Interview mit Franz Wagner, Präsident des Deutschen Pflegerates

"Wir brauchen ein Signal der Hoffnung"

Franz Wagner, Präsident des Deutschen Pflegerates

Die Pflege ist eins der großen Zukunftsthemen in der Gesundheitspolitik. Der demografische Wandel, steigende Kosten und der Personalmangel machen Veränderungen zwingend notwendig. Die neue Bundesregierung hat das Problem erkannt und sich eine Verbesserung der Situation in der Kranken- und Altenpflege auf die Fahnen geschrieben. Handlungsbedarf besteht in allen Bereichen – von der Ausbildung über die Bezahlung der Pflegekräfte bis hin zur Finanzierbarkeit. Franz Wagner ist Präsident des Deutschen Pflegerates e. V. Der Verband vertritt 15 Berufsorganisationen in Pflege und Hebammenwesen. Hauptziel ist es, die erforderlichen Rahmenbedingungen für eine optimale Ausübung des Pflegeberufes zu schaffen. Im Interview mit ersatzkasse magazin. spricht Wagner über die Schwierigkeiten, Stellen zu besetzen und sein Ziel, die Pflege zu akademisieren.

Sie sind 1957 geboren, gehören also zu den geburtenstarken Jahrgängen. Schauen Sie mit Sorge in die Zukunft, was Ihre Versorgung im Falle von Pflegebedürftigkeit anbelangt, oder denken Sie, dass wir in Deutschland gut abgesichert sind?

Es macht mir schon Sorgen, wie es sich weiterentwickeln wird. Ich habe keine Kinder und frage mich, wie die Versorgung aussehen wird. Habe ich eine Auswahl? Kann ich beispielsweise in eine Wohngemeinschaft ziehen? Ich hoffe natürlich, wie alle anderen auch, dass ich gar nicht pflegebedürftig werde, oder wenn, dann nur für kurze Zeit. Auch ich möchte möglichst lange und selbstständig in den eigenen vier Wänden bleiben können und auch im Alter noch Lebensqualität haben. Dafür muss sich aber in vielen Bereichen etwas tun.

Im Koalitionsvertrag sind etliche Maßnahmen zur Verbesserung der Pflegesituation vorgesehen. Können sie zum Erfolg führen?     

Im Prinzip stehen da viele richtige Dinge drin, aber man weiß nicht, wie sie umgesetzt wer-den sollen. Ich hätte mir manches konkreter gewünscht. Beispielsweise sollen in Pflegeeinrichtungen 8.000 Stellen in der Behandlungspflege geschaffen werden, finanziert durch die Krankenkassen. Das ist der einzige konkrete Punkt. Dass die Behandlungspflege extra finanziert wird, fordern wir seit vielen Jahren. Aber 8.000 Stellen sind viel zu wenig. Die Arbeitsbedingungen in der Pflege müssen sich entscheidend verbessern.

Lassen sich diese 8.000 Stellen im Hinblick auf den Personalmangel überhaupt besetzen? 

Das Pflegethermometer des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung hat in seiner Befragung von Pflegeheimen einen Bedarf von 17.000 nicht besetzten Stellen identifiziert. Wir haben Zigtausende von Menschen, die in der Pflege ausgebildet sind. Die Mehrheit arbeitet in Teilzeit und viele verabschieden sich ganz von in ihrem Beruf. Die gehen lieber beim Discounter Regale auffüllen oder fahren Taxi, weil sie unter den aktuellen Bedingungen nicht arbeiten wollen. Hinzu kommt, dass in den nächsten zehn bis 15 Jahren die Babyboomer-Generation in Rente geht, in denen auch viele in der Pflege arbeiten. Das ist eine tickende Zeitbombe. Wir brauchen ein Signal der Hoffnung. Wir müssen den Menschen in der Pflege ein deutliches Zeichen geben, dass wir erkannt haben, wie gravierend das Problem ist und dass wir wirklich etwas verändern wollen.   

Wie schafft man es, den Pflegeberuf attraktiver zu machen? Umfragen zeigen, dass das Einkommen nicht das alleinige Kriterium ist.

