen lassen. Ein weiteres Projekt der Ersatzkassen für die Zielgruppe Menschen mit Behinderung ist das Modellvorhaben „Wir bewegen Werkstätten“ in Zusammenarbeit mit der Universität Bielefeld. In zwei Werkstätten für behinderte Menschen sollen Angebote zur Gesundheitsförderung erprobt werden, die sich gleichsam an Menschen mit Behinderungen als auch die Mitarbeitenden richten.

Diese Projekte sollten Ansporn für weitere Aktivitäten sein. Deutschland hat noch einen langen Weg bis zur Inklusion vor sich. Wir sollten es nicht länger zulassen, dass ein Teil unserer Bevölkerung diskriminiert wird. Selbstständigkeit von Menschen mit Behinderung zuzulassen und zu unterstützen, sollte zur Selbstverständlichkeit werden. Wir sollten Vielfalt wollen und leben und werden davon profitieren. Der kombinierte zweite und dritte Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-BRK ist bis spätestens März 2019 in Genf einzureichen. Ein Datum für die nächste Staatenprüfung ist Anfang der 20er Jahre zu erwarten. Bleibt zu hoffen, dass Deutschland bis dahin seine Hausaufgaben gemacht hat.

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  1. Gabriele Lösekrug-Möller, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales
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