TELnet@NRW

Visite mit Zukunft

Hand zeigt auf Computerbildschirm

Die Digitalisierung ermöglicht es, mithilfe großer Datenmengen die Versorgung noch gezielter auszurichten.

Telemedizin hält zunehmend Einzug in die Gesundheitsversorgung in Deutschland. Sie soll ermöglichen, Patienten medizinische Leistungen unabhängig von Ort und Zeit anbieten zu können. Dieses Ziel verfolgt auch das vom Innovationsfonds geförderte Projekt TELnet@NRW, ein sektoren- übergreifendes telemedizinisches Netzwerk in der Infektiologie und Intensivmedizin, unterstützt auch von den Ersatzkassen. Ein Vorbild für andere?

Es ist 15 Uhr, Zeit für die Televisite. Holger Wilms, Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin an der Uniklinik RWTH Aachen, zieht seinen weißen Kittel über, schließt die Tür und setzt sich an den Schreibtisch. Der Raum ist reduziert eingerichtet, ein paar Tische und Stühle, Jalousien vor den Fenstern, ein bunter Terminplaner an der weißen Wand. Vor Wilms stehen zwei Monitore, mit einem Klick springt der rechte Bildschirm an. Ein Krankenhausflur ist zu sehen, das Bild wackelt ein wenig. „Hallo, bist du da?“, fragt jemand aus dem Off. Es ist Jens Hansen, der Kollege aus dem Krankenhaus Düren, ebenfalls Intensivmediziner. Jetzt sieht man auch ihn. Er schiebt etwas vor sich her den Gang entlang, eine Art Rollwagen, vorbei an Türen und Schildern, bis zum Patientenzimmer 212. Hier liegt Rainer Müller*, bereit für die Televisite.

In Fachkreisen heißt der Rollwagen Tele-ICU-Mobil. Es ist ein Geräteträgersystem, ergänzt durch eine zertifizierte Datenaustauschplattform, was zusammengenommen eine qualitativ hochwertige, differenziertere Audio-Video-Konferenz ermöglicht. Die Kamera bietet unterschiedliche Perspektiven, zoomt bis an Pupillengröße heran und scannt Dokumente spurenfrei, etwa zu Herzfrequenzen oder Untersuchungsergebnissen aus der Patientenakte, die in Echtzeit auf Wilms linkem Monitor landen. Mit dem Rollwagen kann Hansen sieben Stunden durchs Krankenhaus fahren, ohne ihn aufladen zu müssen. An manchen Tagen besucht er bis zu zehn Patienten seiner Station für eine Televisite. Die Videoübertragung und die digitale Verfügbarkeit von Patientendaten ermöglichen es ihm, an jedem Patientenbett zu jeder Zeit Zweitmeinungen oder spezialisierte Beratungen von den Kollegen in Aachen einzuholen.

Information und Entscheidung

Inzwischen ist der Rollwagen in Zimmer 212 positioniert, hinter dem Nachttischschränkchen. Die Kamera fängt den schwer erkrankten Patienten Müller ein, der seit einigen Tagen auf der Intensivstation liegt. Müller kennt den Ablauf bereits. Er wird wie jeder Patient über die Televisite aufgeklärt und die Entscheidung, daran teilzunehmen, liegt bei ihm. Man könnte meinen, für Müller ist die Televisite schon ein alter Hut, so gelassen wie er auf seinem Stuhl sitzt und lächelt. „Beim ersten Mal war es schon komisch“, sagt er, „aber man gewöhnt sich daran.“ Mehr noch: „Eigentlich fühle ich mich jetzt noch besser aufgehoben, weil sich ja die anderen Ärzte auch noch um mich kümmern.“ (*Name von der Redaktion geändert)

Diese Verfügbarkeit von ärztlichem Wissen und medizinischen Spezialisten, unabhängig von Ort und Zeit, ist ein prioritäres Ziel der Telemedizin. Die Infektionsmedizin ist dafür nahezu prädestiniert, aus zwei Gründen, wie Prof. Dr. Gernot Marx, Direktor der Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care der Uniklinik RWTH Aachen, erklärt: „Erstens sind insbesondere schwer kranke Menschen auf eine spezialisierte und hochqualifizierte zeitnahe intensivmedizinische und infektiologische Behandlung angewiesen. Zweitens jedoch gibt es in Deutschland momentan nur rund 300 ausgebildete Infektiologen.“ Und das für rund zwei Millionen Intensivpatienten bundesweit, wovon nur ein Drittel in den großen Kliniken versorgt wird. „Die kleinen Krankenhäuser können diese Masse an Erfahrung und spezialisiertem Wissen gar nicht zur Verfügung stellen. Daher brauchen wir dringend Lösungen, um die Patientenversorgung diesbezüglich zu verbessern.“ Ein enormes Potenzial sieht er in telemedizinischen Anwendungen.