Wenn man die Pflegenden fragt, ist ein höheres Einkommen meist unter den Top drei. Aber es ist nie das wichtigste Kriterium. Das Wichtigste sind mehr Kolleginnen und Kollegen, also eine geringere Arbeitsbelastung. Aber natürlich zählt auch das Gehalt. Hier haben wir zum einen große Unterschiede zwischen der Pflege im Krankenhaus und in der Altenpflege und zum anderen große regionale Unterschiede. Im Süden und Südwesten sind die Gehälter deutlich besser als im Nordosten. Das muss nivelliert werden und ließe sich über einen Branchentarifvertrag politisch regeln. Zudem muss die Arbeitsbelastung reduziert werden. Wenn sich tatsächlich spürbar etwas verändert, finden wir auch unter den vielen Menschen, die heute in Teilzeit arbeiten, wieder mehr, die aufstocken. Wenn sie nur ein bis zwei Stunden in der Woche mehr arbeiten, summiert sich das bei den Hunderttausenden in der Pflege.

Sie treten auch für eine Akademisierung der Ausbildung ein.  

Ja, denn die Anforderungen in der Pflege wachsen und wir müssen neue Interessentengruppen ansprechen. Zurzeit liegt der Anteil der Akademiker in der Pflege geschätzt bei einem Prozent. Doch wir haben immer mehr Abiturienten – für die müssen wir attraktiv sein. International gesehen ist eine Pflegeausbildung meist ein Studium. Auch Österreich und die Schweiz haben in den letzten Jahren die gesamte Ausbildung aus den Pflegeschulen hinein in den Hochschulbereich verlagert.

Gibt es in der Altenpflege ausreichend Bedarf für hochqualifiziertes Personal?

Wir brauchen sicherlich unterschiedlich qualifizierte Leute. Aber aus meiner Sicht wird völlig unterschätzt, wie hoch die Anforderungen sind. In der stationären Altenpflege hat der Anteil der medizinisch induzierten Versorgung deutlich zugenommen. Die Menschen sind kränker, chronisch krank, multimorbid, Polypharmazie spielt eine Rolle. Auch in der Demenzbetreuung muss ganz viel Wissen vorhanden sein und kontextadäquat eingesetzt werden. Wir brauchen da eine viel anspruchsvollere Qualifizierung. Wir wollen auch eine Weiterentwicklung des Aufgabenbereichs der Pflege, zum Beispiel bei der Versorgung von chronischen Wunden.

Können Sie ein Beispiel geben?

Bei bestimmten Präparaten wird ein ärztliches Rezept benötigt. Hier ist der Hausarzt zuständig, der gegebenenfalls gar nicht so viel Ahnung von chronischen Wunden hat wie der pflegerische Experte. Da müssen die Kompetenzen ausgeweitet werden, sodass Pflegende solche Dinge selbst verordnen können. Das gilt auch für Hilfsmittel und Medikamente. Warum soll eine alleinlebende ältere Dame mit stabilem Diabetes 20 Kilometer in die Kreisstadt fahren, um sich ein Rezept für Insulin abzuholen, obwohl der ambulante Pflegedienst täglich kommt? Warum kann der das nicht machen? Das sind alles Facetten eines ganzen Pakets, die dazu beitragen, das Bild der Pflege in der Gesellschaft zu verändern. Das trägt auch dazu bei, den Beruf insgesamt attraktiver zu machen, auch für die, die nicht studieren.

Das Pflegeberufegesetz sieht neben der generalistischen Pflegeausbildung auch eine Zweigleisigkeit bei der Qualifikation vor. Ab 2020 wird die berufliche Ausbildung zur/zum Pflegefachfrau/­mann angeboten und das Pflegestudium.

Ja, am Schluss haben alle die gleiche Berufsbezeichnung, also Pflegefachfrau/-mann, aber die einen haben dazu einen akademischen Grad als Bachelor. Die Studierenden lernen vom Handling und von den Techniken her im Prinzip das Gleiche wie bei der beruflichen Ausbildung, haben aber einen anderen theoretischen Überbau, einen analytischen und reflektorischen Kontext. Trotzdem sind sie erstmal Berufsanfänger. Das spiegelt sich auch im Gehalt wider. Man wird ja für das bezahlt, was man tut, nicht für den Bildungsabschluss. So sieht es das Tarifgefüge vor. Ich wünsche mir gerade in der Altenpflege, dass es durch eine Akademisierung mehr pflegerische Fachkompetenz gibt, die nicht zuletzt durch die wachsende Zahl an chronisch Kranken erforderlich ist. 

Was fordern Sie in Richtung Politik, um diese Ziele zu erreichen?

