Interview mit Prof. Dr. Axel Ekkernkamp

„Der Fachkräftemangel treibt die Digitalisierung voran“

 Prof. Dr. med. Axel Ekkernkamp, Ärztlicher Direktor und Geschäftsführer Unfallkrankenhaus Berlin

Prof. Dr. Axel Ekkernkamp, Geschäftsführer des BG Klinikums Unfallkrankenhaus Berlin

Die Digitalisierung nimmt zunehmend Einfluss auf die medizinische Versorgung und Prozesse im Gesundheitsbereich. Darauf müssen sich auch die Krankenhäuser einstellen. Das Unfallkrankenhaus Berlin (ukb) rüstet sich schon seit Längerem für die digitale Zukunft.

Prof. Dr. Axel Ekkernkamp ist Geschäftsführer des BG Klinikums Unfallkrankenhaus Berlin und bekennender Befürworter der Digitalisierung. Im Interview mit ersatzkasse magazin. spricht er über die Versäumnisse und Notwendigkeiten, die Chancen und Herausforderungen sowie Strukturveränderungen in einer digitalen Gesundheitswelt.

Das 1997 gegründete Unfallkrankenhaus Berlin hat den Ruf, digital vorne mit dabei zu sein. Woran liegt das?

Wir haben von Anfang an Wert darauf gelegt, möglichst digital zu arbeiten – sowohl mit Blick auf die Versorgung als auch auf interne Prozesse. Weltweit waren wir tatsächlich die erste rein digital radiologisch arbeitende Klinik. Gleichzeitig haben wir ein Krankenhausinformationssystem zur Erfassung, Bearbeitung und Weitergabe medizinischer und administrativer Daten aufgebaut, was 1997 noch völlig ungewöhnlich war, heute aber nicht mehr wegzudenken ist. Wir testen eine Innovation nach der anderen, um Abläufe möglichst digital zu gestalten. Allerdings: Auch wenn wir uns ein papierfreies Krankenhaus gewünscht haben, müssen wir feststellen, dass uns das 20 Jahre später noch nicht vollständig gelungen ist. In einer perfekten digitalen Welt sind auch wir noch nicht.

Wie ist Deutschland insgesamt aufgestellt in Sachen digitaler Gesundheit?

Nicht gut. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht den Anschluss verlieren. Das gilt zum einen mit Blick auf andere Bereiche. Wir brauchen uns nur anzuschauen, wie weit Arbeit 4.0 ist. Davon ist Gesundheit 4.0 Lichtjahre entfernt. Wäre man im Bereich Arbeit so vorgegangen wie in der Gesundheit, hätten wir heute beispielsweise keine selbstlernenden Roboter, die seit Langem eine wichtige Rolle beim Autobau spielen. In der Gesundheit dagegen diskutieren wir immer noch darüber, ob und wie Krankenhaus A mit Krankenhaus B reden darf. Zum anderen sind wir international abgeschlagen. Als Vorbilder der Digitalisierung werden stets Estland und Dänemark zitiert, die skandinavischen Länder insgesamt. Im erweiterten europäischen Raum gehört aus meiner Sicht auch Israel dazu, dort werden unglaubliche Mengen an Forschungsmitteln zur Verfügung gestellt. Allerdings muss man auch genau hinschauen, jedes Land hat seine eigenen Schwächen.

Wie kann Digitalisierung ganz konkret die medizinische Versorgung verbessern?

Man kann Menschen mit Technik unterstützen. Im Rahmen unseres Projekts Smart Living zum Beispiel zeigen wir die neuesten Möglichkeiten, wie ältere Menschen mithilfe technischer Unterstützung möglichst lange zu Hause leben können. Der Spitzenforscher und Robotik-Experte Professor Sami Haddadin von der Technischen Universität München hat jetzt völlig neuartige sensitive Roboter entwickelt, die in diesem Bereich sehr gut eingesetzt werden können. Dann gibt es das Feld der Surgical Robotics, wo bestimmte immer wiederkehrende Verrichtungen mit Roboterhilfen gemacht werden, etwa Dickdarm- oder Prostataoperationen. Wichtig ist auch die Neuroscience, da werden selbstlernende Roboter entwickelt, die in den medizinischen Alltag eingreifen. Und das Kerngebiet ist die Tumormedizin. Da wird uns die Telepathologie sehr helfen, die ein großes neues Feld in der Digitalisierung ist. Dass mehrere Ärzte an unterschiedlichen Orten gleichzeitig feingewebliche Schnitte untersuchen können, verbessert die Diagnostik enorm. Und das gilt für viele Bereiche der Versorgung. Digitalisierung ist eine große Chance – gerade auch für ländliche Regionen.

