Antibiotika

Verordnen oder nicht verordnen

Antibiotika gehören zu den bedeutendsten Entwicklungen der Medizingeschichte. Spätestens in den 1940er Jahren läuteten sie die erfolgreiche Bekämpfung bakterieller Erkrankungen ein. Heute werden Antibiotika in vielen Bereichen eingesetzt, von der Humanmedizin bis zur Landwirtschaft. Doch diese breitgefächerte Anwendung führt gleichzeitig zur Entwicklung von teilweise schwerwiegenden Antibiotikaresistenzen. Hier muss dringend gegengesteuert werden.

Illustration: Ärztin berät Patienten zu Antibiotika-Alternativen

Als der berühmte Arzt und Bakteriologe Robert Koch 1876 das erste Mal nachgewiesen hat, dass ein Bakterium eine Krankheit verursacht, waren Antibiotika unbekannt. Kein Wunder, denn damals ahnten die Menschen noch nicht, was hinter einer Infektionskrankheit steckt. Erst nachdem Koch entdeckt hatte, dass Infektionskrankheiten durch winzige Erreger ausgelöst werden – in dem Fall die Krankheit Milzbrand durch das Bakterium Bacillus anthracis –, war es möglich, sich Gedanken über Präventions- und Behandlungsansätze zu machen. Und es sollte noch weitere 50 Jahre dauern, bis der deutsche Mediziner Paul Ehrlich und der schottische Bakteriologe Alexander Fleming das antibiotische Zeitalter begründen konnten.

1928 entdeckte Fleming durch Zufall Penicillin in seinem Labor, ein antibiotisch wirksames Stoffwechselprodukt verschiedener Pilzarten. In den 1940er Jahren wurde Penicillin zum Standardmedikament – und zum Wundermittel im Zweiten Weltkrieg. Der systematische Ansatz von Ehrlich, der Salvarsan (eine organische Arsenverbindung) als Mittel gegen den Syphiliserreger entdeckt hat, wurde die Grundlage für die Entwicklung der Sulfonamide und anderer Wirkstoffklassen. Somit begann die goldene Ära der Antibiotika: Die Lebensqualität des einzelnen Menschen wurde deutlich besser, Todesfälle durch Infektionskrankheiten sanken und die Gefahr, dass man wegen einer kleinen Hautverletzung stirbt, war nur noch gering.

Einsatz und Verbrauch

Antibiotika werden heute vielfach eingesetzt: in der Human- und Veterinärmedizin, in der Landwirtschaft, auf Obstplantagen und sogar in Aquakulturen. All diese Bereiche tragen erheblich zum Antibiotikaverbrauch bei. In der Humanmedizin sind in erster Linie Hausärzte und Internisten, Zahnärzte, Intensivmediziner und Chirurgen für die Verordnung von Antibiotika verantwortlich. Die Wirkstoffe werden im sowohl ambulanten als auch stationären Bereich eingesetzt – und das nicht nur zu therapeutischen Zwecken, sondern beispielsweise auch vorsorglich bei Operationen, als sogenannte perioperative prophylaktische Maßnahme. In der Veterinärmedizin werden Antibiotika zur Therapie, in der Landwirtschaft in größeren Tierbeständen häufig auch metaphylaktisch angewendet: Wenn eine Infektionskrankheit bei einem einzelnen Tier auftritt, werden andere Tiere in dem Bestand behandelt, auch wenn sie noch keine Symptome zeigen.

Seit rund 80 Jahren sind Antibiotika unverzichtbar, die moderne Medizin wäre ohne sie gar nicht mehr vorstellbar. Und trotzdem stehen wir heute vor einer der größten globalen gesundheitlichen Herausforderungen unserer Zeit.

Das Problem der Resistenzen

Das Phänomen der Antibiotikaresistenzen ist uralt. Es gehört zum Wesen von Bakterien, Mechanismen zu entwickeln, mit denen sie sich gegen ein Antibiotikum zur Wehr setzen können. Unterschieden wird zwischen einer natürlichen Resistenz und einer erworbenen Resistenz. Im ersten Fall ist das Bakterium natürlicherweise resistent gegen einen Wirkstoff. Im zweiten Fall wird die Resistenz erst erworben – durch eine Mutation im Erbgut oder die Aufnahme eines fremden Resistenzgens. Schon 1945 warnte Fleming, dass es ein Leichtes sei, Bakterien resistent gegen Antibiotika zu machen – besonders wenn man unwissend eine zu geringe Dosis des Antibiotikums einnimmt, mit der man die Bakterien nicht vollständig abtöten kann. Dieser Gefahr waren wir uns also schon immer bewusst: Jeder Einsatz von Antibiotika fördert die Selektion von resistenten Erregern – sorgt also dafür, dass die resistenten Bakterien überleben und sich weiter vermehren. Und genau hier liegt das Problem.

