Häusliche Pflege

Gemeinwohl in den Fokus rücken

Es ist der Wunsch vieler pflegebedürftiger Menschen und ihrer Angehörigen, die Pflege möglichst lange in der eigenen Wohnung sicherzustellen. Mehr als zwei Drittel der Pflegebedürftigen in Deutschland wird so versorgt. In der Corona-Krise ist diese Zahl weiter angestiegen. Der Grund: Heime und Tagespflegeeinrichtungen mussten schließen. Die häusliche Pflege als Infektionsherd wurde gleichzeitig sträflich vernachlässigt. Nur regelmäßige Corona-Tests der Betroffenen, der sie umgebenden Familien und der sie pflegenden Fachkräfte können dafür sorgen, dass ihr Infektionsrisiko gemindert oder die Weiterverbreitung frühzeitig unterbrochen wird.

Illustration: Drei Personen beim Corona-Test

Eine Kurzstudie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin stellte Ende April 2020 fest, dass sich in der Corona-Krise „Gefährdete um besonders Gefährdete kümmern“. Von den 3,7 Millionen Menschen, die in Deutschland Leistungen der Pflegeversicherung beziehen, lebten Ende 2018 nur knapp 800.000 in Pflegeheimen. In mehr als der Hälfte der Haushalte mit Pflegebedarf stellen ausschließlich Familienmitglieder die Gesamtversorgung sicher: Vier Millionen Deutsche leisten sogenannte informelle Pflege bei Angehörigen. Oft sind es Partnerinnen und Partner, meist Frauen, in vielen Fällen die eigenen Kinder. Ein Großteil der Pflegenden ist in einem fortgeschrittenen Alter und trägt damit im Falle einer Infektion selbst ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf.

Über 9.000 Menschen, bei denen das Coronavirus festgestellt wurde, sind in Deutschland bislang gestorben. Obwohl die Mehrzahl der stationären Pflegeeinrichtungen nicht von Corona betroffen war, lebte etwa ein Drittel der im Zusammenhang mit dem Coronavirus Verstorbenen zuvor in Pflegeheimen oder anderen Betreuungseinrichtungen, vermeldete das Robert Koch-Institut (RKI) im April 2020. Jetzt ist wichtig, durch eine unabhängige Studie die verursachenden Bedingungen für Corona-Infektionen in stationären Einrichtungen herauszufinden, damit zukünftig gezielt präventiv gehandelt werden kann.

Einheitliche Test-Strategie ist notwendig

Eher zögerlich verschafften sich einzelne Bundesländer durch Corona-Reihentests bei Bewohnern und Personal der Pflegeeinrichtungen Klarheit darüber, wo Risiken bestehen, und verhinderten dadurch Infektionsketten. Die häusliche Pflege aber bleibt außen vor, trotz zahlreicher öffentlicher Mahnungen. So viel Einigkeit länderübergreifend bei der Schließung von Schulen und Geschäften herrschte, so wenig Konsens gab es dabei, eine gemeinsame Strategie für diesen sensiblen und gefährdeten Bereich zu entwickeln. Deshalb muss für die Zukunft gelten: Weil die Risiken in stationären Einrichtungen und in den Pflegehaushalten vergleichbar sind, müssen alle Pflegebedürftigen sowie ihre informellen und professionellen Helfer regelmäßig getestet werden.

Blackbox 24-Stunden-Betreuung

Besonders bitter erlebten die Pflegehaushalte die Pandemie, in denen osteuropäische Betreuungskräfte tätig sind. Deutlich wurde in dieser Zeit: Die 24-Stunden-Betreuung fristet ein Schattendasein. Es braucht dringend einen passenden rechtlichen Rahmen. Nur rund zehn Prozent der Betreuungskräfte werden auf legalem Wege über Agenturen vermittelt und arbeiten mit Arbeitsvertrag, zum Beispiel nach dem EU-Entsenderecht. Die meisten Betreuungskräfte arbeiten schwarz. Gerade in dieser Versorgungs-Grauzone ist es auch nicht die Regel, dass die Betreuungskräfte und die sonstigen Haushaltsmitglieder mit Maske, Kittel und weiteren Hygienemaßnahmen vor Infektionsgefahren geschützt sind. Mehr als 300.000 Familien in Deutschland leben ständig in dieser Rechtsunsicherheit und mussten in der Pandemie-Zeit noch zusätzliche Risiken ertragen. Auch hier gilt: Diese systemrelevante Arbeit muss schnellstens einen gesetzlichen Rahmen mit Versorgungsstandards und passenden arbeitsrechtlichen Regeln erhalten.

Mobile Tagespflege bei Bedarf

Die Schließung der Tagespflege-Einrichtungen hat den Pflegehaushalten viel abverlangt. Die Tagespflege vermittelt Struktur, fördert Selbstständigkeit, sichert Teilhabe sowie körperliche und geistige Stabilität bei den Betroffenen.

Unabhängig von der Krise gibt es schwer pflegebedürftige Menschen, die von der Tagespflege nicht profitieren, weil es kein wohnortnahes Angebot gibt oder beispielsweise eine fortgeschrittene Demenz den Transport verhindert. Einige Pflegekassen gewährten in den vergangenen Monaten die tagespflegerische Versorgung in der Wohnung des Hilfesuchenden. Dadurch wurde die passgenaue Unterstützung der Betroffenen, ergänzend zum ambulanten Pflegedienst, ebenso sichergestellt wie die Entlastung der pflegenden Angehörigen. Durch eine gesetzliche Klarstellung des Tagespflege-Rechtsanspruches muss dieser auch in mobiler Form einlösbar sein. Dazu braucht es eine konzeptionelle Weiterentwicklung des Angebots.

Bei der Versorgung von Kindern und der Pflege von hilfebedürftigen Menschen aus der eigenen Familie müssen die versorgenden Angehörigen endlich gleichgestellt werden, beispielsweise bei Lohnersatzleistungen. Dies gilt auch für die Sicherung einer verlässlichen Altersvorsorge für die pflegenden Angehörigen. Ihr Rentenbeitrag während ihrer Pflegezeit muss Armut im Alter vermeiden.

Nach der Krise ist vor der Krise

Die Corona-Krise wirkt wie ein Brennglas. Darunter sehen wir die Schwächen des Sozialsystems in Deutschland. Der sogenannte Markt im Pflege- und Gesundheitssektor garantiert weder sichere Pflege noch die Gesundheit der Menschen. Gerade in dieser Zeit ist mehr öffentliche, am Gemeinwohl orientierte Verantwortung gefragt. Eine stärkere Gemeinwohlorientierung von Wirtschaft, Gesellschaft und allen staatlichen Ebenen ist der beste Schutz für alle Bürgerinnen und Bürger, ganz besonders aber derjenigen, die sich (noch) nicht oder nicht mehr selbst helfen können. Corona darf gerade für benachteiligte Menschen nicht zur Falle werden.

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