Wie sieht es im ambulanten Bereich aus?

Auch im ambulanten Bereich ist die Welt noch nicht digital. Das wäre der Fall, wenn zum Beispiel die Patientenakte flächendeckend im Einsatz wäre. Dann könnte der niedergelassene Arzt alles sehen, was der Patient frei gibt, und alles, was das Krankenhaus an Informationen hat. So würde ein guter Austausch zwischen niedergelassenem Arzt und Krankenhaus, ggfs. auch anderen Leistungserbringern, möglich sein. Da sind wir noch meilenweit von entfernt.

Was muss politisch hierzulande passieren, damit die Digitalisierung einen Schub bekommt?

Klar ist: Geld allein wird da nicht helfen. Wenn ich jetzt flächendeckend über die deutschen Krankenhäuser mittelgroße Beträge verteile, an der Spitze der Kliniken aber Entscheider aus der analogen Welt sitzen, dann wird das nicht zu einer Digitalisierung führen, sondern zu mehr Laptops und besserem W-LAN. Ich würde jeweils nur drei oder vier Unikliniken identifizieren, Krankenhäuser der nicht-universitären Maximalversorgung sowie der Grund- oder Basisversorgung und diese dann umfangreich aus dem Bundes- bzw. Landeshaushalt finanzieren und engmaschig begleiten. So würden wir diese Kliniken wirklich auf den digitalen Weg bringen, etwa mit einem Patientendaten-Managementsystem – einer vollständig automatisierten Dokumentation, die das Personal wirklich entlastet. Da wird man manchen Irrweg erleben, manche Sackgasse, aber man muss trotzdem weiter machen. Sinnvoll ist, das durch eine Expertenkommission transparent begleiten zu lassen. Wenn das dann vernünftig läuft, kann man es auf all die anderen Themen ausweiten, die uns beschäftigen, zum Beispiel die sektorenübergreifende Versorgung. Wir müssen etwas ganz Konkretes auf die Beine stellen. Und wir müssen jetzt sofort damit anfangen.

Werden sich die Strukturen in der Versorgung durch Digitalisierung verändern? Bekommt die ambulante Versorgung ein anderes Gewicht?

Über ambulant vor stationär reden wir schon seit Norbert Blüm. Wir reden auch über die Annahme, dass wir zu viele Leistungsangebote haben. Wir reden von einer dringend notwendigen Verkürzung der durchschnittlichen Verweildauer, weil die Patienten hier europaweit gesehen am längsten bleiben. Aktuell reden wir über die Frage, wo der Notfallpatient behandelt wird. All das müssen wir jetzt auch unter digitalen Gesichtspunkten betrachten und natürlich müssen dann die Strukturen anders sein. In dem Zusammenhang geht es dann auch um die Qualität der Versorgung. In Deutschland wird oft behauptet, gute Qualität sei vorhanden, wenn das Krankenhaus in der Nähe liege; relativ ortsnahe Versorgung der Bevölkerung bedeute also Qualität. Oder ist Qualität nicht eher dadurch gesichert, dass die Behandlung durch Spezialisten, deren Wissen und Erfahrung auf dem neuesten Stand der Dinge sind, in wenigen Krankenhäusern erfolgt? Damit gebe ich ja nicht die ortsnahe Versorgung auf, sondern habe nur eben nicht überall ein stationäres Setting, was ich wiederum über Digitalisierung auffange. So profitiert auch der Patient auf dem Land vom Wissen der Spezialisten.

Wie kann man den Prozess beschleunigen?

Das Thema wird sich meiner Ansicht nach nicht über Gesetze, auch nicht über den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung oder über Strukturanforderungen der gesetzlichen Krankenversicherung und Leistungsanbieter steuern lassen. Es wird sich über den Fachkräftemangel regeln. Bisher waren es Ärzte, jetzt ist im Wesentlichen Pflegepersonal betroffen, und es hat auch Auswirkungen auf andere Gesundheitsberufe, auf Logopäden, Ergo- und Physiotherapeuten. Dieser Mangel an Fachkräften wird der entscheidende Faktor sein, dass es mit der Digitalisierung und einer Strukturveränderung irgendwann richtig voran geht. Denn Assistenz- und Unterstützungssysteme können medizinisches Personal deutlich von bisherigen Aufgaben entlasten.