In den vergangenen 80 Jahren wurden Antibiotika sowohl in der Humanmedizin als auch in der Tiermedizin nicht immer zielgerichtet angewendet, im Gegenteil. In vielen Ländern kann man nach wie vor Antibiotika ohne Rezept kaufen. In Europa gehört Deutschland zu den Ländern, in denen vergleichsweise weniger Antibiotika verschrieben werden. Trotzdem gelingt es anderen Ländern, noch weniger Antibiotika zu verschreiben. In Deutschland werden die Mittel zu oft bei leichten oder nicht-bakteriellen Infektionen im ambulanten Bereich eingesetzt. Weiterhin werden häufig Breitspektrumantibiotika statt Schmalspektrumantibiotika angewendet. Im stationären Bereich wird die perioperative Prophylaxe oft zu lange gegeben. In der Landwirtschaft wurden Antibiotika den Tieren sogar als Leistungsförderer verabreicht. In der Europäischen Union (EU) wurde das 2006 verboten, in Ländern wie China oder den USA war dies bis vor zwei Jahren noch üblich. Solche Entscheidungen und Verschreibungsverhalten von Ärzten und Tierärzten sowie die Annahme von Patienten, dass Antibiotika gezielt alle Arten von Krankheitserregern abtöten, beschleunigten die Entstehung und Ausbreitung von Resistenzen.

Wie Bakterien sind auch die Resistenzen überall zu finden. Sie kennen keine Grenzen. Eine Übertragung von Bakterien und deren genetischen Informationen für Antibiotikaresistenzen findet überall dort statt, wo Bakterien leben: im Boden, im Wasser, in der Tierwelt und im Menschen. Dieses holistische Verständnis wird im sogenannten One-Health-Konzept verfolgt, das die Gesundheit der Menschen mit der Gesundheit von Tieren und einer gesunden Umwelt eng verbunden sieht. Mehr als 60 Prozent der bekannten Infektionserreger können zwischen Mensch und Tier übertragen werden. Steigende Mobilität, internationaler Handel, vermehrtes Reisen sowie die Betreuung konventionell gehaltener lebensmittelliefernder Tiere fördern die Übertragung von Krankheitserregern und Resistenzen.

Der ungezielten Anwendung oder gar dem Missbrauch von Antibiotika liegt eine fundamentale Fehleinschätzung zugrunde, nämlich dass nur krankmachende Bakterien getötet werden: Tatsache ist aber, dass Menschen und Tiere in ihrem Körper mehr Bakterien als eigene Zellen haben. Diese in ihrer Gesamtheit als Mikrobiota bezeichnete Bakterien-Vielfalt ist für die Entwicklung des Einzelnen von elementarer Bedeutung. So wird immer klarer, dass Antibiotika nicht nur Resistenzen hervorrufen, sondern wichtige Bakterien dauerhaft aus der Mikrobiota entfernen können, die etwa für die Vorbeugung von Krankheiten wie Asthma oder Adipositas essenziell sind. Diese Reduktion der mikrobiellen Vielfalt ist in der konventionellen Landwirtschaft schon lange beobachtet worden, in der Humanmedizin wächst die Erkenntnis erst allmählich.

Eines muss klar sein: Wir benötigen Antibiotika für die moderne Medizin. Es gibt ganz klare Indikationen für den Einsatz von Antibiotika, daher muss sehr sorgsam damit umgegangen werden. Wir müssen die Wirkung dieses kostbaren Guts bewahren. Durch einen ungezielten Einsatz riskieren wir jedoch ihren Wirkungsverlust. So treten immer häufiger Infektionskrankheiten auf, die einst unproblematisch mit Antibiotika behandelt werden konnten, heute aber nur noch schwer therapierbar sind, zum Beispiel die Geschlechtskrankheit Gonorrhoe. Klebsiella pneumoniae, Acinetobacter baumanii und Clostridioides difficile sind nur einige weitere Beispiele problematischer Infektionserreger, die teilweise gleich mehrere Resistenzen aufweisen.

