Impfungen in historischer Perspektive

„Der Menschheit eine wesentliche Wohltat zu erweisen.“

Beispielhaft und bis heute ein Ansporn ist der Erfolg, der mit der von dem englischen Landarzt Edward Jenner 1798 erfundenen „Kuhpockenimpfung“ (Vakzination) erzielt wurde. Infektionskrankheiten durch eine risikoarme primäre Prophylaxe zu verhindern, ist seit rund zwei Jahrhunderten ein Kernziel der Medizin.

Historisches Foto Impfungen
Erste Impfung durch Edward Jenner, 14. Mai 1796. Photogravure, Ende 19. Jh., nach einem Gemälde von Georges Gaston Melingue (1840-1914)

Die „Pest“ im Sinne einer gefährlichen infektiösen Massenerkrankung hat es immer gegeben und hier ist auch kein Ende in Sicht. In der Vormoderne gab es verschiedene Konzepte teils naturkundlicher Art, durch die Seuchen wenn schon nicht beherrschbar, so doch erklärbar wurden. Mit dem 18. Jahrhundert trat ein grundsätzlicher Wandel ein, als ein Brauch aus der osmanischen Türkei nach Westeuropa kam. Die Rede ist von der „Variolation“ bzw. „Inokulation“. Hierbei wurde Kindern, die noch nicht an Pocken erkrankt waren, Pockenmaterie in die Haut geritzt. Damit waren sie vor einer Infektion mit „wilden“ Pocken, einer gefährlichen Seuche, geschützt. Diese Methode gelangte durch Lady Mary Wortley Montagu (1689-1762), Ehefrau des britischen Botschafters in Konstantinopel, nach London. Die Variolation war allerdings noch kein echter Durchbruch, denn die Impfung mit echter Pockenmaterie war gefährlich; man konnte tödlich an Pocken erkranken. Gleichwohl übernahmen die Ärzte in Europa die Variolation in ihr Repertoire; die Prophylaxe gegen eine spezifische Infektionskrankheit war damit erstmals Aufgabe der Medizin geworden.

Der britische Landarzt Edward Jenner (1749-1823) beobachtete, dass die Bauern seiner Umgebung bei Kuhpockenepidemien gerne Melkerinnen einsetzten, die bereits die Pocken überstanden hatten. Jenner erkannte ein Phänomen, das man modern „Kreuzimmunität“ nennt: nach überstandener Infektion mit Pocken waren die Melkerinnen immun gegen die Kuhpocken. Er schloss daraus, dass umgekehrt nach durchgemachten Kuhpocken eine Immunität gegen Pocken bestünde. Diese kühne These, die sich bewahrheiten sollte, erforschte er systematisch in seiner Landarztpraxis. Hierzu führte er Versuche mit Kindern durch, die er zunächst mit Kuhpocken infizierte und nach deren Abklingen mit Pocken traktierte.

Jenner war klug und umsichtig, hatte aber auch stets Glück. Alle Versuche gelangen, niemand kam je zu Schaden durch seine recht riskanten Experimente und 1798 konnte er seine „Vaccine Inoculation“, später kurz „Vakzination“ (von lat. vacca, „Kuh“) genannt, veröffentlichen. Hellsichtig erkannte er, dass seine Absicht, „der Menschheit eine wesentliche Wohltat zu erweisen“, in Erfüllung gehen würde. Er hielt die „Eradikation“ (Tilgung) der Pocken von der Erde für möglich. Auch damit sollte er Recht behalten. Allerdings dauerte es rund 200 Jahre, bis im Jahr 1979 eine entsprechende Urkunde der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausgestellt wurde. Die von Jenner entwickelte Vakzination ist in der Infektiologie bis heute der große Wurf und das Erfolgsmodell schlechthin geblieben. Bemerkenswert ist, dass Jenner von seinem eigenen Tun recht unscharfe Vorstellungen hatte: In seiner (vormodernen) Zeit gab es keine Mikrobiologie. Wenn Jenner von einem „Virus“ sprach, verwendete er das Wort in seiner lateinischen Originalbedeutung von „Gift“. Tatsächlich sah er einen giftartigen Ansteckungsstoff als wirksam an. Unklar war ihm weiterhin, welche Tierpocken (von Kühen bzw. Pferden) er am Ende überhaupt anwandte.