Kommen wir zum Thema Big Data. Hilft es den Patienten wirklich, wenn massenhaft Daten gesammelt werden? Das muss nicht immer zu guten Entscheidungen führen …

Das Sammeln und Verwerten großer Datenmengen wird uns allen, Patienten und Ärzten, helfen, denn je mehr Informationen man hat, desto individueller kann man reagieren. Personalisierte Medizin baut auf individuelle Daten. Es gibt im Grunde zwei unterschiedliche Facetten: Ich kann für Entscheidungen das Know-how erfahrener Wissenschaftler und Mediziner heranziehen und dem Patienten eine entsprechende Therapie vorschlagen. Oder ich nutze als Alternative gesammelte Daten, sodass ich auf einen Computer zurückgreife, in dem anhand der Patientendaten das aktuelle Wissen von Tausenden von Chefärzten gespeichert ist, zudem noch unzählige Publikationen, die der Computer auswertet. Ich glaube, der Patient profitiert vom Mittelweg. Das reine Abrufen von Algorithmen ist genauso schlecht, als wenn ich nur einem Arzt vertraue. Der Prozess muss allerdings gut gesteuert werden.

Machen wir uns nicht zu abhängig von Algorithmen? Und besteht nicht die Gefahr von Überdiagnostik?

Ich denke, dass es hilfreich ist, mehr zu wissen. Immer wieder gibt es die Diskussion, ob in Deutschland zu viel operiert wird. Darauf müssen wir sensibel reagieren. Es dürfen keine Maßnahmen stattfinden, die nicht indiziert sind. Darum bin ich auch sehr für das Zweitmeinungsverfahren. Wenn das dann noch digital passiert, beispielsweise der Patient mehrere Meinungen zeitgleich erhält, kommen wir schon weiter.

Viele Versicherte haben Angst, dass ihre Daten zweckentfremdet werden. Wie beugt man dieser Gefahr vor?

Es wird absolut notwendig werden, dass medizinische Daten weltweit in gesicherte Clouds wandern. Es muss dann aber klar sein, wem die Cloud gehört und dass der Patient das weiß. Wir wollen den Menschen ja durch große Datenmengen helfen – dann werden wir uns nicht sperren können, auch moderne Möglichkeiten der Datensammlungen zu nutzen. Aber da gilt es, mit dem nötigen Fingerspitzengefühl medizinischen Fortschritt und Datenschutz auszutarieren.

Wie sieht es bei Gesundheits-Apps aus?

Auch da müssen wir vorsichtig hantieren. Ich glaube, dass ein hoher Prozentsatz der Gesundheits-Apps den Menschen nicht hilft. Aber es gibt eben auch einen Prozentsatz, der hilft. Da muss man sehr gut abwägen und aufpassen, dass man die guten Ideen nicht weiter stoppt. Gerade jetzt, da wir in Deutschland bei der Digitalisierung sowieso stark auf der Bremse stehen. Die Start-Ups dürfen nicht demotiviert werden, Gesundheits-Apps weiterzuentwickeln. Aber wir brauchen auch erfahrene Partner aus dem Gesundheitsbereich, die solche Apps dann auf ihren Nutzen hin testen. Fördern und gleichzeitig Qualität sichern – darauf kommt es an.

Verändert die Digitalisierung auch das Arzt­-Patienten­-Verhältnis?

Das Verhältnis wird sich verändern. Der Patient ist informierter. Das zwingt den Arzt in der Praxis sowie im Krankenhaus dazu, ebenfalls informierter zu sein. Wir wissen, dass 30 Prozent der Patienten ins Internet schauen, bevor sie in eine Arztpraxis gehen, 40 Prozent danach. Das ist gut. Ich denke, die Ärzteschaft ist schlecht beraten, beleidigt zu sein, wenn der Patient gut aufgeklärt in die Praxis kommt. Die Qualität der Arzt-Patienten-Kommunikation erhöht und verbessert sich, weil mehr Basiswissen vorhanden ist. Ich sehe das ausgesprochen positiv.