In Deutschland erleiden pro Jahr etwa 400.000 bis 600.000 Patienten eine nosokomiale (im Krankenhaus erworbene) Infektion, davon etwa 30.000 Patienten mit einem Erreger, der sogar gegen mehrere Antibiotikaklassen resistent ist. Geschätzt liegt die Todeszahl durch nosokomiale Infektionen bei 10.000 bis 20.000 Menschen pro Jahr, etwa 2.400 Fälle davon gehen auf das Konto multiresistenter Erreger. Ein besonders hohes Risiko haben Menschen mit einer geschwächten Immunabwehr, da sie anfällig für Infektionen sind, die dann ohne eine entsprechende Behandlung einen schweren Verlauf nehmen können. Zu der Risikogruppe gehören Organtransplantierte, Krebspatienten bei einer Chemotherapie, Diabetiker und Patienten, bei denen ein invasiver Eingriff geplant ist. Aufgrund der demografischen Entwicklung nimmt zudem die Zahl alter und hochaltriger multimorbider Patienten zu, die ebenfalls eine Risikogruppe für nosokomiale Infektionen darstellen.

Rationaler Umgang ist notwendig

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rät daher dringend zu einem rationalen Umgang mit Antibiotika – auch weil wenig neue Antibiotika in Sicht sind, die die alten ersetzen könnten. Und selbst wenn ein neues Antibiotikum auf den Markt kommt, würde es höchstens drei bis fünf Jahre dauern, bis die ersten Resistenzen auftreten. Die Entwicklung neuer Antibiotika ist zwar zwingend notwendig, würde die Resistenzproblematik aber nicht lösen, sondern lediglich etwas Zeit gewinnen. Das Hauptproblem der Antibiotikaresistenzen ist der ungezielte Einsatz von Antibiotika.

Jeder Einzelne von uns trägt daher eine Mitverantwortung für den Antibiotikaverbrauch. Auch wenn wir Antibiotikaresistenzen nicht mehr loswerden: Wir können den Prozess der Resistenzentwicklung durch unser Handeln maßgeblich beeinflussen und verlangsamen.

Inzwischen hat das Thema Antibiotikaresistenz einen wichtigen Platz auf jeder internationalen und nationalen Gesundheitsagenda. Im Jahr 2015 haben die WHO-Mitgliedsstaaten einen globalen Aktionsplan verabschiedet, der Aufklärung, systematische globale Erfassung von Antibiotikaverbrauch und Resistenzen, Infektionsprävention, Forschung und Entwicklung neuer Therapien und Diagnostika und vor allem die Erstellung von nationalen Aktionsplänen vorantreiben will. Die Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie (DART) der Bundesregierung wurde bereits 2008 entwickelt, 2015 hat das Bundeskabinett die neue DART 2020 beschlossen. Viele weitere Maßnahmen wurden auf den Weg gebracht und wir können uns über viele positive Entwicklungen freuen, zum Beispiel über den enormen Rückgang von Antibiotika in der Tierhaltung in Deutschland. Doch es gibt weiterhin viele Hürden, die überwunden werden müssen.

Mehr Bewusstsein durch Aufklärung

Das Ausmaß der Resistenzproblematik ist immer noch nicht Jedem bewusst und es bedarf weiterhin einer verstärkten Aufklärung. Das Thema Antibiotikaresistenzen ist auch nicht allein nur für das Fachpublikum, sondern für die breite Öffentlichkeit von großer Bedeutung. So bieten sich Bildungseinrichtungen für eine Aufklärung ausgezeichnet an. Schon in der Schule oder im Studium sollten sich Schüler und Studierende mit dem Thema auseinandersetzen. Die junge Generation ist die Zukunft. Hier ist der One-Health-Gedanke von großer Bedeutung, denn eine gesunde Umwelt trägt ebenfalls zur Mäßigung der Antibiotikaresistenz bei.