Vakzination revolutioniert Medizin

Gleichwohl revolutionierte die Vakzination die Medizin, die um 1800 noch wenig durchschlagende Instrumente besaß. Mit der Vakzination änderte sich dies. In Europa und den USA erkannte man, dass diese Impfung dem philanthropischen Ansatz der Spätaufklärung entsprach, wonach Gesunderhaltung und Prophylaxe Staatsziele waren. Infolgedessen wurde die Vakzination recht bald gesetzlich eingeführt, so in Bayern bereits 1807, im Deutschen Reich 1874. Es mag überraschen, dass die so wirksame und risikoarme Vakzination eine starke Impfgegnerschaft auf den Plan rief. Der „Deutsche Reichsverband zur Bekämpfung der Impfung“ zählte 1914 über 300.000 Mitglieder. Es handelte sich um eine bürgerliche Bewegung, die neben einzelnen Ärzten ein weites Spektrum zeitgenössischer Bewegungen (Homöopathie, Naturheiler, Vegetarismus u. a.) umfasste. Staat und Medizin setzten sich hiergegen durch – und waren spektakulär erfolgreich.

Die Impfung gegen die Pocken wurde im Zeitalter der Bakteriologie seit Ende des 19. Jahrhunderts das meist unerreichbare Vorbild für weitere Impfungen. Hierbei kam es in vielen Ländern nahezu regelmäßig zu Grenzüberschreitungen, indem forschende Ärzte Versuchspersonen traktierten, ohne diese hinreichend aufgeklärt oder deren Zustimmung eingeholt zu haben. Seit 1900 gab es in Deutschland, erstmals in der Welt, für derartige Versuche Regelungen, die 1931 bedeutend verschärft und präzisiert wurden. Vorausgegangen war eine Impfkatastrophe mit einem Tuberkulose-Impfstoff in Lübeck 1930. Die Beispiele zeigen, dass die staatlich geförderte und bei den Pocken sogar gesetzlich vorgeschriebene Impfung gegen Infektionskrankheiten keine reine Erfolgsgeschichte war. Vielmehr mussten sich die Innovationen in einem politischen und gesellschaftlichen Kontext durchsetzen und sahen sich harter Kritik ausgesetzt. Diese Problemgeschichte der Impfung hat sich auch in den folgenden Jahrzehnten bis in unsere Zeit fortgesetzt.

Die „Spanische Grippe“ 1918-1920 förderte die Entwicklung der Virologie, die zuvor nur dem Namen nach bestanden hatte. Seit den 1930er Jahren ließen sich Viren elektronenmikroskopisch darstellen, seit den 1940er Jahren gab es erste Impfungen gegen Grippe. In den letzten Jahrzehnten sind weltweite Impfkampagnen gegen Polio und Masern recht erfolgreich gewesen; gesetzlich vorgeschriebene Impfungen gibt es in Deutschland gegenwärtig nicht. Die Masernimpfung ist jedoch durch das „Masernschutzgesetz“ von 2020 de facto für weite Kreise der nach 1970 geborenen Personen bindend. Damit hält die Exekutive die Waage zwischen einer gesetzlich vorgeschriebenen Impfung wie bei den Pocken und dem Angebot einer freiwilligen Impfung.

Aus der historischen Erfahrung im Umgang mit Infektionskrankheiten stand mit dem Auftreten der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 fest, dass beispiellose Anstrengungen unternommen würden, möglichst schnell einen Impfstoff zu entwickeln. Im Herbst 2020 hat sich abgezeichnet, dass verschiedene Impfstoffe demnächst verfügbar sein werden. Damit einhergehen werden, so ebenfalls die historische Erfahrung, einerseits Kontroversen über die Verteilung der anfangs beschränkt verfügbaren Einzeldosen und andererseits Widerstand gegen eine staatlich und medizinisch für notwendig erachtete Immunisierung.

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