Wir brauchen ein Förderprogramm, mit dem wir die Infrastruktur an den Hochschulen ausbilden. Wir brauchen Graduiertenprogramme, damit mehr Menschen promovieren und die Lehre an den Hochschulen übernehmen können. Wir brauchen auch Mittel für pflegewissenschaftliche Untersuchungen, vor allem pflegerische Versorgungsforschung. Der Bereich ist völlig unterfinanziert. In den Gremien wird immer nur nach der Medizin geguckt. Wir müssen auch darüber nachdenken, Stipendiaten-Programme einzurichten, denn ein gravierender Unterschied zwischen der schulischen und hochschulischen Ausbildung ist, dass es in der hochschulischen keine Ausbildungsvergütung gibt. Hier gibt es nur BAföG. Ich fordere auch die Träger auf, wenn sie wirklich in die Zukunft investieren wollen, dann doch bitte in die Studierenden. Sie können beispielsweise eine Praktikumsvergütung bezahlen, denn die Studierenden müssen ja auch mindestens 2.300 Stunden praktische Ausbildung nachweisen. Es sollte ein Förderprogramm der Bundesregierung geben. Hier ist ein Mangel, hier muss investiert werden. Wir brauchen auch Investitionen in Sachen Führung. Die formalen Anforderungen an die Leitung einer stationären Einrichtung sind viel zu niedrig, bei der Verantwortung, die sie hat, vor allem Personalverantwortung.  

All diese Maßnahmen sind mit Kosten verbunden. Wie kann Pflege in Zukunft finanziert werden, ohne zu sehr die Pflegebedürftigen und die Angehörigen zu belasten? Denn die Pflegeversicherung ist keine Vollkasko­-Versicherung.

In Umfragen sagen über 90 Prozent, es muss jetzt etwas getan werden, damit die pflegerische Arbeit einfacher wird und die pflegenden Angehörigen besser unterstützt werden. Es gibt eine große Bereitschaft in der Bevölkerung, dafür über Sozialversicherungsbeiträge Geld zu zahlen. Wir werden nicht darum herumkommen, die Einnahmebasis zu verbreitern und mehr auszugeben. Denn heute sind es die pflegenden Angehörigen, die im Wesentlichen die Versorgung bei Pflegebedürftigkeit leisten, aber das wird weniger werden. Auch da schlägt die Demografie zu. Hinzu kommt unser heutiger Lebensstil mit hoher Mobilität und Patchworkfamilien. Die Familienmitglieder sind häufig in der ganzen Republik verstreut. Und Pflegebedürftigkeit tritt ja akut ein. Das kann man nicht planen. Es kommt häufig vor, dass ein älterer Mensch, der bislang noch gut allein zurechtkam, stürzt und sich schwer verletzt. Wenn er aus dem Krankenhaus entlassen wird, ist keine Versorgung da. Das ist eine riesige Herausforderung für jede Familie.

Sehen Sie auch den Staat in der Pflicht, mit Steuerzuschüssen die Finanzierung zu sichern?

Das wäre für mich auch ein sinnvoller Weg, über den wir ebenfalls nachdenken sollten. Daseinsvorsorge ist ja auch eine Verantwortung des Staates. Wir brauchen mehrgleisige Konzepte. Wenn ich mir aber anschaue, dass jetzt internationale Investoren in Pflegeheimketten investieren und Renditeerwartungen im zweistelligen Prozentbereich haben, finde ich das problematisch. Denn da kommt Geld aus den Taschen der Bewohner, aber auch Beiträge aus der Sozialversicherung, die dann irgendwo ins Ausland fließen. Das ist etwas, wo unsere Sozialversicherungsbeiträge nicht gut eingesetzt werden. 

Was muss die neue Bundesregierung tun, um die Pflege für die Zukunft zu sichern?

Wir brauchen ein Gesamtkonzept. Die Politik muss aufhören, an einzelnen Rädchen zu drehen. Es muss jetzt etwas getan werden, das deutlich über den zeitlichen Horizont einer Legislaturperiode hinausgeht. Wir brauchen einen Masterplan, der mindestens zehn Jahre greift. Dazu gehört: mehr Leute in die Ausbildung, bessere Arbeitsbedingungen, eine bessere Personalausstattung und viele weitere Maßnahmen. Wenn wir das nicht schaffen, wird es wirklich schwierig. Im Endeffekt wird es mehr Geld kosten. Das muss uns aber die Pflege wert sein. Denn wir alle kommen wahrscheinlich einmal in das Alter, in dem wir auf eine gute Pflege angewiesen sein könnten. Das sollte man sich bei der Diskussion auch immer vor Augen führen. 

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