Gutachten

Pflegepersonalbemessungsinstrument für stationäre Langzeitpflege

Seit Verabschiedung des Pflege-Versicherungsgesetzes 1994 sind mehrere Versuche zur Einführung eines einheitlichen Personalbemessungsinstrumentes in vollstationären Einrichtungen gescheitert. Im Zweiten Pflegestärkungsgesetz hat der Gesetzgeber nun die Vertragspartner der gemeinsamen Selbstverwaltung in der Pflege beauftragt, ein „wissenschaftlich fundiertes Verfahren zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen nach quantitativen und qualitativen Maßstäben“ zu entwickeln und zu erproben. Der Auftrag für dieses Instrument ist nach europaweiter Ausschreibung an die Universität Bremen gegangen. Hier die zentralen Resultate des zweiten Zwischenberichts, der den Abschluss der Entwicklungsphase markiert.

Das Personalbemessungsinstrument basiert auf einem kombinierten empirischen und analytischen Ansatz. Ziel des Projektteams war die Entwicklung eines Personalbemessungsverfahrens, das auf Basis der Anzahl versorgter Pflegebedürftiger und dem Ausmaß ihrer Pflegebedürftigkeit, wie sie im Rahmen der Begutachtung erhoben werden, nach Qualifikationsstufen differenzierte Personalmengen errechnet, die dann Grundlage für landesspezifische Setzungen und einrichtungsbezogene Vereinbarungen sein können. Hierzu ist es notwendig, differenziert nach Pflegegraden oder anders klassierten Pflegeaufwandsgruppen

  • die Zahl der bedarfsnotwendigen Interventionen,
  • die bedarfsgerechte Zeit pro Interventionserbringung und
  • das bedarfsgerechte Qualifikationsniveau der Pflegeperson pro Interventionserbringung

analytisch zu definieren und dann empirisch zu ermitteln.

Letzteres geschah im Rahmen einer Beobachtungsstudie, bei der im Zeitraum von März bis Oktober 2018 in insgesamt 62 vollstationären Erhebungseinheiten unter der Beteiligung von insgesamt 1.380 Pflegebedürftigen von insgesamt 241 datenerhebenden Pflegefachkräften rund 2.000 Schichten beschattet und dabei Daten zu mehr als 144.000 Interventionen erhoben wurden. Dazu wurde für jeden teilnehmenden Pflegebedürftigen ein aktuelles Gutachten zur Einschätzung der Pflegebedürftigkeit durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) oder die Medicproof GmbH mittels des Begutachtungsinstrumentes erstellt. Basierend auf diesen Informationen, der individuellen Pflegedokumentation, den Aussagen der Bezugspflegekraft vor Ort und – bei Bedarf – einer Inaugenscheinnahme des Bewohners, erstellte das Studienteam der Universität Bremen gemeinsam mit der Bezugspflegekraft eine tagesstrukturierte Pflegeplanung der bedarfsnotwendigen Interventionen.

Diese Planung wurde auf Tablet-PCs übertragen und konnte von den Datenerhebenden für jeden teilnehmenden Bewohner der Erhebungseinheit abgerufen werden. Durch die Eins-zu-Eins-Zuordnung je einer Pflegekraft zu je einer Datenerheber*in wurde die Erbringung der Leistungen sekundengenau erfasst. Gleichzeitig wurde von den Datenerhebenden durch die Überprüfung der zuvor in einer dreitägigen Sitzung mit dem von den Auftraggebern benannten Expert*innengremium konsentierten und von den Auftraggebern abgenommenen normativ gesetzten Teilschritten und Anforderungen eine Bewertung der Notwendigkeit und der fachgerechten Durchführung jeder Intervention vorgenommen. Festgestellte Differenzen wurden in zeitliche Zu- oder Abschläge oder die Anpassung des erforderlichen Qualifikationsniveaus überführt. Zudem werden auch die notwendigen Zeiten für die Interventionen berücksichtigt, die zwar von den datenerhebenden Schatten als bedarfsnotwendig angesehen, aber nicht erbracht wurden. Durch Addition der (Netto-)Zeitzuschläge und (Netto-)Zuschläge für zusätzliche bedarfsnotwendige Interventionen auf die Ist-Zeiten ergeben sich Soll-Zeitmengen pro Bewohner. Unter Rückgriff auf eine Netto-Jahresarbeitszeit, die im Instrument variabel gesetzt werden kann und für die nachstehenden Berechnungen auf 1.560 Stunden im Jahr für eine Vollzeitkraft angesetzt wurde, lassen sich daraus Angaben in Vollzeitstellen errechnen.

