Zolgensma

Intensiv- und Notfallmediziner kritisieren Verlosung

Der Schweizer Hersteller Novartis verlost aktuell 100 Dosen seines Medikamentes Zolgensma weltweit. Das neue Medikament soll helfen, dem Muskelabbau bei spinaler Muskelatrophie (SMA) entgegenzuwirken. Dabei kostet jede einzelne Dosis rund zwei Millionen Euro. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) kritisiert die Verlosung des in Europa noch nicht zugelassenen Medikamentes Zolgensma an 100 Kleinkindern mit SMA scharf.

Eine Lostrommel, daneben ein Schild mit der Aufschrift 100x Zolgensma

DIVI sieht durch diese Medikamenten- Lotterie medizinisch geübte und gültige Vorgehensweisen umgangen: Die Indikation zur Gabe eines Medikamentes stellt der Arzt, die Zustimmung erteilt der Patient oder juristische Stellvertreter – aber nicht ein Pharmakonzern. DIVI fordert das Bundesgesundheitsministerium (BMG) auf, schnellstmöglich diese Lücken bei der Vergaberegelung zu schließen. Mit diesem Vorgehen wird aber nicht nur das offizielle Zulassungsverfahren ausgehebelt, es wird auch mit der Hoffnung von Familien gespielt und völlig intransparent über die Vergabe eines Wirkstoffes entschieden. Gesundheit ist kein Lotteriespiel. DIVI fordert deshalb: Die begrenzt zur Verfügung stehende Substanz darf ausschließlich nach Bewertung durch ein Expertengremium vergeben werden, das den Prozess unabhängig vom Pharmaunternehmen transparent überprüft und überwacht.

Ministerium in moralischer Konfliktsituation

Dass die Teilnahme Deutschlands an der Verlosung überhaupt möglich wurde, liegt an der Zustimmung des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) zu einem von Novartis angezeigten Härtefallprogramm. Wenn aber ein noch nicht zugelassenes Arzneimittel eingesetzt wird, müssen die Kriterien der Vergabe und des Einsatzes transparent und nachvollziehbar sein. Das ist eine wesentliche Voraussetzung, damit es in wissenschaftlichen, industrieunabhängigen Studien auf seine bessere Wirksamkeit und auf seine Sicherheit geprüft werden kann. Mit der Verlosung wird nun suggeriert, dass Zolgensma allen Patienten helfen wird. Es wird unkritisch und in aller Öffentlichkeit mit den Hoffnungen und dem Leid der Betroffenen gespielt.

Das PEI gehört zum Geschäftsbereich des BMG. Somit kommt jetzt das BMG in eine moralische Konfliktsituation: Es billigt mit der Zolgensma- Verlosung einen Verstoß gegen geübte Regeln der Zulassung und Anwendung einer neuen medikamentösen Therapie. Gleichzeitig beschädigt das intransparente Verfahren von Novartis die medizinische Sorgfaltspflicht. Dies gefährdet die Sicherheit der Patienten und ist für Ärzte nicht hinnehmbar. Es ist die Pflicht des BMG, die elementar verletzten ethischen und medizinischen Rahmenbedingungen wiederherzustellen.

Ökonomisches Kalkül?

Aus ethischen Gesichtspunkten ist die Medikamenten-Lotterie nur auf den ersten Blick vertretbar: Grundsätzlich stellt das Losverfahren eine Chancengleichheit zwischen allen Betroffenen her. Deshalb ist es ein ethisch durchaus begründbares Verfahren. Wenn eine Therapie nicht allen Betroffenen zur Verfügung steht, kann die Verlosung dazu beitragen, dass ohne Ansehen der Person entschieden wird. Aber: Medizinern leuchten die Kriterien der Dringlichkeit und Erfolgsaussicht eher ein – wie zum Beispiel bei der Vergabe von Spenderorganen. Nun gilt im Falle von SMA bei betroffenen Kindern aber: Je höher die Dringlichkeit, desto schlechter die Erfolgsaussichten. Heißt im Umkehrschluss: Novartis muss sicherstellen, dass die zur Verlosung zugelassenen Kinder alle etwa gleich schwer betroffen sind und die gleiche Erfolgsaussicht haben. Nur dann erfüllt diese Lotterie des nur knapp verfügbaren Medikamentes alle Kriterien einer gleich fairen Zuteilung. Nach welchen Kriterien die Auswahlkommission des Pharmakonzerns entscheidet, ist aber für Außenstehende völlig intransparent.

Es stellt sich außerdem die Frage: Wurde die Zolgensma- Knappheit künstlich hergestellt? Es ist anzunehmen, dass das Pharmaunternehmen auch die Dosis für 200 Kinder statt für nur 100 zur Verfügung hätte stellen können. Der Konzern begründet die Verknappung mit der hohen Auslastung des herstellenden Werkes in den USA. Auf dem amerikanischen Markt ist das Medikament bereits seit Mai 2019 zugelassen. DIVI befürchtet, dass die Verknappung gewollt ist und einem ökonomischen Kalkül folgt: Die Therapie soll etabliert und ihre Wirksamkeit öffentlichkeitswirksam dargestellt werden – um dann nach der Zulassung in Europa über die Verordnungen den Preis wieder einzuspielen.

Bedürftigkeit geht vor Wirtschaftlichkeit

Was passiert, wenn auch in anderen Bereichen der Medizin Patienten mit nicht heilbaren Erkrankungen oder mit schwersten chronischen Erkrankungen ähnliche Forderungen stellen – und Hoffnungen auf die Zuteilung eines teuren Medikamentes haben? Ist dann ein Auswahlverfahren zu befürchten, das Patienten mit besseren Heilungschancen eher berücksichtigt als Schwerstkranke? Aus rechtlicher Sicht spielen die Unterschiede hinsichtlich der Bedürftigkeit der Patienten eine Rolle. Sachbegründete Grenzkriterien wie die Schwere einer Erkrankung sind vorrangig gegenüber dem sachfernen Losverfahren.

Die Bedürftigkeit wird in unserer Rechtsordnung prioritär gegenüber der Erfolgsaussicht behandelt. Das Bundesverfassungsgericht hat für die solidarische Finanzierung von Gesundheitsleistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung schon im Jahr 2005 die Anforderungen an eine Erfolgsträchtigkeit und auch Wirtschaftlichkeit erheblich herabgemindert – sofern Lebensgefahr besteht und nichts anderes zur Verfügung steht. Die Einteilung der Patienten in Gruppen, die hoffnungslose Fälle von einem lebensrettenden Behandlungsversuch von vornherein ausschließt, wird aus rechtlicher Sicht stets als Ausnahmefall in Notsituationen verstanden – nicht als Maxime für die Regelversorgung.

Medizin und Gesundheitssystem dürfen nicht erpressbar werden

DIVI sieht die deutliche Gefahr, dass durch die Medikamenten-Verlosung öffentlicher Druck auf die Zulassungsbehörden in Europa ausgeübt werden könnte, um so die Preisvorstellungen des Pharmakonzerns durchzusetzen. Wenn andere Konzerne diesem Beispiel folgen, dann stehen die Behörden zukünftig immer wieder vor der unmoralischen Entscheidung: Entweder wird den Betroffenen die nicht zugelassene Therapie vorenthalten – oder es wird jeder beliebige Preis bezahlt. Diese Situation ist nicht hinnehmbar. Die Medizin und das Gesundheitssystem dürfen nicht erpressbar werden.

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