Studie

Kinder erhalten immer mehr Psychotherapie

Immer mehr Kinder und Jugendliche in Deutschland sind in psychotherapeutischer Behandlung. Innerhalb von elf Jahren hat sich die Zahl der jungen Patientinnen und Patienten mehr als verdoppelt. Das zeigt der aktuelle Arztreport der BARMER. Die Corona-Pandemie und der Lockdown verschärfen die Situation.

Illustration: Psychotherapie

Die Anzahl an Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis einschließlich 24 Jahren, die sich in psychotherapeutischer Behandlung befinden, steigt. Wie aus dem aktuellen BARMER-Arztreport hervorgeht, hat sich die Zahl der jungen Patientinnen und Patienten in Deutschland innerhalb von elf Jahren mehr als verdoppelt. Demnach benötigten im Jahr 2019 rund 823.000 Kinder und Jugendliche psychotherapeutische Hilfe, 104 Prozent mehr als im Jahr 2009. Die Corona-Pandemie samt strikter Kontaktbeschränkungen dürfte die Situation dabei noch ein Stück weit verschärfen, denn besonders Kinder und Jugendliche leiden unter den Auswirkungen der Corona-Krise. Das zeigt sich vor allem an der steigenden Anzahl von Anträgen auf psychotherapeutische Leistungen bei jungen BARMER-Versicherten, unter anderem für die erstmalige Therapie und deren mögliche Verlängerung sowie bei Akutbehandlungen ohne Vorabgenehmigung. Während diese Gesamtzahl im vergangenen Jahr bei den Erwachsenen ab 25 Jahren stagnierte, stieg sie bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis einschließlich 24 Jahren im Vergleich zum Vorjahr um gut sechs Prozent auf mehr als 44.000 Anträge an.

Dabei gibt es deutliche regionale Unterschiede bei der Inanspruchnahme psychotherapeutischer Leistungen. Am größten war im Jahr 2019 der Bedarf in Berlin mit 5,19 Prozent aller Kinder und Jugendlichen, gefolgt von Nordrhein-Westfalen und Hessen. Den geringsten Anteil verzeichnete Mecklenburg- Vorpommern mit 3,33 Prozent aller jungen Menschen. Allerdings war hier die Steigerungsrate bei der Inanspruchnahme seit dem Jahr 2009 mit 239 Prozent am größten, gefolgt von Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Die niedrigste Steigerungsrate verzeichnete Bremen mit 52 Prozent. Psychotherapeutische Leistungen für Kinder und Jugendliche nehmen folglich in allen Bundesländern immer mehr zu. Hohe Steigerungsraten gibt es dabei vor allem in den Bundesländern, in denen der Abstand zum Bundesschnitt besonders groß war. Die regionalen Unterschiede bei der Inanspruchnahme haben sich zwar bis zum Jahr 2019 verringert, sind jedoch nach wie vor erheblich und rein medizinisch nicht erklärbar.

Mobbing als eine von mehreren Ursachen für Psychotherapie

Den Ergebnissen des Arztreports zufolge haben im Jahr 2019 rund 162.300 Kinder und Jugendliche erstmals eine Richtlinientherapie erhalten. Die Gründe sind vielschichtig und sehr individuell. In knapp 37.400 Fällen waren Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen ausschlaggebend. Die Ursachen dafür sind unterschiedlich und können von Trauererlebnissen bis hin zum Mobbing in der Schule, im Freundeskreis oder im Internet reichen. Bis zu welchem Grad einzelne Faktoren wie Mobbing eine Rolle spielen, lässt sich dabei nicht genau beziffern. Die zweithäufigste Ursache für eine erstmalige Therapie waren im Jahr 2019 Depressionen, und zwar in rund 23.100 Fällen, gefolgt von emotionalen Störungen im Kindesalter in gut 22.000 Fällen.

Auf Alarmsignale achten

Die hohen Fallzahlen zeigen, dass psychische Probleme für Kinder und Jugendliche ernste Folgen haben können. Deshalb ist es wichtig, auf Alarmsignale zu achten. Zeitnahe Hilfe und Prävention können viel dazu beitragen, dass psychische Probleme erst gar nicht entstehen oder sich verstetigen und zu einer psychischen Erkrankung führen. Eine enge Zusammenarbeit von Eltern, Bezugspersonen, Ärztinnen und Ärzten sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ist daher während der Pandemie wichtiger denn je, denn gerade jetzt sind Kinder und Jugendliche stark psychisch belastet. Besonders für junge Menschen, die ohnehin schon psychisch angeschlagen sind, ist eine schnelle und unkomplizierte Hilfe besonders wichtig. Die BARMER bietet dies zum Beispiel über ihr Kinder- und Jugend-Programm (KJP), bei dem derzeit fast 580.000 Kinder und Jugendliche eingeschrieben sind. Das KJP beinhaltet mehrere Extra-Vorsorgeuntersuchungen, die weit über den Leistungen der Regelversorgung liegen. Die teilnehmenden Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte achten gezielt auf psychische Auffälligkeiten der jungen Menschen. Zudem unterstützt die BARMER das Online-Angebot krisenchat.de für Menschen bis 25 Jahren. Bei psychischen Problemen, etwa durch Cybermobbing, können sie sich unkompliziert und anonym an geschulte Psychologinnen und Psychologen wenden. Die Angebote der BARMER sollen dazu beitragen, dass sich psychische Probleme nicht verfestigen.

Professionelle Hilfe, um jahrelanges Leiden zu vermeiden

Viele junge Menschen leiden den Ergebnissen des Arztreports zufolge über Jahre an psychischen Störungen. Dies belegt eine Langzeitbetrachtung von Kindern und Jugendlichen, die im Jahr 2014 erstmals eine Psychotherapie erhalten haben und mindestens zwei Jahre zuvor keine anderweitige therapeutische Hilfe benötigten. Nur bei 40,7 Prozent beschränkten sich die Psychotherapiesitzungen auf maximal ein Jahr, 36,4 Prozent erhielten auch mehr als zwei Jahre nach Start der Behandlung noch Psychotherapien. Oftmals haben die betroffenen Kinder und Jugendlichen schon eine lange Leidensgeschichte hinter sich. So wurde bei mehr als jedem dritten unter ihnen bereits fünf Jahre vor Start der Richtlinientherapie zumindest eine psychische Störung dokumentiert. 7,7 Prozent bekamen schon zu diesem Zeitpunkt Psychopharmaka verordnet und 1,8 Prozent von ihnen wurden stationär im Krankenhaus behandelt. Diese Prozentwerte stiegen in den Folgejahren sprunghaft an, je näher der Start der Therapie rückt. Eine Psychotherapie wird also nicht leichtfertig in Anspruch genommen, sondern ist häufig nach einer jahrelangen Vorgeschichte dringend erforderlich.

Fest steht: Je früher junge Menschen professionelle Hilfe bekommen, desto größer ist die Chance auf einen minder schweren Verlauf. Denn die Behandlung wird schwieriger und langwieriger, sollten sich die Probleme chronifiziert haben. Beispielsweise wurden in der Langzeitbetrachtung bei 62,5 Prozent aller Betroffenen auch fünf Jahre nach Start der Psychotherapie noch psychische Störungen diagnostiziert. All dies zeigt, dass psychische Probleme bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ernst genommen werden müssen.

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