Als Ergebnis der Entwicklungsphase liegt nun ein Personalbemessungsinstrument vor, mit dem die fachlich angemessene Personalmenge für die Pflegebedürftigen in einer Einrichtung nach Qualifikationsniveaus differenziert ausgewiesen wird. Die Berechnung erfolgt unter Einsatz eines mathematischen Modells, dessen Parametrisierung als Algorithmus 1.0 durch die empirischen Sollwerte erfolgt. Möglich ist dabei sowohl eine Berechnung nach Pflegegraden als auch nach anderen Klassierungen von Pflegebedürftigen, wobei die Pflegegrade eine überraschend hohe Voraussagekraft in Bezug auf die fachlich angemessene Personalmenge aufweisen und sich damit als grundsätzlich geeignet erwiesen haben. Die für eine bedarfs- und fachgerechte pflegerische Versorgung erforderliche Personalmenge und -struktur hängt dann von Umfang und Struktur der Bewohnerschaft ab. Die bisher für alle Einrichtungen geltende einheitliche Fachkraftquote wird im Algorithmus durch einrichtungsindividuelle Personalmengen und -mixe ersetzt.

In Bezug auf die Pflegegrade ergeben sich die in Abb. 1 dargestellten Pflegeschlüssel, die bundesdurchschnittlichen Werten gegenübergestellt sind, die die 13.000 zusätzlichen Stellen gemäß Pflegepersonal-Stärkungsgesetz bereits enthalten, nicht aber Sonderschlüssel für Pflegedienstleitung und Qualitätsbeauftragte, die auch im Personalbemessungsinstrument nicht enthalten sind.

Infografik zum Pflegeschlüssel nach dem Personalbemessungsverfahren

Für alle Pflegegrade ergeben sich dabei höhere Personalschlüssel, wobei die Steigerung mit dem Pflegegrad steigt (Abb. 2). Der mit „gesamt“ gekennzeichnete Durchschnittswert bezieht sich dabei auf eine Referenzeinrichtung mit 100 Bewohner*innen und der bundesdurchschnittlichen Pflegegradverteilung gemäß der Pflegestatistik vom Dezember 2017.

Infografik zur Verbesserung der Personalausstattung in der stationären Pflege

Insgesamt zeigt sich somit eine erhebliche Steigerung der Pflegepersonalkapazitäten, die allerdings weit überwiegend Assistenzkräfte betrifft und hierbei insbesondere ausgebildete Assistenzkräfte mit ein- oder zweijähriger Ausbildung nach Landesrecht umfasst (Abb. 3).

Infografik zum Personalmehrbedarf in der stationären Pflege

Aktuell wird für diese ausgebildeten Assistenzkräfte keine Personallücke unterstellt, auch im Hinblick auf die demografischen Entwicklungen wird bis 2030 lediglich ein Anstieg des Bedarfes von 12.000 Vollzeitäquivalenten erwartet. Bei vollständiger Umsetzung des Personalbemessungsinstrumentes steigt dieser Bedarf allerdings auf rund 100.000 Vollzeitäquivalente. Um diesen Bedarf befriedigen zu können, werden in den kommenden Jahren zusätzlich zu den Bemühungen um die Anwerbung und Ausbildung von Pflegefachkräften auch die ausgebildeten Assistenzkräfte und die entsprechenden Ausbildungsstrukturen in den Blick zu nehmen sein. Der durchschnittliche Fachkraftanteil fällt dabei in der Referenzeinrichtung auf 37 Prozent, allerdings bei gleichzeitigem Anstieg der Fachkräftezahl und der Relation sowohl von Fach- als auch von Assistenzkräften pro Bewohner*in.

Personalmengensteigerungen allein können nicht sicherstellen, dass zusätzliche Pflegekräfte zu verbesserter Pflege und entlastenden Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte führen. Hierzu sind zudem Organisations- und Personalentwicklungsprozesse erforderlich, in deren Rahmen unter anderem eine Neudefinition der Rollen von Fach- und Assistenzkräften vorzunehmen ist. Dadurch, dass die Assistenzkräfte einfachere Tätigkeiten in der Pflege und Betreuung übernehmen, wird es den Pflegefachkräften möglich, sowohl ihre Vorbehaltsaufgaben, die Steuerung und Überwachung des Pflegeprozesses, Anleitung und Übernahme von komplexen pflegerischen Aufgaben vollumfänglich zu übernehmen, als auch die praktische Pflege in komplexen und instabilen Situationen durchzuführen. Strukturell werden die Einrichtungen hierbei aber vor eine doppelte Herausforderung gestellt, indem zusätzliches Personal zu rekrutieren ist und gleichzeitig die innerbetrieblichen Strukturen weiterentwickelt werden müssen. Aus diesem Grund hat das Projektteam vorgeschlagen, ab Juli 2020 mit einem flächendeckenden Personalaufbau im Bereich der Assistenzkräfte zu beginnen und gleichzeitig die Einführung des Instrumentes begleitet von Organisations- und Personalentwicklungsprozessen modellhaft in 20 bis 30 Einrichtungen durchzuführen. Aus dieser modellhaften Einführung lassen sich dann auch Erkenntnisse für eine flächendeckende Umsetzung des Personalbemessungsinstrumentes ableiten. Diese modellhafte Einführung wird derzeit bereits vorbereitet, sodass sie ab Juli 2020 zügig erfolgen kann.

www.gs-qsa-pflege.de

Weitere Artikel aus ersatzkasse magazin. 2. Ausgabe 2020