Deshalb haben Marx und seine Kollegen im Februar 2016 das Projekt TELnet@NRW ins Leben gerufen. Es handelt sich um ein sektorenübergreifendes telemedizinisches Netzwerk, das mit knapp 20 Millionen Euro über drei Jahre hinweg aus dem Innovationsfonds gefördert wird. Neben der Uniklinik RWTH Aachen sind das Universitätsklinikum Münster, 17 weitere Krankenhäuser sowie rund 100 Arztpraxen aus Nordrhein-Westfalen beteiligt. Hervorgegangen ist TELnet@NRW aus dem Aachener Projekt „TIM – Telematik in der Intensivmedizin“. Die Ziele von TELnet@NRW sind klar gesteckt. Dazu zählen die Sicherstellung einer wohnortnahen bedarfsgerechten Versorgung, die Unterstützung der sektorenübergreifenden Zusammenarbeit und des kollegialen Austausches, die Steigerung der Versorgungs- und Lebensqualität der Versicherten sowie die Optimierung der Antibiotikaverordnungen und die Förderung einer leitliniengerechten Therapie. „Die große Frage ist doch: Nützt die telemedizinische Anwendung dem Patienten und verbessert es die Qualität?“, sagt Marx. Nachgewiesen sei beispielsweise, dass eine telemedizinische interdisziplinäre Intervention zu einer Reduktion der Sterblichkeit bei einer Sepsis bzw. Blutvergiftung um mehr als 25 Prozent geführt hat. Etwa elf Prozent der jährlich in Deutschland behandelten Intensivpatienten erkrankten an einer Sepsis, 40 Prozent von ihnen bzw. rund 75.000 Patienten würden infolgedessen versterben. Damit sei Sepsis die dritthäufigste Todesursache bundesweit. „Hier wird deutlich, wie zentral eine frühzeitige und leitliniengerechte Behandlung innerhalb weniger Stunden ist. Aber aufgrund des Mangels an ausgebildeten Infektiologen und Intensivmedizinern besteht eine ausgeprägte Lücke zwischen den Vorgaben. Daher müssen wir die Ärzte stärker miteinander vernetzen. Es kommt gerade auch in der Intensivmedizin auf die Verfügbarkeit von Expertenwissen unabhängig von Zeit und Raum rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche an“, sagt Marx.

Ein Stück Sicherheit

Intensivmediziner Hansen aus Düren ist dankbar für den Austausch mit den Kollegen. „Es hilft, noch einmal über die eigens erstellte  Diagnose zu sprechen, es gibt auch ein Stück Sicherheit.“ Das Gefühl, kontrolliert zu werden oder in ein Konkurrenzverhalten zu geraten, hat er nicht. „Grundsätzlich stehen wir Kollegen in den Kooperationskrankenhäusern einer Konsultation mit den Unikliniken aufgeschlossen gegenüber.“ Teilweise diskutierten sie durchaus intensiv, wenn Meinungen stark auseinander gingen. Letztendlich aber liegen die Entscheidung über Diagnose und Therapie sowie die Verantwortung bei dem Krankenhaus, in dem der Patient behandelt wird. Und auch für Wilms ist dieser Austausch wertvoll. „Ich kann mich auf das Elementare konzentrieren und die Krankheitsbilder aus anderer, eher nüchterner Perspektive betrachten.“ Sie führten Fachgespräche auf Augenhöhe.

Im ambulanten Sekor würden Ärzte verschiedener Fachrichtungen, etwa Allgemeinmediziner, Augenärzte, Internisten und Gynäkologen, ebenso bereitwillig an TELnet@NRW teilnehmen, berichtet Dr. Robert Deisz, leitender Oberarzt für den Bereich Telemedizin an der Uniklinik RWTH Aachen. „Allerdings ist es kein Selbstläufer“, sagt er. Man müsse schon proaktiv auf die niedergelassenen Kollegen zugehen. Während mit den Krankenhäusern feste Zeiten für die Televisite vereinbart werden, finden die Konsultationen mit den Praxen auf Zuruf statt, beispielsweise nach der Sprechstunde oder während der Untersuchungen im Beisein der Patienten und Angehörigen. Konsultationen sind außerdem beim Hausbesuch oder in Pflegeheimen möglich, da die Ärzte mit einem Tabletcomputer ausgestattet sind. „Dafür braucht es nicht das große Gerät, wie es die Kliniken nutzen. Hier geht es vor allem darum, dass sich ein Spezialist ein Bild vom Zustand des Patienten machen kann, ohne dass dieser Patient im Krankenhaus vorstellig werden muss“, erklärt Deisz. Er ist davon überzeugt, dass mithilfe von Telemedizin Patienten in Zukunft nicht mehr so oft stationär eingeliefert we den müssen.

„Wenn die Telemedizin Einzug in die Regelversorgung erhält, wäre eins meiner großen Ziele erreicht“, betont Marx. Seiner Meinung nach lasse sich TELnet@NRW auch gut auf andere medizinische Bereiche ausweiten. Dass Telemedizin insgesamt eine immer größere Rolle spielen wird, steht für ihn außer Frage. „Auf Dauer wird nicht nur die Versorgung kostengünstiger sein, sondern vor allem geben die Zufriedenheit der Patienten bzw. der Nutzen für die Patienten den Ausschlag.“ Aus Befragungen wisse man, dass Patienten die Telemedizin befürworten, dass sie in telemedizinischen Anwendungen Vorteile sehen und denken, dass diese die Sicherheit der Behandlungen erhöht. Deswegen investiert die Uniklinik RWTH Aachen über TELnet@ NRW hinaus in die Telemedizin. Noch in diesem Jahr soll mit dem Bau eines dreistöckigen Telemedizinzentrums begonnen werden. Dass telemedizinische Anwendungen die Versorgung und das Arzt-Patienten-Verhältnis unpersönlicher gestalten könnten, befürchtet Marx nicht. „Man nimmt dem Patienten ja nichts weg, im Gegenteil, vier Augen sehen mehr. Trotzdem wird ja nicht auf den persönlichen Kontakt verzichtet.“ Hansen nickt, das sehe er auch so, sagt er in die Kamera, und verabschiedet sich dann von seinem Patienten Müller. Er schiebt den Rollwagen zurück auf den Krankenhausflur, die nächste Patientin wartet, es wird die letzte Televisite sein. Für heute. www.telnet.nrw