Unsere Jugend sollte also gut aufgeklärt sein über die Herausforderungen, die mit Antibiotikaresistenzen verbunden sind, gleichzeitig aber dürfen wir ihnen keine Welt hinterlassen, in der kein Antibiotikum mehr wirkt. Das bedeutet für uns: Wir dürfen ein Antibiotikum nur dann einsetzen, wenn es wirklich notwendig ist. Noch wirksamer ist natürlich, eine Infektion von vorneherein zu verhindern, denn dann kommt die Frage nach einem Antibiotikum gar nicht erst auf. Eine gute Händehygiene, also das alltägliche Händewaschen mit Seife, und Impfungen gehören zu den besten Schutzmaßnahmen, um Infektionskrankheiten vorzubeugen. Hier muss die Botschaft ganz klar sein: Jede vermiedene Infektion reduziert den Antibiotikaeinsatz und somit das Überleben von resistenten Infektionserregern. Und auch die wertvollen Bakterien in unserem Körper (die Mikrobiota) werden geschützt.

Diese Botschaft richtet sich auch an die Landwirtschaft. Tiere, die gesund und stressfrei leben, werden weniger krank und benötigen weniger Antibiotika. Hier wäre es erforderlich, eine Balance zwischen Konsumgesellschaft und konventioneller Tierhaltung zu finden. Konsumenten erwarten gesunde Lebensmittel zu einem möglichst günstigen Preis – was von Tierhaltern aktuell kaum umgesetzt werden kann. Bedarf es nicht auch hier einer drastischen Änderung unserer Einstellungen?

In der Humanmedizin ist eine rationale Antibiotikaverordnung das Ziel, das zum Beispiel durch sogenannte Antibiotic Stewardship (ABS)-Programme gefördert werden kann. Verschiedene ABS-Initiativen bilden Fachleute aus, um Antibiotika rational und strategisch einzusetzen und Infektionen und die Resistenzsituation besser in den Griff zu bekommen.

Hier spielt natürlich auch die Diagnostik eine entscheidende Rolle. Ebenso bedarf es innovativer Lösungen, denn es stehen nicht genügend Schnelltests zur Verfügung, die zeitnah bei der Entscheidung der Verordnung des Antibiotikums behilflich sein könnten. Daher ist nicht nur die Kommunikationsforschung wichtig, sondern auch die biomedizinische Forschung, insbesondere die Entwicklung neuer und schneller Diagnostiktests, aber auch neuer Antibiotika. Das Verständnis für die Notwendigkeit sozialwissenschaftlicher Forschung hat zum Glück in den letzten Jahren zugenommen. Einen anderen Umgang mit Antibiotika, den wir ja anstreben, können wir mit rein biomedizinischer Forschung nur ansatzweise erreichen.

Zu guter Letzt brauchen wir Alternativen zu Antibiotika. Hier werden viele Optionen erforscht, zum Beispiel die Phagentherapie, antimikrobielle Peptide oder Wirkstoffe, die gezielt die Kommunikation der Bakterien unterbinden – um nur einige zu nennen. Besonders sinnvoll sind Ansätze zur Unterstützung der „gesunden“ Mikrobiota, also der guten Bakterien im menschlichen Körper. So ist etwa die fäkale Transplantation – darunter versteht man das Einführen von hilfreichen Bakterien in den Darm eines Patienten – bei schwerwiegenden Infektionen mit dem Durchfallerreger Clostridioides difficile sehr erfolgreich und erwies sich schon bei vielen Patienten als lebensrettend. Doch obwohl es aus biologischer Sicht sinnvoller wäre, die bakterielle Vielfalt im Körper zu unterstützen, als einzelne Bakterien zu töten, sind solche Behandlungsansätze bislang kaum verfügbar. Hier brauchen wir dringend mehr Forschung.

Antibiotikaresistenzen sind eine hochkomplexe gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die uns in vielen Lebensbereichen begegnet. Jeder Einzelne kann dazu beitragen, Antibiotika sinnvoll einzusetzen und die Entwicklung von Resistenzen zu bekämpfen. Eine komplexe Herausforderung bedarf einer komplexen Lösung, die Ärzte und Tierärzte nicht alleine schultern können. Darum wird nur eine gemeinsame gesellschaftliche Aktivität die natürliche Mikrobiota von Mensch und Tier bewahren, die Selektion von resistenten Erregern minimieren und die Geschwindigkeit der Resistenzbildung verlangsamen.

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